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Poet's Gallery Beitrag März 2024

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Tina Susanna Martin

Tina Susanna Martin wurde in der Pfalz geboren, verbrachte ihre Grundschulzeit in Spanien und studierte Medizin in Berlin, Heidelberg und Mannheim.

Nach einem Fernstudium an der Schule des Schreibens - u.a. auch von Hartmut Fanger, indessen schreibfertig.com, begleitet - veröffentlichte sie ihren ersten Kriminalroman. „Tod in der Pfalz“ ist der zweite Roman um die Psychotherapeutin Clara Christmann.

Tina S. Martin ist Mitglied in der Autorinnenvereinigung „Mörderische Schwestern“.

Sie lebt heute wieder in der Pfalz, hat eine Tochter und ist als ärztliche Psychotherapeutin tätig.

Aus Tina Susanna martin; Tod in der Pfalz, Emons Verlag, Köln 2023                      

Prolog

 

Es war vollbracht.

Das Notwendige war getan.

Sie würde kein weiteres Unheil in die Welt bringen. Die Welt würde es nicht danken, aber darauf kam es nicht an.

Entscheidend war das Gleichgewicht. Jetzt, wo es wiederhergestellt war, konnten Ruhe und Frieden einkehren. 7

Die Betrachtung des Werkes nahm Zeit in Anspruch. Es sollte eine

angemessene Würdigung erfahren.

Der nackte Körper zierte den fein gemaserten Parkettboden.

Das einstmals schöne Gesicht war aufgedunsen und entstellt.

Die blasse Haut an Brüsten, Bauch und Oberschenkeln war von dunkelroten Linien durchzogen.

Weiß wie Schnee, rot wie Blut. Das Schwarz war mit der Seele ausgelöscht. Schade, dass nach dem Tod nichts mehr kam. Für sie wäre die Hölle eine gute Option gewesen.

Die Ermittler würden rätseln. Gab es ein sexuelles Motiv? Drohten weitere Morde? War ein Serienkiller unterwegs? Hatte das Muster etwas zu bedeuten? Warum lag eine Übertötung vor?

Schon bald würden sie der Spur folgen, die für sie gelegt worden war.

 

Freitag 4. Mai

                                              1.

Der begrünte Innenhof des Krankenhauses der Barmherzigen Schwestern in Bad Dürkheim lag träge in der Sonne. Kein Lüftchen ging. Es herrschte vollkommene Stille.

Clara Christmann, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Dozentin an der Krankenpflegeschule, sehnte sich danach, auf dem frisch gemähten Rasen zu liegen und nichts zu tun. Außer zu träumen. Ab und zu käme ein Schmetterling vorbei, den würde sie freundlich grüßen und ihm ein glückliches Schmetterlingsleben wünschen.

Lautes Schimpfen riss sie jäh aus ihrem meditativen Zustand.

„Du blöde bitch, lass mich in Ruhe!“

Zwei streitende Mädchen überholten sie, ohne sie zu beachten.

Clara seufzte und bereute zum wiederholten Male, dass sie keine pädagogische Ausbildung hatte.

Sie betrat auf hochhackigen Sandaletten das Gebäude der Krankenpflegeschule und wartete geduldig auf den Fahrstuhl.

Ein Schüler, der an ihr vorbei lief, konnte sich einen Kommentar nicht verkneifen. „Keine Lust auf sportliche Betätigung?“

Wie Clara sehr wohl wusste, war dies eine Anspielung auf ihre Figur, die man wohlwollend als üppig-weiblich und weniger wohlwollend als mollig bezeichnen konnte.

Clara, die an derartige Übergriffe gewöhnt war, betrat elegant den gerade angekommenen Aufzug, hielt die Hand vor die Lichtschranke und lächelte dem Jungen zu. „Darf ich Sie einladen, mit mir zu fahren?“

Verlegen wandte er sich ab, und Clara fuhr nach oben.

Sie versuchte, sich zu sammeln.

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Gästebuch

 

Poet's Gallery Beitrag Februar 2024

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Regina Dietrich

 

Zu meiner Person: Ich bin 1961 geboren. Ich bin Diplomingenieurökonom für Verkehrs- und Betriebswirtschaft, habe im Personalwesen und zuletzt bei der Bundeswehr gearbeitet. Seit 2002 bekomme ich Erwerbsminderungsrente. Schon während meiner Schulzeit habe ich Artikel für die Tageszeitung geschrieben. Seit 2018 schreibe ich Gedichte. Vor einigen Jahren habe ich begonnen, Erinnerungen aus meinem Leben aufzuschreiben.

 

Tante Liesbeth

Eigentlich hieß sie Elisabeth. Sie war die Zwillingsschwester meiner Oma. Also die Tante meiner Mutter. Wir nannten sie alle Tante Liesbeth.

Jedes Jahr im Sommer brach unsere Familie auf, um Tante Liesbeth zu besuchen.

Sie wohnte mit ihrem Mann in einem kleinen Dorf im Thüringer Wald.

Es waren mehrere Stunden Fahrt dorthin.

Eine Reise ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Schon am Abend zuvor fuhren wir in die nahegelegene Stadt, weil es von unserem Dorf so früh am Morgen keine Busverbindung gab. Wir übernachteten im Bahnhofshotel, um am nächsten Tag frühzeitig den Zug nehmen zu können. Nach der Nacht im Hotel saßen wir in der Bahnhofsgaststätte Mitropa.

Mein Vater hatte Hunger und bestellte sich ein Bauernfrühstück. Meine Mutter wurde ärgerlich, weil die Abfahrt des Zuges bevorstand. Das Essen ließ auf sich warten. Mutter wurde wütend. Sie brachte uns Kinder in den Zug, blieb selbst auf dem Bahnsteig zurück und ging wartend auf und ab. Von meinem Vater keine Spur.

Ich stand in der geöffneten Waggontür und hatte Angst, dass der Zug ohne meine Eltern losfuhr.

Ungeduldig hielt meine Mutter Ausschau, dann lief sie aufgeregt los, um meinen Vater zu holen. Uns Kinder ließ sie im Zug allein zurück. Ich stand immer noch in der offenen Tür des Zuges, als der Schaffner zur Abfahrt pfiff. Ich schrie vor Entsetzen. Eingehüllt im Dampf der Lokomotive sah ich meine Eltern. In letzter Sekunde kletterten sie die Stufen des Waggons empor und schlossen die Tür. (In den sechziger Jahren konnte man die Waggontüren eines Zuges auch während der Fahrt öffnen, so dass man selbst auf einen fahrenden Zug aufspringen konnte. War gefährlich, aber möglich, solange der Zug noch am Bahnsteig entlangfuhr.)

Wir setzten uns in ein Abteil. Mir zitterten noch immer die Beine. Es dauerte eine Weile ehe ich mich von diesem Schreck erholte. Ich war sechs Jahre alt.

Manchmal holte Onkel Hermann uns mit dem Auto ab. Onkel Hermann war der Ehemann von Tante Liesbeth. So auch, als mein jüngster Bruder noch ein Baby war. Im Auto saß meine Mutter vorn, das Baby in einem Kissen auf dem Schoß. Mein Vater, meine Schwester und ich belegten die Rückbank. Für meinen Bruder Jens-Uwe blieb kein Platz mehr. Er fuhr im Kofferraum mit. Das Auto war ein Skoda Octavia Combi, Baujahr Anfang der 60-iger Jahre.

Eine Abdeckung zwischen Kofferraum und Fahrgastraum war nicht vorhanden. Mein Bruder lag zwischen unseren Koffern, immer auf Tauchstation wegen möglicher Polizeikontrollen.

In den Kurven kullerte er fröhlich jauchzend auf unserem Gepäck umher. Er freute sich, den besten Platz im Auto erwischt zu haben.

In Großobringen, so hieß das Dorf, warteten Tante Liesbeth und ihr Hund Trolli auf uns. Es war immer ein herzlicher Empfang, wenn wir eintrafen. Tante Liesbeth hatte keine Kinder, so galt uns ihre ganze Liebe.

Zuerst gab es selbstgebackenen Kirschkuchen, immer mit den Worten: „Ihr müsst ja halb verhungert sein.“ Wahrscheinlich sagte sie das wegen der langen Reise.

Tante Liesbeth liebte es, uns zu verwöhnen. Onkel Hermann liebte es, uns zu wiegen.

Er wog uns bei Ankunft und vor unserer Abfahrt. Er wollte sehen, wie viel wir während unseres Aufenthaltes an Gewicht zugelegt hatten. Wenn die Waage bei unserer Abreise mehr Kilos anzeigte, war Onkel Hermann zufrieden und stolz ob seiner Gastfreundschaft. Ich kam mir vor wie Hänsel im Märchen Hänsel und Gretel.

Die Waage war groß. Sie war zum Wiegen von Viehfutter gedacht. Ich habe diese Waage gehasst, denn ich wog mit Abstand das meiste von uns Kindern. Das war Anlass, mich als Dicke zu betiteln.

Tante Liesbeth hatte ein großes Haus. Einen Stall mit bestimmt 30 Kühen. Sie war Kleinbäuerin und war im Zuge der Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR nicht in eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, LPG, eingetreten.

Auf ihrem Anwesen waren außerdem Ställe für Schweine, Hühner, Enten und Gänse. Zwischen den Gebäuden war ein großer Hof mit Misthaufen und Unterständen für Fahrzeuge. Hinter dem Hof befand sich eine riesige Scheune. Dort waren landwirtschaftliche Geräte gelagert. Es gab auch ein Strohlager. Es hatte eine Tür durch die das Stroh herausgeholt wurde. Wir Kinder hatten eine kleine selbstgebaute Leiter, mit der wir von oben das Strohlager betraten. Wir badeten förmlich im Stroh, es kratzte und piekte, aber das war uns egal. Es war ein wunderbarer Spielplatz.

Hinter Haus und Scheune besaß Tante Liesbeth eine Obstbaumplantage. Sie kam mir als Kind kilometerlang vor. Wenn wir zu Besuch waren, hingen die Kirschbäume voller reifer Früchte. Wir halfen bei der Ernte. Außerdem gab es jede Menge Apfel-, Birnen- und Pflaumenbäume, deren Früchte im Herbst geerntet wurden.

Die Plantage gehörte auch zu unseren beliebten Spielplätzen. Wir waren meist unbeaufsichtigt. So merkte auch keiner, wenn wir das Luftgewehr stibitzten. Mit diesem Gewehr schossen wir auf Stare, die die Kirschbäume heimsuchten. Mein Bruder Jens-Uwe war ein Meisterschütze. Ein Schuss, ein Star. Irgendwann bemerkte man unseren Diebstahl, und es gab großen Ärger.

Wir haben wunderbare Sommer bei Tante Liesbeth verbracht.

Im Jahr 1973 fuhren wir das letzte Mal zu unserer Tante in die Ferien. Ich war zwölf Jahre alt.

Alles war wie immer. Wir wurden verwöhnt wie immer, gewogen wie immer und wir vergnügten uns wie immer.

Für Tante Liesbeth war nichts wie immer. Man hatte ihr ihren Lebensinhalt weggenommen.

Ihre Kühe! Sie waren wie Kinder für sie. Mit Hingabe umsorgte sie die Tiere, melkte und fütterte sie. Alle Kühe hatten einen Namen. Wir Kinder hatten besonders die neugeborenen Kälbchen gern.

Tante Liesbeth war Kleinbäuerin. 1952 wurden in der DDR Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften gegründet. Viele Kleinbauern schlossen sich zu diesen sogenannten LPGs zusammen. Viele Bauern wurden dazu gezwungen. 1960 galt dieser Prozess als so gut wie abgeschlossen. Aber es gab immer noch Betriebe, die Privateigentum besaßen. Wie unsere Tante Liesbeth, die ihre kleine private Viehwirtschaft betrieb.

Als Erich Honecker 1972 Staatratsvorsitzender der DDR wurde, war ihm dieses noch verbliebene Privateigentum ein Dorn im Auge. Er erzwang die vollständige Verstaatlichung der noch vorhandenen privaten oder halbprivaten Betriebe.

Auch Tante Liesbeth zwang man, ihre Viehwirtschaft aufzugeben. Sie wollte nicht Teil einer LPG werden, also nahm man ihr ihre geliebten Tiere weg. Weil sie 60 Jahre alt war, ging sie daraufhin in Rente.

In unseren letzten Ferien bei unserer Tante war der Kuhstall leer. Wie Tante Liesbeth, die ihren Lebensinhalt verloren hatte. Immer wieder sah ich sie mit weinenden Augen in den Stall gehen. Es war ein stiller Sommer. Nichts war wie immer, obwohl es so schien.

Im Dezember 1973 wurde Tante Liesbeth krank. Sie kam nach Weimar in ein Krankenhaus.

Diagnose Leberzirrhose. Sie wusste, dass sie sterben würde. Aber sie wollte mich unbedingt noch einmal sehen. Nur mich. Sie mochte mich wohl sehr.

Ende Januar 1974 fuhren meine Mutter und ich nach Weimar ins Krankenhaus, um Tante Liesbeth ihren letzten Wunsch zu erfüllen. Niemand hatte uns darüber informiert, dass sie schon im Koma lag und mit dem Tod rang. Wir durften in das Zimmer und meine Mutter sagte ihr, dass ich da war. Aber sie konnte nichts mehr wahrnehmen. Ich werde ihren Anblick nie vergessen. Ich hätte sie lieber anders in Erinnerung behalten.

Einen Tag später war unsere liebe Tante Liesbeth tot. Am 14. Februar 1974 wurde sie beerdigt. Auch ich war dabei. Diesen Tag werde ich nicht vergessen, genau wie die wunderschönen Erinnerungen an die vielen Sommer, die wir bei ihr verbrachten.

 

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Poet's Gallery Beitrag Januar 2024

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Mareike Zimmermann

 geboren 1984,

 ich arbeite mit Menschen mit Behinderung, habe Pädagogik und Anglistik studiert, lese sehr gerne und nehme seit Frühjahr 2023 teil an der Online-Schreibwerkstatt.  Ich nehme dort viel Inspiration und viele Impulse mit, die sich in der Auseinandersetzung mit anderen Teilnehmer*innen und den gelesenen Autor*innen ergeben.

 

 Stadtteil

Ich lebe in einem Fünf-Minuten Stadtteil. Das bedeutet, mit dem Rad komme ich in fünf Minuten überall hin, an all die um meine Wohnung verteilten Orte des täglichen Bedarfs.

Tagtäglich bewege ich mich in die Umgebung und zeichne so an einem imaginären Stern. Leuchtende Strahlen hin zu den unterschiedlich riechenden, unterschiedlich klingenden und unterschiedlich gefärbten Orten: dem sonnigen Platz mit dem Markt zwischen den alten, hoch aufragenden, backsteinroten, renovierten Fabrikgebäuden mit ihren Rastern aus vielen hell eingefassten Fensterscheibchen, die an eine ordentlichere, strukturiertere und aber auch einschränkendere Zeit gemahnen.

Ich komme hin zu der Bücherei mit den langgestreckten großen Fenstern, die von innen den Blick ins Grün, Rot und Weiß der Bäume und Häuser und der vorbeifahrenden Busse öffnen, mit ihrem weitläufigen, wandlosen Raum und der weißen, geschwungenen Treppe.

Man kommt zu den nischigen Cafés mit ihren Buffets aus Köstlichkeiten: warm schokoladig, kühl zitronig, rot sauer pricklig beerig, schwarzer Tee, Duft aus den Küchen. Cafébetreiberinnen mit sauberen Schürzen und langen Haaren in Dutts, mit den emsigen Bewegungen eines Menschen aus der Zeit der Fabrikhallen. Cafébesucherinnen und ihre Kinder mit den Namen von Kindern aus dieser geordneten, weißgerahmten und gerastertenZeit, mit kleingeblümten und mit kleiner Baumwollspitze benähten Kleidchen. Hier dürfen sie sich frei zwischen den Tischen und Stühlen bewegen.

Weiter nördlich ändern sich die Voraussetzungen, der Hintergrund: McDonalds, Ein-Euro-Paradies, Nagelstudios, kleine, kühl beleuchtete asiatische, arabische, türkische, afrikanische Läden mit großen Packungen Reis oder Linsen, großen Fleischteilen, ganze Beine darunter und Organe, überquellenden Gemüseauslagen mit großen, sich neigenden, übereinandergeworfenen Kräuterbündeln, Handyreparaturläden die aussehen wie unaufgeräumte Lager. Sie dürfen hier ihre in einfache Regale gestopfte Ware anbieten, alle dürfen hier alles kaufen, keiner bleibt unversorgt, aber nicht alle möchten hierher.

Zwischen der einen Gegend mit den frischfarbigen, restaurierten Fabrikgebäuden, den Cafés, den immerfort neu aussehenden Super- und Biomärkten, und der anderen Gegend liegt eine Buchhandlung, die sich hier an der vielbefahrenen Kreuzung zwischen vorbeirauschenden PKW, Bussen und LKW behauptet seit der Zeit, als beide Gegenden sich noch glichen, man für beide die gleichen Hoffnungen hatte, als die Fabrikhallen schon geschlossen waren, als Ladenlandschaften sich ausbreiteten, neu waren und täglich gebraucht wurden und die breitgezogene Fensterfront des Buchladens den Blick in eine neue Zeit mit nun unsichtbaren, transparenten Grenzen öffnete.

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Poet's Gallery Beitrag Dezember 2023

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Hans Happel

Hans-Eberhard Happel, geboren 1950 in Celle, unterrichtet seit 1978 Deutsch und Geschichte an einer gymnasialen Oberstufe in Bremerhaven, seit 2006 Deutsch, Geschichte und Theater in Hamburg, leitet das Kindertheater am Albert-Schweitzer-Gymnasium, seit 2015 im Ruhestand, schreibt journalistische und andere Texte seit seiner eigenen Schulzeit.

 

AUF DER STRASSE GEFUNDEN: EINE LIEBE IM 19. JAHRHUNDERT

 

Am 20. Juli dieses Jahres, als ich am frühen Abend zum Einkaufen ging – mir fehlten Brot und Butter –, lag in der Passage zwischen Koppel und Lange Reihe eine Kiste aus Pappe, darin nur ein einziges Buch, ohne Umschlag, gebunden, fester Einband. Ich bückte mich, nahm es in die Hände und fand auf der Schmalseite den blau umrahmten Titel: George Sand von Casimir Carrère. Ich zögerte nicht und legte es in die Einkaufstasche, später kamen Butter und eine Packung Pumpernickel dazu. Bei einem portugiesischen Bier im Caravela holte ich es hervor und stieß, ohne zu wissen oder auch nur zu ahnen, was mich erwartete, fast sofort auf die Geschichte der Beziehung zwischen George Sand und Hermann Cohen. Ich war beim ersten unschlüssigen Blättern bei seinem Namen hängengeblieben, erinnerte mich an einen Cohen aus einer anderen Geschichte, einer heutigen, in der ein 16-Jähriger, Joachim Helfer aus Deutschland, während seiner Sommerferien in Paris von einem viel älteren, einflussreichen und charmanten Mann im Sturm erobert wird.

Jetzt las ich von „dem 13-jährigen Genie“ Hermann Cohen, der eines Abends im Jahr 1834 in der Pariser Wohnung seines Klavierlehrers, Franz Liszt, ein Konzert gibt, bei dem als einzige Frau die bekannte Schriftstellerin George Sand anwesend ist. Sie verliebte sich auf der Stelle in das hochbegabte Kind.

Hermann Cohen schreibt in seinen Jahrzehnte später veröffentlichten Bekenntnissen:

„Man schätzte mich tausendfach glücklich, dass ich mit dieser außergewöhnlichen Frau verkehrte, die in höchstem Maße die Neugier der Öffentlichkeit beschäftigte … mein Name war bald untrennbar mit dem ihren verbunden, und das Publikum erfand tausend fantastische und unwahrscheinliche Geschichten über das, was sich in der Mansardenwohnung Frau Sands abspielte.“

Um allen Gerüchten entgegenzutreten und dennoch die Neugier des Publikums wachzuhalten, ohne sie zu befriedigen, schreibt Hermann Cohen weiter:

„An dieser Stelle sage ich die Wahrheit; ich kann nur immer wieder ihre Güte mir gegenüber preisen. Manchmal behielt sie mich ganze Tage lang bei sich. Wenn sie schrieb, drehte ich für sie Zigaretten, die sie in großen Mengen rauchte, um ihr Gehirn anzuregen. Von Zeit zu Zeit wollte sie, dass ich mich an den Flügel setzte; ich spielte, und sie schrieb weiter.“

Warum Hermann Cohen „Puzzy“ genannt wird, wie schon die Überschrift dieses Kapitels sagt, verrät der Autor nicht. Wir müssen es uns denken. Mein Google-Übersetzer schlägt mir das deutsche Wort „verwirrt“ vor, wenn ich „Puzzy“ eingebe. Und vielleicht lässt uns der George Sand Biograf Carrère zwischen den Zeilen Anhaltspunkte für Puzzys Verwirrung finden: „Denn wir dürfen nicht vergessen“, schreibt er, „dass Hermann Cohen zu diesem Zeitpunkt erst vierzehn Jahre alt ist. Doch sind bei dem außergewöhnlich begabten Kind Phantasie und Herz gewiss ebenso entwickelt wie sein Talent.“

Als Friedrich Liszt seinen Schüler verlässt, um in Genf zu unterrichten, habe Hermann Cohen laut Casimir Carrère „Trost während dieser ganzen Zeit einzig und allein bei der Schriftstellerin gefunden.“ 1836 kann er seinem Lehrer nach Genf folgen. Aber die neue Stadt ist eine gefährliche Versuchung. Er wird mit sechzehn Jahren Lehrer am Konservatorium und „von der musikbegeisterten Genfer Gesellschaft gefeiert und verhätschelt“. Er verdient viel Geld und gibt es im Glücksspiel wieder aus.

Im September kommt George Sand zu Besuch in die Schweiz. Ihre Überraschung ist groß, schreibt Carrère. In Paris hatte sie mit einem Kind zu tun, „nun steht sie einem frühreifen Jüngling gegenüber. Die Raupe ist zum Schmetterling geworden. Seine Zuneigung hat sich zusehends vertieft.“ Wie George Sand darauf antwortet, ob sie dem schönen Jungen „noch größeres Interesse entgegenbrachte als in Paris“, bleibt ihr Geheimnis. George Sand hat darüber keine Aufzeichnungen hinterlassen. Puzzy kehrt nach Paris zurück, er gibt sich „hemmungslos der Ausschweifung hin“.

Aber dann reicht es ihm.

Hermann Cohen rettet sich in den katholischen Glauben. Im Mai 1847 tritt er in den Karmeliterorden ein, vier Jahre später wird er zum Priester geweiht. „Aus dem lasterhaften Puzzy wird der ehrwürdige Pater Augustin-Marie vom heiligen Sakrament, ein barfüßiger Karmeliter-Mönch, der bis zu seinem Tod ein opferbereites, tapferes und demutsvolles Leben geführt hat.“

 

George Sand wiederum hat auf diese Verwandlung mit Sarkasmus reagiert:

 „Ach, du bist also Kapuziner geworden“, soll sie ihm bei einer – letzten? – Begegnung gesagt haben, und das sei alles gewesen. Als sie von seinem Tod erfuhr, trägt sie am 23. Januar 1872 in ihr Tagebuch ein:

 „Puzzy ist als Krankenpfleger gestorben. Sein Tod wird die Sühne für sein Leben sein.“

 Ich google seinen Namen und finde in mehreren christlichen Dateien ausführliche Lebensbeschreibungen, darunter den Hinweis, dass der Wunderknabe am 10. November 1820 in Hamburg zur Welt kam, dass er in jüdischer Tradition erzogen wurde und als kleiner Junge eine „Sehnsucht nach dem Geheimnis in sich fühlte, woraufhin sein Vater ihn in eine „gute protestantische Schule schickte“. Als er vier Jahre alt war, wurde sein Talent zum Klavierspiel entdeckt, aber sein Professor „liebte die Jagd, Pferde, das Glücksspiel, kurz gesagt, die weltlichen Vergnügungen. Damit imponierte er dem Jungen. Jegliche Art religiöser Erziehung wurde so zunichte gemacht.“

 Hatte der Dreizehnjährige die dreißigjährige Schriftstellerin geliebt, die ihn im Pariser Salon von Franz Liszt entdeckte? Er wird George Sand sehr geliebt haben, denke ich, aber was ist mit ihr? Hatte sie nur mit ihm gespielt? In Casimir Carrère´s Buch „George Sand als Liebende und Geliebte“ hat das Kapitel über Hermann Cohen knappe vier Seiten, es ist kürzer als fast alle anderen, die sich jeweils einem ihrer Männer widmen. Die „Feministin der allerersten Stunde“, deren Schönheit Eugène Delacroix in mehreren Porträts festgehalten hat, die ich unter den zahlreichen Fotos des Buches finde, lernt 1838 einen Mann kennen, dem sie fast ein Jahrzehnt verbunden bleibt: Frederic Chopin. Eine Liebe, die sie unsterblich machen wird.

Hingegen bleibt Hermann Cohens Beziehung zu George Sand ein Geheimnis, was mich gerade deshalb fasziniert – und doch auf der Hand liegt: „War es nichts als jugendliche Schwärmerei?“, fragt Casimir Carrère fast scheinheilig, als sei er längst vom Gegenteil überzeugt. „Hat sie sich dem jungen hübschen Pagen mit dem flatternden langen Haar, den lebhaften schelmischen Augen, der seine erwachenden und ihn später zugrunde richtenden Triebe siedendheiß in seinen Adern verspürt, in einem Augenblick der Selbstvergessenheit verschenkt?“ Casimir Carrère´s Sprache tritt in diesen Worten siedendheiß und selbstvergessen über alle Ufer. Was für ein Zufall, der mir dieses alte Buch in die Hände spielte, dessen deutsche Ausgabe, übersetzt von Hildegard Krage, 1970 im Düsseldorfer Karl Rauch Verlag erschienen, nur noch antiquarisch – für vier bis sechs Euro – im Netz angeboten wird. Ich habe es ohne Schutzumschlag gefunden, es ist mir zugefallen, als hätte es auf mich gewartet.

 

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Poet's Gallery Beitrag November 2023

 

Jutta Weckermann

 Dr. Jutta Weckermann Ärztin und Diplominformatikerin. Geboren 1959 in Siebenbürgen, heute Rumänien. Seit 1979 in der Bundesrepublik Deutschland. Ich schreibe seit Jahren mit Freude in der „Kreativen Schreibwerkstatt“ im Haus im Park in Bergedorf. Meine Geschichten beruhen immer auf Tatsachen aus dem wirklichen Leben: Erinnerungen aus Kindheit und Jugend in einer anderen Welt, Nachdenkliches und Amüsantes aus meinem Alltag, Naturbeobachtungen aus unserem Garten. Und ab und zu entsteht auch ein kleines, lyrisches Gedicht.

 

Ein Gefühl von Sommer

 

Der Sommer 2018 könnte den bisherigen „Jahrhundertsommer“ von 2003 übertrumpfen: Wochenlang kein Regen und immer wieder Rekordtemperaturen über 30 Grad. Als ich eines Abends nach den Blumen im Garten sehen wollte, stiegen plötzlich längst vergessen geglaubte Erinnerungen auf: In der hitzegeschwängerten Luft lag der Geruch von vertrockneten Blättern und verdorrtem Gras. Ich fühlte mich augenblicklich zurückversetzt in die Sommer meiner Kindheit, geprägt von Sonne, Blumenwiesen und dem kristallklaren, eiskalten Wasser des Mühlbachs, der seine Quellen in den Ostkarpaten hat. Wenn der Frühling langsam der Hitze des Sommers wich und die Kirschen reif wurden, warteten meine Schwester und ich sehnsüchtig auf „Didi-Ota“.

Der Vater meiner Mutter verbrachte die warme Jahreszeit regelmäßig bei uns. Die Großeltern, mit denen wir uns die Wohnung teilten, hatten nie Zeit für uns Kinder. Sie waren zwar immer da und von früh bis spät in Haus und Garten emsig tätig. Aber ich erinnere mich nicht, dass sie je mit uns Kindern gespielt oder uns vorgelesen hätten. Erst später, als ich in die Schule ging und lesen konnte, damals wurde man mit sieben Jahren eingeschult, hat meine Großmutter mir das Notenlesen und Stricken beigebracht und vom Großvater habe ich gelernt, mit Werkzeug umzugehen.

 

Die Sonne meiner Kindheit war „Didi-Ota“. Er kam zuverlässig jedes Jahr mit der Wärme des Sommers, spätestens mit den Ferien, die pünktlich zum 15. Juni anfingen und bis zum 15. September dauerten. Er schlief auf einem Feldbett bei uns Kindern im Zimmer. Nach dem gemeinsamen Frühstück ging er mit uns hinaus in die Natur, die gleich hinter unserem Gartenzaun begann. Er zeigte uns Johanniskraut, Tausendgüldenkraut, Natternkopf und vieles mehr. Er erklärte uns, wie aus den Kaulquappen in den großen Pfützen in den Fahrrinnen des Feldwegs kleine Frösche wurden.

 

In der Hitze des Hochsommers ging er jeden Tag mit uns an eine flache Stelle des Mühlbachs. Er saß im Schatten einer alten Weide und wir bauten Burgen mit Wassergräben und Dämmen aus Kieselsteinen und Sand. Immer mit dabei war Irme, meine Freundin aus dem Kindergarten. Sie stand jeden Morgen nach dem Frühstück vor der Tür. Zur Mittagszeit gingen wir durch die flirrende Hitze nach Hause. Ich erinnere mich, wie wir über das gelbe, trockene Gras am Wegrand rutschten, als ob es eine Eisbahn wäre. Eines Tages entdeckten Irme und ich seltsame Spuren im nassen Sand am Ufer, die uns zu einer fetten Kröte führten, die wir todesmutig einfingen. Stolz trugen wir sie in unserem Eimerchen nach Hause. Mein anderer Großvater war entsetzt und entließ sie sofort wieder in die Freiheit in den Bach vor unserem Haus.

 

Nach dem Mittagessen bestand meine Mutter auf einem Mittagsschlaf. Meine Schwester und ich mussten uns in der kühlen Wohnung (das Haus hatte sehr dicke Wände und hölzerne Fensterläden, die bereits am frühen Vormittag geschlossen wurden) auf unsere Betten legen und so lange liegen bleiben, bis sie uns holte. Didi-Ota machte derweil ein Nickerchen auf seinem Feldbett. Am Nachmittag kam Irme wieder und wir bauten Höhlen in dem großen Sandhaufen im Hof oder Verstecke in den Gehölzen des weitläufigen Gartens.

 

Ich erinnere mich, wie wir unsere Sandförmchen in der großen Zinkwanne ausgewaschen haben, die meine Großmutter mit frischem Wasser gefüllt hatte. Im Hochsommer nahm der andere Großvater gerne ein Bad im Hof. Ich erinnere mich noch genau an seine dunkelrote Badehose mit ziemlich langen Beinen und sein Geschimpfe, als er den Sand in der Wanne bemerkte. Und ich erinnere mich an die Vorwürfe meiner Großmutter, als Irme und ich aus ihren riesigen, gelben Gurken, die für den Samen der nächsten Saison bestimmt waren, Gurkensalat für unsere Puppen gemacht haben.

 

Wenn mal schlechtes Wetter war, spielte Didi-Ota mit meiner Schwester am Küchentisch „Schwarzer Peter“, ihr Lieblingsspiel. Er ließ sie stets gewinnen. Ich baute mit den Legobausteinen aus Deutschland immer wieder neue Häuser. Wenn Irme da war, spielten wir mit meinen Puppen.

 

Sonntags, wenn mein Vater frei hatte, gingen wir alle zusammen in den Wald oder an den Mühlbach. Meine Mutter packte einen großen Rucksack mit Broten, gekochten Eiern, Auberginenaufstrich, Tomaten und Kuchen. Wenn es Buletten gab, war es ein Festessen! Zu trinken hatten wir einige Flaschen Brunnenwasser und manchmal sogar etwas selbstgekochten Sirup dazu. Irme war immer dabei. Mit ihrer kleinen Schwester und einer Tasche voll Essen stand sie frühmorgens vor der Tür. Ich erinnere mich an verwunschene Stunden unter dem dichten Blätterdach von Buchen und Eichen und auf blumenübersäten Lichtungen. An das Glitzern des schnell dahinsprudelnden Mühlbachs, an das kalte Prickeln des Wassers auf der Haut, den nassen Sand unter den Füßen und die vielen winzigen Fischchen in den seichten Einbuchtungen am Ufer, die brennende Sonne und die wohlige Ruhe im Schatten hoher Holunderbüsche.

 

Besonders gerne erinnere ich mich an die Sommertage mit Trudi-Tante. Sie war die Schwester meiner verstorbenen Großmutter mütterlicherseits. Meine Eltern fuhren jeden Sommer mit dem Motorrad in den Urlaub. Damals hatte jeder „Werktätige“ zwei Wochen Jahresurlaub. Dann kam Trudi-Tante. Sie war eine hervorragende Köchin. Der Garten versorgte uns mit Gemüse in Hülle und Fülle. Auch Obst gab es reichlich für viele leckere Obstkuchen und Kompott. Meine Schwester und ich genossen die sommerliche Zeit mit Trudi-Tante und Didi-Ota.

 

Wenn der Herbst sich mit reifen Kastanien ankündigte, sahen wir mit bangem Herzen dem Abschied von Didi-Ota entgegen. Er blieb meist bis Ende September. Er war es auch, der mich an meinem ersten Schultag zur Schule begleitet hat. Doch wenn es kälter wurde, fuhr er wieder nach Hause, nach Agnetheln. Dort wurde mit Gas geheizt. In Petersdorf gab es das nicht. Wir nahmen Abschied mit der Gewissheit, dass wir ihm mit unserer Mutter bald folgen würden, um den Winter bei ihm zu verbringen. Als ich zehn Jahre alt war, ist er gestorben Damit begann die Zeit der Sommerferien bei Hetschi-Tante in Schäßburg und der schneereichen Winter in Petersdorf.

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Poet's Gallery Beitrag Oktober 2023

Karin Rünger

Jahrgang 1950

 

Lebt und schreibt, vornehmlich für Kinder, so auch ihren Enkel, der die Geschichten um Jakob, das kleine Gespenst mit Begeisterung verfolgt. Sie ist Teilnehmende der Online-Schreibwerkstatt des Körber Haus‘ unter der Leitung von Dr. Erna R. Fanger, ein Austausch mit anderen Schreibenden, der ihr viel Freude macht.

 

Jakob, das kleine Gespenst  - Auszug -

Das Oberhaupt der Gespenster-Gilde schlug mit einem holzhammerähnlichen Teil auf den alten, mit Schnitzarbeiten verzierten, Schreibtisch.

Alle anwesenden Gespenster, und es waren sieben an der Zahl, zuckten zusammen. Gregorius, so sein Name, eigentlich Gregorius, Graf von Hartenstein und Löwenburg, zischte mit fast flüsternder Stimme „jetzt reicht es, meine Geduld ist am Ende. Jakob tritt vor.“

Das jüngste Mitglied der Gilde erhob sich zögerlich. Mit gesenktem Kopf, die Anderen aus den Augenwinkeln beobachtend, machte Jakob eine Vorwärtsbewegung in Richtung Schreibtisch. Er wusste, Gregorius war verärgert, auch die Gespenster Kollegen standen nicht mehr voll hinter ihm. Dabei hatte er sich wirklich Mühe gegeben, aber ...

Gregorius holte ihn in die Wirklichkeit zurück.

„Halt dich grade und sieh mich an, verflixt noch mal,“ entfuhr es ihm , lauter als er gewollt hatte. Der Kleine war ihm ans Herz gewachsen, aber so ging es nicht weiter, Gespenster hatten schließlich eine Aufgabe zu erfüllen und Jakob lief Gefahr, nach und nach seine Kräfte zu verlieren, weil er einfach zu lieb und harmlos war.

„Stimmt es, dass du mit dem alten Leuchtturmwärter „Mensch-ärger-dich-nicht“ gespielt hast?“ Jakob zuckte zusammen, woher wusste Gregorius das nun wieder? Hein, der alte Leuchtturmwärter war sein Freund, aber Gespenster durften keine Menschenfreunde haben, das erlaubte die Gilde nicht und er hatte so gehofft, dass es keiner merken würde. Schließlich war sein eigentliches Zuhause das alte schlossähnliche Herrenhaus hinter dem Deich, aber so oft er konnte, fand er sich im Leuchtturm ein. Hier fühlte er sich wohl und gemocht.

 Das Oberhaupt der Gilde legte die Stirn in Falten und schaute ihn böse an.

 „Ja, im Leuchtturm. Im Herrenhaus würde ich da nie tun“, antwortete das kleine Gespenst kleinlaut. Eine wütende Stimme erklang: „Das Herrenhaus steht schon lange leer, das weiß ich und dennoch, du bist eine Schande für unsere Zunft, du bist nicht würdig …“   „Roderich“, energisch unterbrach Gregorius den Redefluss des Gespenster Kollegen, der sich ungefragt eingemischt hatte, „dich hat keiner gefragt.“

 Der Gescholtene verschränkte die Arme und verstummte beleidigt. Er wusste genau, wie das hier ausging, es würde sich nichts ändern, Jakob würde immer menschenähnlicher, pfui Teufel!

 „Jakob, ich weiß, du fühlst dich in dem leeren großen Haus sehr einsam, aber trotzdem. Wenn du dich zum Leuchtturm begibst, dann nur, um den Leuchtturmwärter zu erschrecken und nicht, um mit ihm Spiele zu spielen.“

 „Aber ...“, setzte Jakob an. „Kein aber, ab jetzt wirst du dich zusammenreißen oder willst du, dass du dir irgendwann den Kopf an der Wand aufschlagen, bloß weil du nicht mehr, wie es sich gehört, hindurch schweben kannst?“

 „Nein, aber ...“ „Jetzt ist Schluss, es ist alles gesagt, wir treffen uns in vier Wochen wieder, gleiche Runde, gleiche Stunde.“ Ein Schlag mit dem Holzhammer und die Versammlung der Gespenster Gilde war beendet.

 Ein Gespenst nach dem anderen entschwebte dem Raum. Auch Jakob machte sich mit hängenden Schultern auf den Heimweg. Gregorius hatte recht, das wusste er, aber Hein erschrecken, das ging gar nicht. Sein Freund war schon über 80, sicher in der Gespenster-Zeitrechnung ein junger Spund. Aber er war nicht gesund und ... ach egal, er würde schon eine Lösung finden, Hein würde ihm helfen.

 Der Wind kam heute von der Landseite und beschleunigte sein Vorankommen. Er war so in Gedanken, dass er sich als er aufschaut vor dem Leuchtturm wiederfand. „Wenn ich schon mal hier bin“, dachte er sich, mit einem leisen Anflug von schlechtem Gewissen und verschwand durch die Mauer ins Innere des Turms

Hein saß am Tisch und versenkte zwei Kluntjes in seinem dampfenden Teebecher.

„Moin Jakob,“ grüßte er das Gespenst ohne aufzuschauen. Er spürte den Freund, das war von Anfang an so gewesen und dafür mochte Jakob ihn, er war nicht nur ein Freund, er war wie ein Vater, den das Gespenst nie gehabt hatte.

Jakob seufzte. „Oh je, so schlimm, dann vertell doch mal.“

Jakob setzte sich auf einen alten dreibeinigen Hocker, der schon viele Farbschichten über sich ergehen lassen musste. Aus Richtung Dorf war die Turmuhr mit elf Schlägen zu hören. Wieder seufzte er und dann sprudelte es nur so aus ihm raus. Er redete sich allen Kummer von der Seele, Hein nippte an seinem Tee und hörte ihm still zu.

Als Jakob seinen Redefluss beendet hatte, sackte er in sich zusammen wie ein Häuflein Elend. Der Leuchtturmwärter erhob sich und legte seinem Freund einen Arm um die Schulter. „Ach mien Jung“, das kriegen wir hin, ich werde in den nächsten Tagen öfter ins Dorf gehen und den Leuten von Spuk und unheimlichen Geräuschen erzählen. Ich mach das schon und wenn du mich besuchen kommst, musst du besonders vorsichtig sein, such‘ dir eine gruselige Verkleidung. Wir müssen damit rechnen, beobachtet zu werden“.

Hoffnungsvoll schaute das kleine Gespenst auf seinen lieben Freund. Einen kurzen Moment durfte er noch bleiben, um Mitternacht musste er im Herrenhaus sein. Diese Zeit nutzte Hein um Jakob mehr Zuversicht und Mut zu geben.

Die Turmuhr schlug zwölfmal. Das kleine Gespenst ging seinen Pflichten nach, es rasselte mit Ketten, ließ Türen aufgehen und wieder zuknallen, brachte den Kamin-Schornstein zum Heulen und Pfeifen, ließ die alte Standuhr dreizehnmal schlagen und das Licht in allen Räumen flackern.

Sich selber gruselig zu präsentieren, darauf verzichtete es, es war ja kein Mensch im Haus. Zwei Beobachter hatte er dennoch. Roderich, sein Gespenster Kollege, spionierte, versteckt hinter einer dicken Eiche und Hein stand oben auf dem Leuchtturm, wo der Wind pfiff und schaute auf das Herrenhaus in der Ferne und war in Gedanken bei seinem kleinen Freund.

Nach einer Stunde war der Spuk zu Ende, der aufgewirbelte Staub legte sich langsam wieder auf die mit weißen Laken abgedeckten alten Möbel, Jakob zog sich in das obere Geschoss zurück und begab sich zur Ruhe.

Auch Roderich machte sich auf den Heimweg. „So ein Mumpitz“, brummelte er vor sich hin. Verflixt, nichts hatte er entdeckt, womit er Jakob bei der Gilde anschwärzen konnte. Jakob erwachte durch einen heftigen Knall und lautes Hupen. Er rieb sich die Augen und reckte sich ausgiebig, das Zimmer war sonnendurchflutet und still wie immer, hatte er geträumt?

Er streckte sich nochmal und ging zum offenen Fenster, beugte sich weit heraus und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Unten in der Auffahrt stand ein großer Möbelwagen und ein rot glänzendes Auto  mit Anhänger. Jetzt drangen Stimmen nach oben, Männer liefen hin und her, trugen Möbel ins Haus und dazwischen Kinderlachen und Rufen.

Jakob rutschte ab und plumpste auf den Hosenboden. Oh manno, Bewohner für sein Haus, damit hatte er nicht gerechnet. Es war schön, nicht mehr alleine zu sein aber jetzt musste er sich sehr anstrengen, er durfte der Gilde keine Schande machen. Würde er das schaffen? Hein – war sein nächster Gedanke, er sollte unbedingt mit ihm sprechen. Aber zunächst musste er in Erfahrung bringen, wer hier einziehen wollte.

Er drückte seinen Kopf durch die Wand zum Flur und wäre fast vor Schreck getaumelt. Mitten auf dem Flur standen zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, und betrachteten die alten Gemälde an den Wänden. „Guck mal, wie doof der aus der Wäsche guckt“, der Junge zeigte auf ein Porträt vom alten Grafen und lachte lauthals. Seine Schwester blieb ruhig, sie fand ihren Zwillingsbruder nur nervig. „Willst du Vater nicht helfen“? fragte sie. „Nö, keine Lust“, war seine Antwort ...

Poet's Gallery Beitrag September 2023

Sabine van de Sandt

Sabine van de Sandt, Jahrgang 1959, wurde als Verlagskauffrau und als staatl. gepr. Übersetzerin in der frz. Sprache ausgebildet. Es folgten Auslandsaufenthalte und ein Berufsleben u. a. im Export, als Leiterin einer Sprachschule, als Personalreferentin. Von den Schreibtischen großer Unternehmen wechselte sie vor einigen Jahren an den privaten Schreibtisch. Sie lebt mit ihrem Mann in Frechen, vor den Toren Kölns. Seit 2018 schreibt sie Kurzgeschichten, Gedichte, Kunstmärchen und Haiku und veröffentlicht in Anthologien, Kalendern und online. Sie schreibt, weil es Spaß macht. Weil sie gerne Geschichten erfindet und Stimmungen wie auch Gedankenflüsse mit Worten einfangen will. Sie unterstützt ehrenamtlich die Redaktion des Frechen Kurier, Zeitschrift für Menschen PlusMinus 65 mit Texten und Korrekturlesen.

Bisherige Veröffentlichungen unter: Autorenwelt Literaturbetrieb/Sabine van de Sandt

Instagram: sabine.seebe.schreibt_frechen Sabine van de Sandt, 2023 

Daggi ist tot

Es passierte beim Überqueren der Straße. Auf ihrem Nachhauseweg von der Schule. Kein Bürgersteig. 70er Jahre. Sie wurde schwerverletzt. Unsere Klasse fuhr ins Schullandheim.

Nach einer Woche ist sie gestorben und meine Eltern holten mich ab. Wegen der Beerdigung. Sie war meine beste Freundin und sie starb mit zwölf.

Mein Vater soll so geschockt gewesen sein, dass meine Schwester endlich ihren Hundewunsch erfüllt bekam. Ein quietschlebendiger Dackel zog bei uns ein. Er blieb keine sechs Wochen. Niemand kümmerte sich so richtig.

Daggis Stoffpapagei hing noch lange in ihrem Fenster. Vom Bus aus guckte ich immer nach ihm. Ein Ara, blau gelb.

Daggi und ich waren ein Herz und zwei vergnügte Seelen. Wir hatten eine Geheimsprache und lachten uns ständig tot. Wir gingen auf die Nerven. Einmal durften wir uns nicht gegenseitig zum Geburtstag einladen. So hatten die Mütter entschieden. Erziehungsmaßnahme gegen Albernheit. Es war unser zwölfter Geburtstag – ihr letzter.

Nicht lange nach dem Unfall begannen die Bauarbeiten für einen Bürgersteig.

© Sabine van de Sandt

 

Der Anruf

Sie sitzt am Küchentisch, streut Zucker in den Kaffee und blickt aus dem Fenster. Auf der Straße unten spielen zwei Kinder. So zeitig am Morgen, denkt sie und trinkt den ersten Schluck. Der frühe Morgen zu Hause, er gehört ihr alleine. Alles ist gesagt, noch nicht lange her.

Da klingelt das Telefon. Ihr Mann wird auf dem Weg ins Büro sein. Er hat noch zwei Jahre.

Es ist Herr T., der sich das erste Mal meldet. Sie stellt auf laut und schiebt den Hörer weiter weg. Wie früher überschüttet er sie mit einem Wortschwall. Er und seine Probleme, sie hört nur ich, ich, ich und hasst es. Sie beobachtet die Kinder und wünscht den Hörer in den Papierkorb, ist gleichzeitig aber neugierig.

Seine Stimme hat sich verändert, sie klingt durchdringend. Fast ein wenig nett. Die Antwort steht fest: Nein. Egal, was er will.

„Nur für ein paar Stunden, ganz bei freier Zeiteinteilung. Wir haben Land unter.“

„Herr T., leider nein.“

Der Morgen ist nun ihrer, denkt sie, und der Hund unterm Tisch seufzt selig im Schlaf.

T. redet über raue Mengen von Arbeit, von kranken Kollegen. Während er nicht aufhört, sich aufzuregen und Klagen durch das Telefon presst, sieht sie Berge von Akten und E-Mails, Hundertschaften. Sie blickt schnell auf den Küchentisch, vor ihr der Kaffee, sonst nichts.

Massenhaft Post bedrängte sie täglich im Büro. Doch nun kann sie die Aktenstapel einfach beiseiteschieben und Bürogedanken löschen. Vor ihr der Becher Kaffee. Schwarz dampfend. Ein Kollegengeschenk; carpe diem! steht in geschwungener Schrift darauf. Sie umfasst ihn und wärmt sich die Finger. Nein, da hat Herr T. keine Chance. Keine Chance.

Er redet schnell, Buchstabensalat, Wörterhaufen. Sicher, alles schlimm, das weiß sie. Doch ohne wenigstens einmal nach ihr zu fragen, wenigstens einmal, das ist schlimm. Herr T., der smarte Anzugträger mit dem zitronigen Duft eines Eau de Toilette. Sie schiebt den Hörer bis zur Tischkante und sagt nein.

Die Masse an Post, die er ihr und ihrem Kollegen Tag für Tag gnadenlos und oft kommentarlos auf den Schreibtisch geworfen und ins Mailpostfach gestopft hat, kann sie nicht vergessen. Sie blickt lächelnd auf den Kaffee. Und dann die unendlich vielen Gespräche mit den immer selben Fragen. Wer war der oder die geeignetste? Wo waren die Unterschiede geblieben? Alles war mit den Jahren verschwommen. Es blieben Monotonie und Hetze. Sie trommelt mit den Fingern auf den Tisch. Gleich würde er noch einmal fragen.

T. fragt noch einmal, nur für ein paar Stunden, gerne auch von zuhause aus. Nein, ist ihre Antwort, nein.

Sie presst die Lippen aufeinander und sagt noch einmal nein. Klipp und klar. Ihr fehlen weitere Worte. Alles ist gesagt. Sie trinkt den Kaffee aus und schüttet neuen nach.

Schade, hört sie noch und legt auf.

Vor ein paar Wochen, an ihrem letzten Arbeitstag, ging sie durch die Ausgangstür und blieb einen Moment vor dem Gebäude stehen. Das letzte Mal durch die Drehtür. Sie schüttelte sich, lächelte und lief mit ihrer Büropflanze im Arm nach Hause. Die schlappen Blätter der Grünlilie wehten ihr ins Gesicht. Sie würde sie unter die Dusche stellen, düngen und ihr einen hellen Platz am Fenster geben. Nach den vielen Jahren treuer Grünschaft.

Zuhause angekommen, flog die Haustür auf und ihr wurde ein Glas Sekt gereicht. Der Empfang war grandios: ihr Mann, die Kinder, Freunde und Hundegebell. Nachbarn, Konfetti und Kuchen.

 

Hinter sich ein verwaistes Büro und ein verlassener Chef. Sie war ihrer Tristesse des Büroalltags entkommen, warf die Schuhe in die Ecke und lief barfuß mit erhobenem Glas in Schlangenlinien durchs Wohnzimmer. Warf den Blazer aufs Sofa und stellte die Musik lauter: ohh-oh-oh, summer wine…

Als sie am späten Nachmittag wie immer mit dem Hund das Haus verlässt, kommen ihr die beiden Kinder an der Hand einer Frau entgegen. Sicher aus dem Kindergarten. Sie trotten langsamen Schrittes, wirken müde. Ein langer Tag geht zu Ende. Sie dürften erst so drei Jahre alt sein.

© Sabine van de Sandt

 

Der kleine Fluss

Der kleine Fluss ist einmal massiv über die Ufer gegangen. Heute, am Nachmittag, sitze ich an seiner Seite in der Sonne und er gurgelt friedlich in eine Richtung. Ich beobachte ihn. Er präsentiert mir seine idyllische Seite ~ rauschen, fließen, plätschern. Wasserspender für die gelben Lilien am Rand. Flugbahn für Blauflügel-Prachtlibellen. Doch er ist trügerisch. Er kann auch anders. Und wie. Das hat Leben gekostet. Einmal wurde der kleine Fluss gewalttätig, schlug zu, riss mit – Menschen, Tiere, Hab und Gut. Er rechnete ab.

© Sabine van de Sand

 

  Archiv

Gästebuch

Poet's Gallery Beitrag August 2023

Nachstehender Text, entstanden Mai/Juni 2023 im Rahmen des Workshops „Die Welt neu schreiben“, BbB, Beratungsstelle für besondere Begabungen, LI Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg, unter der Leitung von Dr. Erna R. Fanger, wurde von einer Rede Alexander Gersts inspiriert, dem Kommandanten der Expedition 57 auf der Internationalen Raum Station, 400 Kilometer über der Erdoberfläche, am 25. November 2018, gerichtet an seine potenziellen Enkel. Die Teilnehmenden waren angehalten, sich einen Satz darin auszusuchen, der sie ansprach. Luis Schröder bezog sich auf „... in Wirklichkeit ist es uns Menschen schon sehr klar, dass wir ... zum Großteil sinnlose Kriege führen.“

 

Luis Antonio Schröder

Ich bin Luis Antonio Schröder.

Ich lebe in Hamburg und bin Schüler des Gymnasiums Osterbeks. Ich bin 13 Jahre alt und lese gerne, dabei jedoch am liebsten Werke J.R.R Tolkiens. An diesen gefällt mir vor allem der Schreibstil, welcher häufig nicht so simpel und einfach, wie der jüngerer Literatur aufgebaut ist. Ich selbst schreibe gern und zeichne ein wenig.

 

Sinnlose Kriege

Der Krieg tobte schon lange. Die einst grünen Wiesen waren verkohlte Schlachtfelder, die von Kratern durchfurcht waren, aus denen giftige Dämpfe stiegen. Die Wälder waren niedergebrannt und die Meere vom Schutt gekenterter Schiffe erfüllt. Die Städte waren Ruinen, die Gerippen gleich zum bleigrauen Himmel aufragten. Der schreckliche Lärm der Kriegsmaschinerie erfüllte die übelriechende Luft. Doch obwohl dies wohl der schrecklichste aller Kriege war, wusste niemand mehr, weshalb er geführt wurde und in wessen Namen. Viele Reiche gingen an ihm zugrunde und niemand weiß wer mit welchem Herrscher im Bunde war. Man fiel sich gegenseitig in den Rücken, ohne zu wissen, wer der Feind war. Man kämpfte um Dinge von großem Wert, doch sind diese nun verloren und die Schlachten entbrannten im Glauben an rechtmäßige Rache.

 

Flammen und Rauch

Schlugen mit Hämmern auf glühenden Stahl,

Der Leib rußgeschwärzt, das Auge so fahl,

Schufen sie Waffen von graus'ger Gestalt,

Schwarze Klingen mit blutroten Bändern,

Gefertigt zum Krieg mit lichten Ländern,

Am Fuß einer Kluft aus schwarzem Basalt.

Mit Rössern von Flammen und Rauch brach er,

Der Feldzug des dunklen Herren herein,

Und über die Eb'ne stampfte sein Herr,

Über das Feld, das gedeckt mit Gebein.

 

Und das Reich am Berge wurde verheert,

Die Tempel geschleift, die Horte geleert,

Viele lagen sodann tot darnieder,

Und niemand betrat das Tal je wieder.

Und dort in eben jenem dunklen Kar,

Wohin sich verirrte nicht mal ein Narr,

Ruhten die Niedergestreckten sodann,

Mit Wunden aus denen Blut nur so rann.

  Archiv

Gästebuch

Poet's Gallery Beitrag Juli 2023

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Roswitha Smailus

 

Ermutigt durch Erf und den TeilnehmerInnen der Schreibwerkstatt der VHS/Haus im Park habe ich das Schreiben (wieder)entdeckt. Ich finde, die Welt wird verständlicher, wenn es gelingt, schreibend die Perspektive zu ändern. Die Male, in denen mir das gut gelingt, bereiten mir große Freude und ermutigen mich zum Weiterschreiben.

 

Können wir uns ändern?

 

Manchmal wäre ich gern anders.

 

Ich stelle mir dann vor, ich wäre ein bunt gemusterter Pullover und im Laufe des Tragens ist das Bündchen ausgeleiert, der Achselausschnitt sitzt inzwischen zu eng und der Kragen am Hals steht ab. Eine Schnittanpassung wäre nötig oder, noch besser, ich ribble den Pullover ganz auf und stricke einen Neuen, sozusagen aus alt mach neu bzw. anders.

 

So, wie es Ödön von Harvath ausdrückte:“ Eigentlich bin ich ganz anders, nur ich komme selten dazu.“

 

So einfach ist es nicht, leider. Ein fertiges Strickwerk neu zu stricken, erfordert Geduld, Zielstrebigkeit und Ausdauer, aber es ist möglich.

 

Und ein Menschen-Leben? Können wir uns im Verlauf des Lebens ändern und das spürbar?

 

Die kleinsten Verhaltensänderungen fühlen sich, erstmalig umgesetzt, ungewöhnlich und befremdlich an.

 

Im Selbstversuch lässt sich das bei Ernährungsumstellungen mühelos beobachten. Wer kennt nicht den Vorsatz, weniger Süßes essen zu wollen. Bei mir kommt die Lust darauf in der Regel abends. Morgens, mittags, nachmittags fühlt sich die Absicht noch unbeschwert an und ich bin motiviert. Spätestens ab 20h, zur Tagesschau-Zeit, werde ich kribbelig und das Begehr nach Süßem wächst und wächst. Jetzt heißt es, entweder eisern und entschlossen sein, oder nachgeben und konzentriert genießen, … nur ein kleines Stückchen Schokolade.

 

Bei der Abwägung hilft es kaum, dass der Konsum von Fett und Zucker eine neurophysiologische Antwort des Gehirns nach immer mehr fett- und zuckerreichen Leckerlies hervorrufen wird. Mein Verlangen und der Heißhunger werden dadurch nicht weniger. Denn Essen ist, wie jedes andere Verhaltensmuster auch, eingerahmt von Gefühlen und dem Innenleben.

 

Und das macht kleinste Veränderungen am eigenem Selbst schwierig und kostbar zugleich. Wenn es gut läuft, lassen sich mit Beharrlichkeit und Wille Denkmuster, Verhaltenstendenzen und Eigenschaften ändern, zumindest in einem gewissen Rahmen, denn jede und jeder von uns hat ihr individuelles Set an Wesensmerkmalen.

 

Ich ribble meinen bunt gemusterten Pullover doch nicht auf. Das Projekt ist mir zu langwierig und unübersichtlich und das Muster und die Machart gefallen mir noch immer gut.

 

Allerdings ist der Ärmelausschnitt mittlerweile so eng, dass ein „einfach so lassen wie es ist“ nicht passt. Der typische Wohlfühlcharakter ist verloren. Mit meinen wenigen Strickkenntnisse, wage ich es und nehme für einen neuen Ärmel zusätzliche Maschen in einem ähnlichen Garn auf.

 

Wenn es gut läuft, bin ich nach einiger Zeit des Ausprobierens und Übens zufrieden und erleichtert mit dem Ergebnis. Mein Pullover im bewährten Styling und mit neuem Zuschnitt, passt mir wieder.

Poet's Gallery Beitrag Juni 2023

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Gudrun Hammer

Gudrun Hammer ist Literaturwissenschaftlerin und war unter anderem als Journalistin, Seniorenbetreuerin und Leiterin eines Stadtteilladens tätig. Heute lebt sie als freie Lektorin und Autorin in Hamburg. 2007 gab sie die Anthologie St. Pauli – Streifzüge auf dem Kiez mit eigenen und Texten anderer Autorinnen und Autoren heraus.

 

Ihr Debutroman Trost verschwindet erschien 2008, 2017 folgte die Kurzgeschichtensammlung Lieberkühn. www.textgudrunhammer.de

 

"Die Novelle „Paul oder: Besuche in der Bilderkammer“ ist im Buchhandel erhältlich oder über den Verlag Dreiviertelhaus (www.dreiviertelhaus.de). (Berlin 2023) 20 € / ISBN: 978–3-96242–909-6

„Wir hatten uns so viel zu erzählen. So viele Jahre dachte ich mir Geschichten über ihn aus. Immer endeten sie damit, dass wir uns wiedersahen. So viele Versionen einer niemals aufgeschriebenen Geschichte und in keiner begegneten wir uns ausgerechnet auf einem Friedhof. Ausgerechnet Katharina, die sich tatsächlich selbst getötet hatte, verdankte ich diesen glücklichen Zufall.“

 

Johanna ist sich sicher, der Mann, den sie auf der Suche nach dem Grab ihrer Freundin sieht, ist ihr vor drei Jahrzehnten verschwundener Halbbruder. Doch als sie ihm folgt und ihn mit Gegenständen und Fotos der Familie konfrontiert, gibt er vor, sich nicht zu erinnern. Lebt der verschollene Halbbruder tatsächlich unter neuer Identität seit einigen Jahren ganz in ihrer Nähe oder täuscht sich Johanna Renner?

 

„Literatur beginnt mit Sprache. Erst wenn sie mich verführt, finde ich zum Inhalt. Im Mainstream vordergründiger Krimifluten wird das meist vergessen. Kompliment: Diese Autorin beherrscht ihr Handwerk.“ Vito von Eichborn

Gudrun Hammer

Paul oder Besuche in der Bilderkammer

Novelle

 

Ob sie den Mann gesehen habe, der so schnell zum Ausgang lief. Diese Frage stellte ich Verena nicht.

Vor unzähligen und noch mehr Wegen hatte ich sie gefragt, ob sie die Maus sah. „Wo denn?“ Zusammen standen wir vor dem Grab und warteten darauf, dass sie sich wieder zeigt. Sie tat uns den Gefallen, flitzte am Stein entlang und verschwand auf Nimmerwiedersehen im Efeu. Da waren wir noch im Hellen unterwegs, viel blauer Himmel zwischen den Baumkronen.

Mittlerweile suchten wir das Grab unserer Freundin im alten Teil des Friedhofs, im kühlen Schattenreich. Hohe Eichen, Weiden und Kiefern, dunkles, dichtes Blätterdach über großen Steinen, Engeln und Stelen. Wir hatten uns verloren. Schon zum zweiten Mal in anderthalb Stunden. „Gehst du da lang, dann guck ich da.“

Inzwischen warf ich nur noch flüchtige Blicke auf die in Stein gemeißelten Namen, hielt vor allem Ausschau nach Blumengebinden und Kränzen auf frisch geharkter Erde. Auf zwei oder drei Gräbern lagen braun-modrige Rosen und graue Lilien neben Schleifen mit Abschiedsworten. Dort hatte die Ewigkeit bestimmt nicht erst vor zwei Tagen begonnen. Und so irrte ich zunehmend mutlos umher, begegnete selten Lebenden und hatte ganz allmählich genug von  den Toten. Und ganz allmählich wurde ich auch der einen großen Frage nach dem Warum überdrüssig. Verena ging es ähnlich. Mehrere Male hatten wir uns in den letzten Tagen getroffen und versucht, Worte zu finden für unser Entsetzen. Katharina war, so schrieb es ihre Tochter in einer Mail, „an die Gleise gegangen“.

Eher aus Erschöpfung denn aus Interesse harrte ich kurz aus vor einer Marmorschönheit, die sich mit sehnsuchtsvollem Blick und entblößter Brust über einen Grabstein beugte, und nahm mir vor, die Suche bald zu beenden. Hinter mir hörte ich Schritte. Als ich mich umdrehte, war der Mann an mir vorübergegangen. Etwas an ihm kam mir bekannt vor. In der Hand hielt er eine weiße Rose. Als sei ihm gerade etwas eingefallen, blieb er plötzlich stehen und sah nach links, auf drei von Urnen gekrönte Stelen. Dann kehrte er um, ging wenige Schritte auf ein unscheinbares Grab zu und legte die Rose auf die Grabplatte. Danach stellte er sich mit wie zum Gebet gefalteten Händen auf den Weg, betrachtete noch einmal die Inschrift des Steins, dabei bewegten sich seine Lippen, und blickte dann zu Boden.

Ich näherte mich ihm, so langsam ich nur konnte.

In dem Moment, in dem er in meine Richtung gegangen war, ohne mich zu beachten, erkannte ich ihn. Und jetzt hatte ich Gewissheit. Sein Profil, seine Haltung, sein Gesichtsausdruck waren mir nur allzu vertraut, bestätigten, was ich von Anfang an gespürt hatte. Nein, ich erschrak nicht. Ich weiß nicht mehr, was ich dachte, vielleicht so etwas wie: Ist es also soweit. Ich hatte schließlich seit jeher gewusst, dass dieser Augenblick kommt. Es war auch keine Frage, wie ich mich verhalten sollte. Ruhig ging ich auf ihn zu.

         Plötzlich bückte er sich und hob mit der linken Hand einen kleinen Ast auf. Gleichzeitig strich er sich mit der anderen eine Strähne aus der Stirn. Fast hätte ich aufgelacht. Hätte es überhaupt noch eines Beweises bedürft, dann hatte er ihn mir mit dieser Geste gegeben. So flüchtig, so uneitel hatte er sich die Haare oft aus dem Gesicht gestrichen. Es ging ihm nicht um das gute Aussehen, sie störten ihn nur.

Ich war noch etwa zehn Schritte von ihm entfernt, da richtete er seinen Blick auf mich. Er sah mir direkt in die Augen. Er erkannte mich. Vielleicht lächelte ich, vielleicht auch nicht, auf jeden Fall war mir danach zumute.

Im Nachhinein sehe ich das, was dann geschah, wie in Zeitlupe. Als müsste er sich zwingen, den Blick von mir zu lösen, wandte er sich ruckartig von mir ab und lief los. Hätte er, und sei es noch so kurz, zwischen dem Blickwechsel und dem Aufbruch noch einmal auf das Grab geschaut, ich hätte es bemerkt.

Ich hatte Mühe ihm zu folgen, so schnell lief er. Bestimmt hörte er meine Schritte. Als er in den Hauptweg einbog, warf er den Ast in ein Gebüsch. Das Friedhofstor war nicht mehr weit. Seinen Namen rief ich nicht. Ich war mir sicher, ich würde ihn einholen. Aus den wenigen Schritten, die uns trennten, waren mittlerweile mindestens zwanzig geworden. Aber selbst diese Entfernung beunruhigte mich nicht. Er konnte sich ja schlecht in Luft auflösen. Notfalls würde ich ihm bis zur Bushaltestelle oder zur Bahnstation folgen. Und falls er in ein Auto einsteigen würde, könnte ich mir immer noch das Kennzeichen merken.

Hinter dem Friedhofstor wandte er sich nach rechts und verschwand aus meinem Blickfeld. Weil ich jetzt rannte, war auch ich rasch auf der anderen Seite der hohen Hecke zwischen dem Friedhof und der Straße.

Neben der Haltestelle startete gerade ein Bus. Außer Atem blieb ich stehen und sah im nächsten Moment, dass er einen Radfahrer überholte. Nein, der Mann auf dem Rad blickte sich nicht um. Trotzdem, oder gerade deswegen wusste ich, dass er vor mir geflohen war. Genauso gewiss war: Ich finde ihn ihn.

Aber zuerst einmal machte ich mich auf die Suche nach Verena.

Poet's Gallery Beitrag Mai 2023

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Renate Glunz,  Jahrgang 1939, seit 2012 in der Schreibwerkstatt im Haus im Park, Forum für Impulse, Hamburg-Bergedorf.

 

            In meinem Kopf

            In meinem Sinn

            Wo ich denke  

            Und zuhause bin

 

            Da wär‘ noch viel

            Zurechtzurücken

            Im großen Meer

            Von Augenblicken

 

            Hab‘ alle Augen voll zu tun

            Mit meinem Geist

            Der mag nicht ruh’n

 

            Von gestern noch

            Und auch von morgen

            Und täglich kommen

            Neue Sorgen

 

            Was morgen wird

            Und gestern war

            Das Leben wie immer

            Spielt sich ab

  

            Da zittert jeder

            Im eigenen Nest

            Hält sich an alten

            Gewohnheiten fest

 

           Ein redlich Teil

           Hab‘ ich verlernt

           Leb heut von dieser

           Welt entfert

 

           Mit ihren Fallen

           Ihren Tücken

           Da ist noch so manches

           Zurechtzurücken

 

Vater und Mutter

 

„Wir wollen doch nur ein Kind“, sagt meine Mutter. Nun bringt dieser Nachkömmling das ganze Leben durcheinander. Wer konnte denn ahnen, dass schlimme Leute einen verdammten Krieg vom Zaun brechen würden? Das ganze Leben gerät aus den Fugen. Das versteht doch niemand. Jetzt einen Säugling, und der Vater muss zu den Soldaten, wo doch täglich mit seinem Tod zu rechnen ist. Wem kann es nützen, sich gegenseitig totzuschießen. So ein Krieg bringt doch die Männer um, macht sie zu Krüppeln und heimatlos. Jeder weint ja um seinen Mann oder den Sohn, egal, aus welchem Land er auch kommen mag. All die Männer auf ihren Höfen sind sozusagen das Rückgrat der Familie, der Motor und der Antrieb. Das ganze Dorf stürzt ins Unglück. So was kann auf Dauer nicht gut gehen.

 

Meine Mutter tobt innerlich. Der helle Zorn bringt sie dazu, nun auch laut vor sich hin zu schimpfen. Total allein gelassen fühlt sie sich, mit alle ihrer Arbeit und Verantwortung. „Warum nur, jetzt ein Kind bekommen. Das ist einfach der völlig falsche Zeitpunkt. Die beiden Großen sind aus dem Gröbsten raus, wie man so sagt, gehen schon in die Schule.“

Sie stillt mich ein ganzes Jahr lang, gewöhnt mich schnell an frische Kuhmilch, um sich Arbeit zu ersparen. Auch nach den ersten Jahren ist es durchaus noch immer eine Hilfe, wenn Großtante Emma mich mit sich nachhause nimmt. Eine willkommene Abwechslung für mich. „Nimm sie mit!“ Das kommt meiner Mutter jahrelang leicht über die Lippen. Auch heute noch, als Erwachsene, erinnere ich mich deutlich an jenen Satz. Ich hatte nie das Gefühl, dass sie mich nicht liebt. Nein, sie hatte einfach zu viel Arbeit mit dem Vieh und den täglichen Mahlzeiten für viele Personen. Und tausend kleine Aufgaben nebenher waren sowieso noch zu erledigen.

 

„Wie soll ich das denn schaffen? Morgens und abends zehn Kühe melken, zwei Mal täglich Tiere füttern, den Hof bewirtschaften.“ Sie weigert sich einfach, weiterzudenken.

Meine Mutter ist ein Kämpfer, muss sie auch sein, bei dem Mann, den sie geheiratet hat. Unser Vater ist durchaus die eindrucksvollste Persönlichkeit, die mir in achtzig Jahren meines Lebens begegnet ist. Er hat fünf Jahre als Soldat den Zweiten Weltkrieg überstanden. Nur mit ständigem Überlebenswillen, mit Gespür und wohl auch mit Glück konnte er dem sogenannten „Kessel von Stalingrad“ entkommen.

 

Kurt vor Ende des Krieges wurde er zum Deserteur, weil er nach einem Lazarettaufenthalt im Untergrund blieb, und dem Ruf zum Volkssturm nicht mehr gefolgt ist. Uns drei Kindern blieb dieser Vater ein wahrhaftes Vorbild, ein Leben lang.

Poet's Gallery Beitrag April 2023

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Sabine Bellmund

Sabine Bellmund, geb. 1963 in Hannover. Nach dem Abi 1980 als Au-pair in Spanien. Reise durch Griechenland und die Türkei. Studium in Göttingen: Germanistik, Geschichte und Ethnologie. Zwei Urlaubssemester: Aufenthalt in Sri Lanka, Thailand , Indonesien und Nepal. Beendigung des Studiums in Hamburg; seit ´88 an der Uni tätig im Bereich Sprachwissenschaften; lange in Hamburg (Promotion), seit 2008 lebe ich  mit meinem Mann auf Teneriffa (Buenavista), schreibe und arbeite an der Universität in La Laguna.

Immer wieder andere Welten suchend: Indien, Myanmar, Äthiopien, Jordanien, Namibia, Marokko, die Mongolei… am liebsten erlebe ich die Landschaften zu Fuß wandernd, manchmal zu Pferd. An Menschen bewundere ich ihre Fähigkeit zur Empathie und ihre Schaffenskraft, Kreativität und Fantasie. Fantasie ist für mich keine Möglichkeit, der Wirklichkeit zu entfliehen, sondern sie zu gestalten.

Durch die Absolvierung des Belletristikkurses bei schreibfertig konnte ich mein Schreiben intensivieren und jetzt auch den Mut finden, ein längeres Projekt anzugehen. Es war eine wunderbare zweijährige Unterstützung und Zusammenarbeit.

 

Die Katze

„Mit eigenem Tempo, eigenem Fokus und eigenem Modus durch die Wirklichkeit zu fahren“, schrieb Kim de l`Horizon in ´Blutbuch`. Ja, fantastisch, nur durch welche Wirklichkeit? Denn gibt mein Fokus der Wirklichkeit nicht das Gesicht?

Träumte ich von schwarzen Katzen, liefen sie mir am nächsten Tag über den Weg. Hallo du! Bist du meinen Träumen entsprungen oder bist du Teil der Wirklichkeit? Habe ich dich erschaffen?

Nachdenklich blickte mich das Tier aus seinen bergseegrünen Augen an, drapierte seinen Schwanz elegant um die Pfoten und meinte keck: „Das darfst du dir aussuchen. Machen wir einen Trip?“ Warum nicht, dachte ich mir. Was könnte gelungener sein, als eine schwarze Katze als Führerin durch die Gassen der Nacht.

So folgte ich ihr über einen Platz, auf dem sich ein grauhaariger Derwisch zu den Tönen einer fernen Musik, die nur er zu hören schien, unaufhörlich im Kreise drehte. Es verlockte mich, mich mitzudrehen. Aber die Katze schüttelte den Kopf und schlüpfte in eine Seitengasse. Bald stieß ich mich an den manifesten Ecken der Wirklichkeit, denn das schlanke Tier passte durch jeden Mauerspalt und gelangte durch jede halboffene Tür. Das war mir von Natur aus nicht gegeben und so steckte ich bald zwischen zwei Mauervorsprüngen fest. Die Katze kehrte um und betrachtete mich kopfschüttelnd: „Du musst nicht so fest an die Begrenzungen der Materie glauben. Das engt ein.“

„Im wahrsten Sinne des Wortes“, stöhnte ich.

„Hast du nicht ´Alice im Wunderland` gelesen?“ fragte sie mich vorwurfsvoll.

„Doch! Kommt mir bekannt vor. Aber du bist kein Hase.“

„Paperlapapp“, erwiderte die Katze. „Konzentrier dich!“

Poet's Gallery Beitrag März 2023

schreibfertig.com

Leni Vollmer

 

 

 

Leni Vollmer 

Jahrgang 1970 

Kommunikationswirtin 

Mutter von drei Kindern 

Arbeitet an einem Jugendroman.

 

Vogelstrauß

 

Leni Vollmers Waschkeller-Einsichten

 

Ein riesiger Berg frischer, trockener, verknüllter Wäsche jeglicher Art überhäuft das Bügelbrett. Es ist kaum noch möglich, noch mehr Kleidungsstücke oben drauf zu stapeln. Hier und da lösen sich bereits einzelne Socken und stürzen kamikazemäßig zu Boden. Fraglich, ob sie ihren Partner je wieder finden. Sie werden für immer getrennt sein. Welch Drama.

Die Ursprünge dieses Chaos‘ lassen sich vielleicht mit einem Mangel an entsprechenden Behältnisse begründen. Frische Trocknerware findet zwar theoretisch Absatz, aber keine Transportmöglichkeit. Alle Wäschekörbe befinden sich zwei Stockwerke höher beim Nachwuchs. Die Logistik ist fehlerhaft. Die Arbeitskette unterbrochen. Das Transportwesen im Hause ist zusammengebrochen. Das Personal streikt oder hat sich aus dem Staub gemacht. Hier herrscht so eine Art Wexit - Wäsche-Exit. Der Weg nach oben scheint eine Einbahnstraße zu sein. Die Sprösslinge glauben, dass der Wäscheweg nach unten ausschließlich durch das Fallrohr führt. Ein ganzer Wäschekorb passt da nun mal nicht durch. Google Maps liefert auch keine geeignete Route für den Rückweg. Folglich bleiben die Dinger oben, vorzugsweise noch gefüllt mit ungeliebtem Kram, der auf keinen Fall wieder in die Schränke soll. Siri ist ebenfalls ratlos. Findet keine Antwort. Entschuldigung – ich habe die Frage nicht verstanden. Weder eine Antwort für das Transportproblem noch für die Entsorgung der Unwanted-Things.

So stehe ich also zwei Etagen unter den Saboteuren, gucke einigermaßen genervt auf den Stau-Berg und es ergeben sich daraus zwei Möglichkeiten: Ignorieren oder den Dingen ins Augen sehen.

Ich probier erstmal die Vogelstrauß Perspektive. Die funktioniert mit Wäsche ganz prima, wenn man einen Wäschekeller besitzt. Beim wieder Auftauchen, muss man nicht mal Sand aus den Ohren pulen. Höchstens ein paar Fussel. Man kann dabei sogar ganz manierlich aussehen.

Der Standort meines heutigen Berges ist für die Strauß-Methode sehr rückenschonend. Ich muss nur meinen Kopf ein wenig neigen, den oberen Rücken etwas beugen und mich langsam nach vorne sinken lassen.

In meinem Berg ist es angenehm dumpf, weich und, was soll ich sagen: herrlich. Für empfindliche Nasen empfiehlt es sich, vorher zu prüfen, ob man nicht doch aus Versehen den Haufen mit dreckiger Wäsche erwischen wird. Diese Gefahr ist bei mir gerade nicht so groß, denn der schlechte Hügel liegt in der Regel nicht auf, sondern unter dem Brett.

Während ich mich also der Ich-seh-dich-nicht-ich-kenn-dich-nicht Methode hingebe, dämmert mir, dass ich so nicht weiterkomme. Es ist wie mit Speckrollen, Deadlines oder Rentenlücken. Alles keine unmittelbaren Probleme, aber ignorieren hilft auch nicht. Und ich beobachte bei allen: Je mehr man in die Jahre kommt, desto unangenehmer werden sie.

Zum Beispiel Speckrollen: Die waren vor kurzem noch überhaupt nicht der Rede wert. Da half, einen Abend das Abendbrot auszulassen, nur ein Glas Sekt zu trinken und zack, war das Ursprungsgewicht nächsten Morgen wieder gut erkennbar auf der Waage abzulesen. Heute muss ich einen Monat Teilzeitfasten durchstehen und dazu noch die ganze Zeitspanne über nüchtern überstehen, bevor man sich überhaupt nur traut, den Ist-Zustand festzustellen.

Ähnlich verhält es sich mit Deadlines. Da hat man sich früher ganz locker ein paar Tage vor dem Abgabetermin mit dem Thema hier und da auseinandergesetzt und zur Not eben eine Nachtschicht eingelegt. Alles kein Problem. Und heute krieg ich schon Herzrasen, wenn ich das Wort Deadline nur höre.

Mit der Rente ist das noch viel schlimmer. Sie ist irgendwie subtiler. Die schleicht sich von hinten ganz unbemerkt ins Leben. Zuerst geht sie nur die Großeltern etwas an. So vom Alter her. Glaubt man. Glaubt man auch noch, wenn man anfängt, diese nervigen, eigentlich nur für die Ablage bestimmten Bescheide zu bekommen. Da guckt man gar nicht richtig hin. Deshalb merkt man auch nicht, was die einem so schreiben, und dass das wichtig wäre. Und wissen will man es eigentlich auch nicht. Weil man ja ahnt, dass da keine angenehmen Überraschungen zu erwarten sind. Ist extrem unbequem, so ein Renten-Thema. Und irgendwann geht man zufällig an einem x-beliebigen Spiegel vorbei und stellt eine gewisse Ähnlichkeit mit seiner schon längst verstorbenen Großmutter fest. Spätestens jetzt sollte man sich fragen, ob man eigentlich mit dem Klammerbeutel gepudert ist, das Thema Altersvorsorge nicht schon im Kindergarten als Leistungsfach belegt zu haben. Ich kann Euch nur raten: Macht die Augen auf!

Zum Glück gibt es für jedes Problem einen Podcast. Und der größte Teil der Care-Arbeit lässt sich ultimativ gut mit den Unterschiedlichsten davon versüßen. Mein Dauerbrenner beim Faltenlegen ist der von @madamemoneypenny, ein Finanzratgeber für Frauen. Sehr augenöffnend. Wer auch morgen noch genussvoll und sorgenfrei zurechtkommen möchte, sollte da unbedingt mal reinhören. Ist ansonsten auch eine geeignete Motivationshilfe, um den Kopf wieder aus der Wäsche zu ziehen und sich nach Lösungen umzusehen.

Ich nehme also meine Beine wieder in die Hand, mache ganz nebenbei ein ausgeprägtes Treppenworkout, welches bestimmt auch gegen Speckrollen hilft, und hole mir die Körbe selbst. Nützt ja auch nichts. Ist gerade keiner mehr an Board.

Auch Kind Drei hat indessen die Segel gestrichen und arbeitet seine Agenda ab. Die Arbeit ruft.

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Poet's Gallery Beitrag Februar 2023

schreibfertig.com

Sonja Kittel

Biographie:

Sonja Kittel, geb. 31. August 1976 in Bobingen, wuchs, nach den ersten drei Lebensjahren in Bayern, im Rheinland auf.

Nach dem Abitur wollte sie was mit „Medien“ machen, machte eine Ausbildung zur Verlagskauffrau, studierte Public Relations, arbeitete in PR-Agenturen sowie auf Unternehmensseite und ist der Kommunikation bis heute treu geblieben. Sich selbst bezeichnet sie als Menschenfreund, was in ihrem Job definitiv von Nöten ist.

Zum Schreiben ist sie nicht nur berufsbedingt gekommen, sondern auch privat seit 2014, über die und mit der Offenen Schreibgruppe [von schreibfertig.com] , seit Coronazeiten Gott sei Dank via Skype.

Erklärte Lieblingsstadt ist, neben Köln, Hamburg, wo sie etwas mehr als drei Jahre lebte. Ihr Wunsch: Mehr Zeit zum Schreiben zu haben, verbunden mit einer tollen Idee sowie dem Quäntchen Mut, um endlich ihr Kinderbuch zu schreiben.

Sonja Kittel wohnt mit Tochter Tilda und ihrem Lebenspartner in Bergisch Gladbach, auf dem Land, 20 Autominuten von Köln entfernt.

 

Ausgehen                                                               Würdest du heute mit mir ausgehn?

Ich würd dich auch nach Haus bring,

ich weiß du musst früh aufstehn.

Würdest du trotzdem mit mir ausgehn?

(Annen May Kantereit, „Ausgehen“)

 

Ich höre den Song und meine Gedanken beginnen zu tanzen, schweifen ab, ich träume mich weg. Träume mich weg von Abstand, Ausgangssperren, Berührungsängsten, Masken, Impfdiskussionen, Debatten über Pandemien, weg von verqueren Erklärungen über hilflose Maßnahmen, weg von matschigen Coronatagen, von Eintönigkeit und Langeweile.

Stelle mir vor, wie es früher war: losgezogen, die Nacht gehörte uns, wir waren die Helden der Tanzfläche, unschlagbar, wortgewandt, gewitzt, zu allem bereit, keine Lust nach Hause zu gehen.

Ausgehen, aus uns raus gehen, aus dem Haus gehen, dem fiebrigen Flair der Kneipen und Clubs entgegen, uns treiben lassen, nicht an morgen denken, das Jetzt genießen, nicht bereuen oder scheuen, ohne zu wissen was kommt.

Schwitzen, trinken, rauchen, tanzen, durchdrehen und abgehen, lachen und immer die Gewissheit: Wir zwei gegen den Rest der ausgehfeierwütigen Meute.

Wir haben so viele Geschichten, so viele Nächte, Abenteuer, Abende und Partys erlebt, dass es fast reichen würde für eine Zeit ohne Party. Für eine Zeit, in der nichts stattfindet, keiner ausgeht, aus sich rausgeht, keiner in den Kneipen und Clubs steht, jede Bar leer. Vorgefeiert für pandemische Zeiten, auf Halde gelegt und konserviert?

Zwei Jahre ein Loch. Ein Nix. Nix passiert und nix verpasst.

Die Sehnsucht bleibt. Nach einer guten Party. Nach Menschen, nach Nähe, nach dem Gefühl der Freiheit und des unbeschwerten Seins. Die Farben einer Partynacht, die Bilder einer verrückten Sause kann man sich nicht ausdenken. Sind ohnehin unbezahlbar.

Ab sofort legt der DJ wieder auf.

 

Karneval

 

Will so gerne ausgehen.

Will mich schminken, trinken, nicht nur am Leben nippen,

nicht sachte wippen,

will ausgelassen und unbeschwert sein.

Will feiern und lachen,

Dinge machen,

Es krachen lassen,

Mich abreagieren und den Abend kreieren.

 

Glitzer und Konfetti.

Luftschlangen und Remmidemmi.

Kein Karneval,

zu pandemischen Zeiten.

Da stand ich da,

Mit dickem Bauch und nüchtern,

eher schüchtern.

Einmal in der Menge baden,

nach Haus gehen, nicht hadern.

 

Heute denk ich: Gott sei Dank.

Dem Kind hab ich gesagt,

das hat die Mama gemacht.

Tilda hat gelacht, keck.

Das Herz am rechten Fleck.

Den Duft der Kneipe mit mir geatmet.

Es hat nicht geschadet.

 

Heute fragst du mich freudig,

„gehen wir auf den Karneval“?

Ob du ein Marienkäfer sein darfst.

 

Oder eine Maus, mit grünem Schwanz.

Oder doch ein Hase?

Du hast schon wieder eine rote Rotzenase.

Das Kostüm ist bestellt,

der gepunktete Flugkäfer kommt gewiss.

Du weißt es genau,

du hast nicht nur Humor, du bist auch schlau.

 

Wir wollen am Straßenrand stehen,

Kamelle rufen und nicht eher nach Hause gehen,

bevor die Tüten randvoll mit Süßem sind.

Es Strüßjer* geregnet und die Stimme versagt,

vom Alaaf rufen und singen.

Die Wagen vorbeigezogen sind,

wir glücklich, beladen mit Eindrücken gen Heimat ziehen.

 

Heute schlagen in Europa Bomben ein.

Ich frage mich, dürfen wir unbeschwert sein?

Müssen wir uns dem Krieg ergeben,

die Stimmung lahm legen?

Wie geht Solidarität mit Karneval?

Selenskyj steht seit bald 365 Tagen in der „Bütt“.

Seine Reden und sein Handeln, seine Standhaftigkeit,

er hätte alle Orden wider den tierischen Ernst** verdient.

 

(*Kölsch für Blumenstrauß)

(**Orden wider den tierischen Ernst ist ein vom Aachener Karnevalsverein an Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens vergebener Orden und Kulturpreis

https://de.wikipedia.org/wiki/Orden_wider_den_tierischen_Ernst)

 

Deine Augen

 

Deine blauen Augen.

Du hast meine Augen.

Blaue Kulleraugen, gefüllt mit Ideen, Freude und Übermut. Bereit, mit jedem Blick die Welt zu erobern.

Ich sehe dich an, und sehe mich.

 

In deinen blauen Augen lacht die Sonne, leuchtet mir deine Seele entgegen und deine bedingungslose Liebe.

Unsere unsichtbare Verbundenheit für immer, ist das geistige Auge, die das Himmlische erkennt.

Ich sehe dich an und erkenne mich.

 

Du liebst den Himmel, die sich auftürmenden Wolken. Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch die Wolkenschiffe bahnen.

Kneifst die Augenzusammen

und lachst, wenn der Wind unser Gesicht streichelt.

 

Du freust dich über den Mond, weißt, dass dann die Sonne schläft,

magst das Dunkel wie das Helle.

Beobachtest die Laternenlichter durch das Fenster.

 

Ich beobachte dich, sehe dich denken. Erkenne deinen Blick an mir.

Augenblicke voll von Liebe

 

Manchmal wandert dein Blick ins Leere,

in eine Ferne, der ich nur zu gerne

folgen würde.

Dann bist du abwesend, ich erreiche dich nicht, bist versunken, mit deinen

Gedanken in deiner Welt.

Ich weiß, in wenigen Sekunden blickst du mich an

und erzählst mir vondeiner Reise hinter die Dinge.

Geschichten voller Phantasie.

 

Du fragst mich, „wovor wollen wir Angst haben? Wenn ein Löwe brüllt?“

Ich sage, „wir brauchen vor nichts Angst haben, denn wir sind mutig und stark“.

Du siehst mich an und mir wird warm ums Herz.

 

Ich beobachte dich im Schlaf, wie du atmest, ruhig.

Dein kleines Gesicht friedlich, entspannt. Kann mich nicht satt sehen, an dir.

 

Manchmal komme ich morgens in dein Zimmer um dich zu wecken und du sagst zu mir:

„Ich bin wach!“

Schaust mich in der schummrigen Dunkelheit mit großen Augen ernst an. Als ob du auf mich gewartet hättest. Ich muss unweigerlich lächeln.

 

Du rappelst dich in deinem Bett hoch, deine blonden Haare verdecken dir die Sicht.

Gestenreich streichst du sie aus dem Gesicht. Bist warm, süß und verschlafen.

Wir schauen uns an.

Ein Blick. Ein Augenklimpern. Ich weiß: los geht’s.

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Poet's Gallery Beitrag Januar 2023

Waltraud Fitschen

Zu mir: Ich bin in Bremen geboren und aufgewachsen. Lebe in Bremen. (Hamburg gefällt mir auch sehr gut!)

Buchstaben waren von frühester Kindheit an meine Nahrung. Ich habe immer schon viel geschrieben. Seit mehr als zehn Jahren immer wieder und immer regelmäßiger.

Ich habe Gedichte und poetische kurze Geschichten in Sammlungen veröffentlicht.

Sehr lange habe ich als Lehrerin gearbeitet. Auch in diesem Bereich waren Sprache und Schrift mein tägliches Brot.

Noch immer mache ich Schreibwerkstätten für Kinder (seit mehr als 10 Jahren). In Bremen schreibe ich in einer Gruppe mit Frauen. „PoeSie“- nennt sich die Gruppe. Ich habe auf Sylt diverse Schreibwerkstätten besucht. Seit kurzer Zeit nehme ich an den Treffen von „schreibfertig“ teil, und ich bin dankbar und glücklich über diese neue Möglichkeit und die Anregungen.

Ich habe einen Blog: waltraudfitschen.wixsite.com/sophie-precht

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Poet's Gallery Beitrag Dezember 2022

Alle Jahre wieder ... bestreitet "unser Mann zu Weihnachten", Hans Happel, die Poet's Gallery mit seinen immer subtilen, vielschichtigen Storys, so auch diemal mit "Passwort".  

 

Hans Eberhard Happel

 

Passwort

 

 Ich war schon dabei, Neapel zu verlassen, auf dem Weg zum Flughafen, da überfiel mich die Angst. Ich hatte das Passwort nicht mehr im Kopf, das ich, um den vor Wochen gebuchten Rückflug nach Hamburg antreten zu können, im Computer meiner Herberge, der Casa del Monacone, hätte eingeben müssen. Ohne Passwort kein Rückflug-Ticket. Aber die Zeit drängte. Der Taxifahrer wartete schon. Sobald ich eingestiegen war, schrieb ich meinem Freund Philipp in Hamburg eine WhatsApp in der Hoffnung, er erinnerte sich, wie das Passwort hieß, hatte er doch bei der Buchung der Flüge entscheidend geholfen. Und tatsächlich, wenige Minuten später, ich saß noch im Taxi, kam seine Antwort. Es waren drei Worte.

 

Ich schickte sie sofort an Giuseppe weiter, der in der Casa del Monacone die Gäste betreut. Und nur wenige Sekunden später hatte ich es auf dem Handy: das Rückflug-Ticket. Giuseppe schrieb dazu: Vergiss nicht, dein Handy zu kontrollieren. Vielleicht musst du es erneut aufladen. Eine sinnvolle Mahnung: Ich hatte einen Zwischenaufenthalt in Mailand und würde dort das Ticket ein zweites Mal vorzeigen müssen.

 

Zwölf Tage war ich in Neapel gewesen. Napoli ist mir ans Herz gewachsen. Das sagt sich so einfach, und obwohl ich von der Geschichte der Stadt gelesen hatte, die in den letzten Jahrzehnten von Korruption, Armut, Bausünden und bewaffneten Banden geprägt war, denen immer wieder Unschuldige zum Opfer fielen – zum Beispiel im September 2015 der 17-jährige Genny, dem dort, wo es geschah, direkt neben meiner Herberge, der Casa del Monacone, und im Schatten einer der schönsten Kirchen Neapels, der Basilica Santa Maria di Sanità, ein Denkmal gesetzt wurde –, obwohl ich wusste, dass die Stadt am Rande des Vulkans selber ein Vulkan ist, der jederzeit irgendwo ausbrechen kann, hatte ich mich, fasziniert von ihrer Schönheit, eingeigelt in diesem überschaubaren Viertel, das Sanità genannt wird, „Gesundheit“, das ich in den zwölf Tagen als „mein“ Viertel empfand, und das mir so vertraut werden sollte wie das kleine Viertel in St. Georg, meine Hamburger Heimat-Ecke, in dem ich seit fünfzehn Jahren lebe, was keinen gebürtigen Hamburger auf den Gedanken bringen würde, mich als einen der ihren, als Hamburger Jung´, anzusehen.

 

Aber sobald ich auf dem winzigen Platz in Neapels „Rione di Sanità“ saß, nachdem ich täglich am Kiosk, gegenüber meiner Herberge, die Tageszeitung „La Repubblica“ gekauft hatte, täglich fast eine Stunde darin las – das Wetter war gut, es war noch warm–, und sobald ich mir Zeit nahm, die Gesichter der Vorübergehenden zu studieren, und derjenigen, die auf den Bänken oder  auf den kleinen drehbaren Stühlen in meiner Nähe saßen, und sobald ich zum Handy griff, um während der Zeitungslektüre im Google-Übersetzer ein italienisches Wort nachzuschlagen oder unbemerkt ein Foto zu machen, fühlte ich mich von Tag zu Tag weniger fremd, fühlte mich aufgenommen, wieder erkannt, spürte, wie Vincenzo, in dessen kleiner Bar ich morgens einen Cappuccino trank, mich immer freundlicher begrüßte und sein Sohn mit dem tiefschwarzen, penibel geschnittenen Bart und dem schwarzen New-York-Käppi mich jedesmal fragte, ob er einen Löffel Kakao auf die geschäumte Milch streuen solle, und wenn der Zeitungsmann mit seinem vom Wetter gefärbten, vom Alter gezeichneten Gesicht von Tag zu Tag weniger skeptisch guckte, wenn ich nach der „Repubblica“ verlangte, bis er sie mir schließlich schon zureichte, sobald er mich kommen sah, um sich an meinem letzten Napoli-Tag mit Handschlag zu verabschieden – genauer: mit der entgegengestreckten Faust für Corona-Zeiten –, dann wusste ich, ich war angekommen, und der winzige Platz mitten im Viertel Sanità, mit seinem Denkmal für Neapels Nationalheiligen, den Komiker Totò, den Pasolini in seinem Film „Uccellacci, Uccellini“ („Große Vögel, kleine Vögel“) zum unerschütterlichen und unsterblichen Philosophen des Alltags gemacht hatte, weshalb das Denkmal, gleich um die Ecke von Totò´s Geburtshaus, auf keinem Sockel steht und kein typisches Denkmal ist, sondern eine in schlichtem Grau verputzte Mauer, ein Stück Haus-Wand, in der Totò´s Silhouette ausgelassen ist, so dass jeder Mann und jede Frau (und jedes Kind sowieso) sich passgenau in seine Form, die freie Lücke, hineinbegeben und durch die Wand hindurch schreiten können, um sich wie Totò zu fühlen, so groß oder so klein, denn Totò war ein kleiner Mann, aber ein sehr großer Mensch, der die schlimmsten Zeitgenossen mit seinem frechen Mundwerk in die Flucht schlagen konnte und alle anderen zum Lachen brachte, dieser Platz mit seinen paar Bänken und Stühlen, am frühen Abend von alten Männern besetzt und von Frauen mit vollen Einkaufstaschen, Totòs Platz hatte sich in jenen zwölf Tagen, von Tag zu Tag stärker, in mein Herz geschlichen, ja, eingenistet.

 

Das alles ging mir durch den Kopf, als Philipp mir das vergessene Passwort sendete, kein Kommentar, nur die drei Worte, und ich wußte, wo meine Heimat ist.

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Poet's Gallery Beitrag November 2022

Reinhard Glüer

 

Kurzbiographie:

Ich bin in Deutschland geboren, habe dann aber meine Kindheit und Jugend in Äthiopien verbracht. Nach einem langen Berufsleben als Software-Entwickler in Hamburg habe ich jetzt als Rentner genügend Zeit, meinen Hobbys Musik, Malen und Schreiben nachzugehen.

 

Die Kreuzfahrt

Jetzt habe ich es doch gemacht: Ich habe eine Kreuzfahrt gebucht auf einem dieser riesigen schwimmenden Hotels. Dabei hatte ich mir doch früher geschworen, niemals so tief zu sinken, mich auf eine ökologisch so bedenkliche Massenveranstaltung einzulassen. Ja, damals reiste ich noch mit einem Backpacker-Rucksack in Signal-Orange auf individuellen Pfaden. Mein Ziel war nicht profane Unterhaltung, nicht die bedingungslose Unterwerfung unter das Spaß-Diktat, sondern ich wollte die Welt, andere Kulturen und besonders andere Menschen kennenlernen. Ich und meine Mitreisenden waren keine normalen Touristen. Wir reisten bewusst, grenzten uns vom Konsumterror der Spießbürger ab und sahen uns auf der Seite der Arbeiterklasse. Wir hielten uns für etwas Besseres und führten uns doch auf wie arrogante, elitäre Snobs, so wie wir auf Pauschalurlauber und bildungsbeflissene Städtetouristen herabsahen. Wir verachteten den Massentourismus. Dabei war der Konsumverzicht, auf den wir so stolz waren, nur dem knappen Bafög geschuldet, und der Wunsch, andere Menschen kennenzulernen, erschöpfte sich oft genug im Anbändeln mit allein reisenden jungen Frauen.

Zum ersten Mal kamen mir Zweifel an dieser Reisephilosophie nach einem mehrstündigen Flug nach Kreta. Ich hatte eine Individual-Reise gebucht und fühlte mich mit meinem oben schon erwähnten orangefarbenen Rucksack wie ein mutiger Entdecker, wie ein Erstbesteiger unerforschter Gipfel. Aber jetzt stand ich am Gepäckband, auf dem hunderte von ähnlichen Rucksäcken auf der Suche nach ihren Besitzern kreisten. Nach und nach fand jedes Gepäckstück sein Gegenstück und alle Individual-Touristen machten sich auf den Weg zu ihren individuellen Zielen. Zu meiner Überraschung trafen sich all die Individualisten später an den selben besonders angesagten Orten auf der Insel wieder.

Da ist das Konzept der Kreuzfahrten schon ehrlicher. Jeder ist Teil der großen Masse. Entsprechend ist Architektur des Schiffskerns von konsequenter Einförmigkeit. Lange Gänge mit regelmäßig angeordneten Kabinentüren wiederholen sich über viele Stockwerke, genannt Decks. Um die Eintönigkeit zu übertünchen, wird ein gewaltiger Aufwand getrieben. Mit grellen Farben und auffälligen Mustern wird Individualität vorgetäuscht, um die Wohnwaben wiedererkennbar zu machen. Oben aufgesetzt sind dann quietschbunte Bars und Restaurants. Die Fahrtroute ist exakt vorausberechnet und wird mit Hilfe von GPS minutengenau abgefahren. Man rechnet heutzutage nicht mehr mit Untiefen und Schiffbruch, Durst, Hunger, Pest und Cholera. Damit aber den Reisenden diese quälende Ereignislosigkeit nicht auffällt, wird unentwegt für Ablenkung gesorgt. Aufmunternde Ansagen, Spiele, ein ausgeklügeltes Sport- und Fitnessprogramm, ein Show-Event nach dem anderen und ständige Musikberieselung sorgen dafür, dass niemand zur Ruhe kommt. Selbst am Bug, wo man den besten Blick auf das Meer vor sich hat, tönt Musik aus extra dafür angebrachten Lautsprechern, und von ferne tönt das „unk, unk, unk“ aus der Disco-Bar. Das macht aber nichts, weil ohnehin kaum jemand aufs Meer hinaus sehen will. Denn jetzt beginnt die Laser-Show mit Musik auf dem Sonnendeck. Alle Blicke richten sich auf die Leinwand in der Mitte des Schiffes, da kann der Vollmond sich so schön im nächtlichen Meer spiegeln wie er will. So fährt eine ganze Menschenstadt dröhnend laut und grell beleuchtet, dabei aber wie blind und taub durch die Nacht. Wie absurd muss das wohl auf die eigentlichen Bewohner dieser Weltgegend, die Schweinswale, Robben und Seevögel wirken?

Ich hatte eigentlich damit gerechnet, hauptsächlich auf Rentner zu treffen, aber das ist nicht der Fall. Alle Altersstufen sind vertreten, bis auf die schulpflichtigen Kinder – es sind wohl gerade keine Ferien. Hormonstrotzende junge Männer posieren lässig an Deck, kichernde Bikinischönheiten suhlen sich im Whirlpool, eine Gruppe älterer Männer könnte auch als Skatklub durchgehen, ein Vater schiebt einen Kinderwagen mit Baby vorbei und zwei lustige Omis beobachten das Ganze. Alles atmet die gute Laune beginnender Alkoholisierung. Sorglosigkeit ist oberstes Gebot, man muss sich um nichts kümmern. Acht Restaurants und vierzehn Bars sorgen für die sofortige Befriedigung der Elementarbedürfnisse. Sieht so das Paradies aus? Hier ist alles künstlich, die Palmen sind aus Plastik, genau wie der Zitronenbaum in der Ecke, nur die Kalorien in den Speisen sind echt. Das Ganze ist eine perfekte Simulation des Schlaraffenlandes, eine Kopie, fast schon eine Parodie einer Utopie, die ich aber schon jetzt kaum noch vom Original unterscheiden kann.

Vor vielen Jahren bin ich schon einmal in Norwegen gewesen. Die Reisekasse war so knapp bemessen, dass wir uns wochenlang nur von mitgebrachten Nudeln, gekocht in Flusswasser, ernährten. Frisches Obst, Gemüse oder gar ein Restaurantbesuch waren bei den norwegischen Spitzenpreisen nicht drin. Als wir nach einigen Wochen Autofahrt den Hafen von Bergen erreichten, sahen wir, dass hier ein Kreuzfahrtschiff festgemacht hatte. Leider durften wir das Schiff nicht betreten, aber wir lernten auf der Hafenpromenade einige Mitglieder der Besatzung kennen. Als wir von unserer Ernährungssituation erzählten, organisierte uns einer der Schiffsköche einen Teller mit Speisen aus der Bordküche, mit frischem Gemüse und gebratenem Fleisch, und es gab sogar einen Nachtisch, alles mit dem Hinweis, er habe dieses Essen zwar illegal abgezweigt, aber es wäre übrig geblieben und man hätte es sowieso weggeworfen. Ich habe selten eine Mahlzeit so genossen wie diese, und der verschwenderische Umgang mit Nahrungsmitteln auf dem Schiff kam mir unerträglich dekadent vor.

Und jetzt sitze ich mitten drin in diesem Überfluss. Es gibt eine riesige Auswahl an Speisen, ich könnte den ganzen Tag lang eine Leckerei nach der anderen in mich hineinstopfen. Ich muss an die Flüchtlinge denken, die auf kaum seetüchtigen Booten anderswo auf dem Meer treiben, und ich schäme mich, als ich an den Hunger auf der Welt denke. Ich bin satt. Ich könnte etwas abgeben. Sollte man solch eine Verschwendung verbieten? Oder mindestens so hoch besteuern, dass nur noch die reichsten der Reichen sich das leisten können? Das widerspricht nun aber doch meinem Gerechtigkeitssinn. Ich beginne von der Gleichheit aller Menschen zu träumen, mit vollem Magen geht das ganz leicht. Ob wohl irgendein Mensch auf der Welt eine Mahlzeit mehr zu essen bekommt, wenn ich meinen Teller nicht ganz so voll fülle?

In der folgenden Nacht bekommt die perfekte Illusion von Geborgenheit doch noch ein paar hauchfeine Risse: Es wird stürmisch, und die Seekrankheit greift um sich. Das Bett hebt sich rhythmisch um einige Meter, dann stürzt es wieder in das nächste Wellental. Dabei kippt es und dreht sich jedesmal so, dass ich auf der Matratze hin und her rolle und befürchte, irgendwann aus dem Bett zu fallen. Aber zum Glück gibt es Tabletten gegen Seekrankheit, und so geht auch diese Nacht gut zu Ende.

Ihr fragt euch jetzt sicher, ob mir die Kreuzfahrt gefallen hat. Ja, das hat sie, sehr sogar. Die Landgänge waren grandios. Und ich lasse mich sowieso gerne von großen Maschinen behütet durch die Welt tragen. Die schönsten Momente der Reise waren die Sonnenaufgänge am frühen Morgen, oder abends der Vollmond, der sich in den Wellen spiegelte. Und die kulturellen Darbietungen waren wirklich von hoher Qualität, und das Essen war gut. Das Brummen der starken Motoren beruhigt die Nerven, das sanfte Schaukeln wiegt in den Schlaf. Die Freundlichkeit der Crew und der entspannte Umgang der Gäste miteinander beweisen, dass Menschen prinzipiell auch zu einem Leben jenseits von Konkurrenz und Feindseligkeit in der Lage sind, auch wenn sie 27 verschiedenen Nationen angehören. Wir sitzen alle im selben Boot. Eigentlich gibt es für jeden genug von allem. Aber wir vermeiden den Blick nach draußen über die Bordkante, weil wir eigentlich gar nicht wissen wollen, wohin die Reise geht. Wir lenken uns ab und amüsieren uns nach Kräften. Und warum auch nicht? Wer weiß, wie lange das noch gutgeht? Vielleicht sind die Vorräte in der Küche ja doch nicht unbegrenzt. Vielleicht wartet schon ein Eisberg auf uns da vorne im Nebel. Und möglicherweise gibt sie doch, die Unwetter und Wirbelstürme, vielleicht sogar die Seeungeheuer, und irgendwann hat das alles hier ein Ende. Für jeden. Das jedenfalls ist sicher. Und wenn ich schon träumen darf, würde ich jetzt den Unterschied zwischen Personal und Gästen aufheben, denn es ist mir immer äußerst unangenehm, mich bedienen zu lassen. Es sollte ausreichen, wenn jeder Gast einen Tag in der Woche die anderen bedient. Ich würde das gerne tun, und euch würde es auch nicht schaden. Vielleicht würde ich einmal kochen, ein anderes Mal abends auf der Bühne stehen, und vielleicht darf ich sogar eine Zeit lang das Schiff steuern. Und ich bin überzeugt, von einer solchen Regelung würden wir alle profitieren.

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Poet's Gallery Beitrag Oktober 2022

erf

Lesend & schreibend erforscht sie das Leben. Diese Passion mit anderen zu teilen, macht sie glücklich.

 

Letzte Küsse

Sie fuhren durch die Abenddämmerung, von Zeit zu Zeit unterbrochen von ihrem Plappern, das sich wie ein Regenschauer in das Schweigen ergoss. Sie huldigte der vorüberjagenden Landschaft. Die Stimme er­hoben, fester als sonst, um das leichte Zittern zu übertö­nen. Sie gestikulierte übertrieben, mit fahrigen Bewegun­gen, die vorüber rasenden, im Dämmer schimmernden Wiesen wortreich hervorhebend. Angesichts flüchtiger Blickwinkel im spiegelnden Lichteinfall, zwischen Rostrot und Gold changierend, geriet sie ins Schwärmen. Im Ge­ruch der feuchten, bereits herbstlich duftenden Erde woll­te sie aufgehen. Immer höher der Ton, den sie anschlug, in dessen Gefälle sie sich verlor. Schwarz floh ein Wäld­chen vorüber und verschlang gierig und mitleid­los den letzten Tagesrest. Gegenüber der bewegte Himmel mit sich türmenden Wolken, im wechselnden Schein blau­schwarz leuchtend, inszeniert auf dem Hintergrund der mit Gewalt hinab gerissenen Sonne, schwer und dunkel herabstürzender Samt. Versiegte ihr Redestrom, wuchs das Schweigen in dem dahin rasenden Wagen.

Das Schweigen füllte die Welt zwischen ihr und ihm aus, wie die dahin gehenden Tage die Zeit bis zum Rand füllten. Das Schweigen quoll über, wie die rasante Abfolge der Tage, die alles zu überfluten drohten. Es bedrängte und erleichterte sie gleichermaßen. Weil sie der Stille nicht gewachsen war. Weil jede Rede zwischen ihnen verfäng­lich schien und in die Fallstricke der Lüge und falscher Beteuerungen führte. In all dem hatte das gleichförmige Brausen des Motors in seiner Beständigkeit etwas Ver­söhnliches, das ihr vorübergehend dort Halt gewährte, wo sie in Begriff stand hinabzustürzen. Hinabzustürzen in et­was, das sie nicht kannte, von dem sie allenfalls tief in ih­rem Innern ahnte, dass es sich um etwas Unumgängliches handelte. Erste Sterne blinkten auf. Ein Neumond begann sich an dem schwarzen Himmel abzuzeichnen, an dessen nächtlichem Rand sich hie und da ein heller Schein aus­machen ließ. Tag, der sich wie ein hoffnungsvolles Omen an ein Dunkel schmiegte, das ihn verschlingen wür­de. Das Steuer ruhig in der Hand des Fahrers. Sie vermied es, ihn anzusprechen. Einmal legte sie ihre Hand auf sein Knie, was er mit einer zärtlichen Geste erwiderte. Einen Moment lang meinte sie etwas Flehendes in seinen Augen zu erkennen.

Sie wandte sich ab und malte sich weitere Zusammenkünfte mit ihm aus, von denen sie wusste, dass sie nicht stattfinden würden. Ihm zugewandt, tat sie so, als besäßen sie eine gemeinsame Zukunft. Nicht, dass sie log, mangelte es ihr vielmehr an Vorstellungskraft. Wie ohne ihn, ohne seinen Beistand. Unmöglich, den Ge­danken zu Ende zu denken. Fast gleichzeitig fühlte sie et­was, das sie allmählich auszufüllen begann: Das Wissen um ihre Allmacht. Allmacht und Gleichgültigkeit. Weil, wie immer die Dinge lagen, sie tun und lassen konnte, was sie wollte, weil wie immer sie die Dinge wiederum drehte und wendete, diese ihren Lauf nehmen würden. Ratlos fühlte sie die Welt in der Gewissheit an sich vor­über rasen, in ihr nicht Fuß fassen zu können. Stattdessen sprach sie über gemeinsame Pläne, malte sich die gemein­same Zukunft aus, die sie kurzfristig erfand und auf der sie sich vorübergehend niederließ, wie auf einem beque­men Sessel und für diesen einen Augenblick in der siche­ren Gewissheit, sich nie mehr daraus zu erheben. Indessen schien sich das sie umgebende Zeitgefüge zu verwandeln, dergestalt, dass sie begann, sich außerhalb desselben zu bewegen. Sie glitt auf einer Spirale aus der Geradlinigkeit ihrer Tage mitten hinein in ein Jetzt. Nicht-Ort, an dem die Nacht an ihre Grenzen stieß. Zone, aus der Schmerz und Trennung verbannt schienen. Ein Licht umfing sie. Als sie aus dem Fenster sah, be­merkte sie, dass die Nacht zusehends über sie hereinbrach. In ihr ein Schweigen, eine beredte Stille, durchbrochen allenfalls von der schneidenden Sichel des Neumonds, der ohne Aufhebens über die Zeiten hinweg und hindurch an­schwoll und wieder abnahm, ewiges Wechselspiel. Es gab keine Trennung und es war gleich gültig im buchstäbli­chen Sinn, ob sie sich wieder sehen würden. Kein Wort darüber zu verlieren. Jedes eine Falle.

Warum an Wahrheiten rütteln, die sich jenseits irdi­scher Zeitrechnung ausdehnen und wieder zusammenziehen, um in einem fortwährenden Werden in verschiedene Richtungen, Höhen, Tiefen und Weiten auszuströmen. Die Nacht vor ihnen auf der Landstraße. Ein ausgebreite­ter Mantel ihnen zu Füßen, um Schultern gehüllt. Decke, die Wärme spendete, Schutz gewährte, sie bei Bedarf um­hüllte. Ans Licht gezerrt, scheint die Wahrheit unerträg­lich. In das nächtliche Dunkel gehüllt, nimmt sie eine an­dere Gestalt an. Die starren Umrisse der Tage aufgelöst, verlieren ihre Festigkeit, so dass sich die Dinge verwan­deln und in Bewegung geraten; und manches, was am Tag klar scheint, trübt sich im nächtlichen Dunkel. Re­den kann man über alles. Nichts, dem jetzt eine Bedeu­tung zuzumessen gewesen wäre. Ein Jetzt dehnt sich Au­genblick für Augenblick in die Zeit, ohne Bedeutung, oh­ne Ziel – eine Tatsache, die ihr kurzfristig so etwas wie Trost gewährte in ihrem Geplapper, das er mit Schweigen quittierte. Über was hätte man reden sollen, über was schweigen, wenn nicht über die Liebe. Was sonst. Über den Schmerz und die Lust, den Tod, natürlich den Tod. Und Belanglosigkeiten. Ja. Die Bewegung zielt aufs Äu­ßerste. Keine Mitte. Keine Zeit. Ein Raum dazwischen. Das eben Gesagte vergessen, bevor es noch ausgespro­chen. Die Zukunft, übermächtig, frisst den letzten Rest an Zweisamkeit. Ein Schatten, die Nacht, ein letzter Schein in der Dämmerung, der von der jetzt verloschenen Sonne kündet, und Abschied. Abschied, den keiner wahrhaben will.

Über Landstraßen und Dörfer der Wagen zügig da­hin. Vereinzelt eine Formation von Krähen, kurz vor dem Augenblick, in dem die Nacht sie verschluckt. Letzter Abenddämmer. Das Geräusch des Motors, verschmolzen mit dem Rumor der Seelen vor dem letzten Mal. Immer ist immer und nie, das war etwas Anderes, aber einmal ist es das letzte Mal. Davon will keiner wissen und alle Wahrheit ist vergeblich ins Herz gemeißelt, unter Ver­schluss. Kein Übergang außer zur Tagesordnung. Noch bevor der Wagen zum Stehen kommt: der Abschied. Für immer. Sie lässt es sich nicht anmerken. Nur die geweite­ten Pupillen deuten darauf hin, auch er weiß. Die Drama­tik dieses einen Augenblicks, an dem sich die Wege trennen. So viel Zukunft, Pläne, so viel Süße. Mit einem Mal vernich­tet, ohne dass einer von ihnen Anstalten machte, der Zer­störung ihres doch geteilten Glücks Einhalt zu gebieten. Sie steigt aus. Eine Umarmung, ein Kuss. Noch einmal umarmen sie und küssen sich, bevor sie voneinander lassen. Sie winkt ihm zu – er nickt – und verschwindet. Erst später, viel später, wird sie es begreifen. Dergestalt, wie sich die Bedeutung eines Traums mit einem Mal er­schließt zu einem Zeitpunkt, an dem wir ihn vergessen wähnen.

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Poet's Gallery Beitrag September 2022

Marlene Rusgiarto

 

Das Schreiben hat mir immer viel Freude bereitet, sei es in der Schule, im Studium oder im Beruf. Erst die Pandemie hat mich auf die Idee gebracht, mich an meine Biografie zu wagen. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, wie viel Spaß mir diese Arbeit macht. Erf und der Schreibgruppe danke ich für die Ermutigung.

 

Lebensreise

Husum, die graue Stadt am Meer. Unser großer Heimatdichter Theodor Storm hat mir keine positiven Gefühle für diese Stadt vermitteln können. Ich empfinde sie als düster und unfreundlich. Vier Jahre habe ich hier gearbeitet und gewohnt, als Wochenendfahrerin. Vielleicht lag es daran, dass mir die Stadt immer fremd geblieben ist.

Dieser Landstrich steht ohnehin nicht für den lebensfrohen Menschentyp. Das sprichwörtliche Grau besagter Stadt erstreckt sich kilometerweit an der Westküste entlang, ins Festland hinein und manifestiert sich in dem Lebensgefühl der Menschen. Herbst und Winter wehen depressive Schwaden über die Tiefebene, von dem sich die Bewohner im Frühjahr und Sommer kurzzeitig erholen, bevor der Herbst schon wieder seine Schwingen ausbreitet. Aufgewachsen in dieser Gegend, war Schwermut meine ständige Wegbegleiterin.

Ich war ungefähr zehn Jahre alt, als ich wieder einmal beim Öffnen der Haustür die schwer auf mir lastende Stimmung einatmen konnte. Diese Atmosphäre schlug mir auf den Magen. Ich fühlte mich wie gelähmt.

Nach dem Mittagessen schwang ich mich auf mein Rad, fuhr durch die Gegend. Der Fahrtwind sollte mich in eine andere Stimmung versetzen. Auf der Höhe der Gastwirtschaft gegenüber der Schule schwor ich mir, nie mehr unglücklich sein zu wollen. Das wurde zu einem Mantra.

Meine Mutter suchte Zuflucht in der Krankheit. Sie war eine Leidende. Enttäuschungen und Verletzungen hatten sie diesen Weg wählen lassen. Ihre Sehnsüchte nach einer liebevollen Ehe und der Wunsch nach Anerkennung blieben unerfüllt.

Mein Vater kehrte 1947 aus russischer Gefangenschaft zurück, gezeichnet von den Tragödien des Krieges. Für diese Traumata gab es keinen Raum, keine Therapie. Es wurde einfach so weiter gelebt und gearbeitet. Im Februar 1948 fand die Hochzeit statt. Es soll kein schönes Fest gewesen sein. Selbst die Fotos misslangen. Kein gutes Omen für die Ehe.

Vom Zug aus sehe ich jetzt die B 5. Seit dem Tag, an dem ich den Führerschein in den Händen hielt, gehörte sie zum festen Bestandteil meines Bewegungsprofils, auf dem Weg zur Arbeit, zum Einkaufen nach Husum zu C.J. Schmidt, zum Treffen mit Freundinnen und wieder zurück nach Hause.Nun durchfahren wir die Orte Hattstedt, Struckum, Breklum. Dort gab es in den 60ern und Anfang der 70er Jahre an jedem Wochenende große Tanzveranstaltungen für die Jugend der Dörfer. Livebands spielten zum Tanz auf. Es ging sehr traditionell zu. Die jungen Männer forderten die jungen Mädchen, wie das weibliche, unverheiratete Geschlecht damals bezeichnet wurde, auf. So einer Aufforderung musste gefolgt werden, sie abzulehnen, war nicht statthaft. Darauf konnte ein Saalverweis stehen.

Ich mochte diese Veranstaltungen. Meine Freundinnen und ich putzten uns heraus, kleideten, schminkten und frisierten uns nach der neuesten Mode. Auch die jungen Männer machten sich fein. Alle trugen Anzug und Krawatte. Es wurden klassische Tänze wie Foxtrott und Walzer getanzt. Moderne wie Jive und Rock'n Roll hatten es schwer, sich durchzusetzen. In den 70ern verdrängten die Diskos diese Tanzveranstaltungen und das Sterben der Landgasthöfe mit ihren großen Sälen nahm seinen Lauf.

Mit den Discos wurden größtenteils die Paartänze abgeschafft und die jungen Frauen mussten nicht mehr darauf warten, zum Tanzen aufgefordert zu werden. Sie gingen einfach auf die Tanzfläche und bewegten sich nach Lust und Laune ohne Partner zur Musik. Das war eine große Erleichterung und ein erster Schritt in Richtung Emanzipation.

Nun passieren wir Strukum. Hier verbrachte mein Vater nach einer Chemotherapie einige Wochen in der Reha.

Die fand in einem Altenheim statt. Mein Vater hat dieses Heim verabscheut. Voller alter, kranker Menschen, die keine Ansprüche mehr stellten, nur noch den Tod zu erwarten hatten. Von Hamburg aus habe ich meinen Vater dort an den Wochenenden besucht. Ich fuhr bis Bredstedt und ging zu Fuß entlang der B 5 zum Altenheim. Diese Nachmittage habe ich sehr gemocht.

Zum Zeichen seiner Autonomie ließ mein Vater sich sein Auto vor das Krankenzimmerfenster stellen. Nach Beendigung der Reha setzte er sich selbstbewusst hinter das Steuer und entfloh mit lautem Motor der Diktatur des Altenheims. Er war damals 80 Jahre alt. Noch einmal erlebte ich ihn als Kämpfer. Niemals aufgeben, auch wenn es noch so finster aussieht. Das war sein Motto, selbst ein Jahr vor seinem Tod.

Das letzte Lebensjahr verbrachte er ganz selbständig in seiner Wohnung. Trotz gesundheitlicher Einschränkungen war dieses Jahr eine gute Zeit. Er bewies sich und anderen, dass er selbst in dieser Situation unabhängig leben konnte. Nach dem Frühstück fuhr er mit dem Auto durch die Dörfer, schaute bei Freunden und Verwandten vorbei und freute sich auf die Besuche aus Hamburg.

Nach dem Tod meiner Mutter fünf Jahre zuvor entdeckte mein Vater das Kochen für sich. Er liebte es, alte Gerichte aus seiner Kindheit nachzukochen. Wenn der Besuch aus Hamburg am Wochenende eintraf, wurden viele Lieblingsgerichte aufgetischt. Die Vorratskammer und der Kühlschrank waren übervoll. Er hat es so genossen, für sich und uns zu kochen. Als er starb, fanden wir zwei Tiefkühltruhen vollgefüllt mit den Ergebnissen seiner Kochkunst vor. Es war ein intensives Abschiedsjahr. Wir sind uns sehr nahe gekommen, ohne Gefühle zu verbalisieren. Er war eben bis zum Schluss ein wortkarger, norddeutscher Bauer. Ein Mann des Handelns, nicht des Redens.

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Poet's Gallery Beitrag August 2022

Miriam Albers

Mein Name ist Miriam Albers. Seit gut einem Jahr hat das Schreiben nach langer Abstinenz wieder einen festen Platz in meinem Leben. 

Dank der Offenen Schreibgruppe von Erf und Hartmut erkunde ich die Welt der Literatur, meine und die anderer. 

Hier einen Text von mir unter meinem Klarnamen zu zeigen, bedeutet mir sehr viel. Es kostet Überwindung und bringt doch so viel Freude!

 

Der Wendepunkt 

 

„…Halb zog es sie, halb sank sie …“ Wie lautet der Satz noch gleich? 

 Felicitas sank an der Altbauwand des hohen Hauses entlang, bis sie auf einer kleinen dunkelbraunen, rauen Bank, mehr Vorsprung, im Treppenhaus zum Sitzen kam. 

 Es soll an dieser Stelle keine Rolle spielen, woher sie kommt; wohin sie will, liegt im Dunkel.

 Das Entscheidende ist, was Feli, wie man sie bis hierher genannt hatte, zieht.

 Es war so unendlich lange eine fremde Lok gewesen. In atemberaubendem Tempo war sie mit ihr durchs Leben gerast. Und wenn sich Feli vor Übelkeit und Rausch Ihres Inneren entledigte, hatten die Mitfahrer entsetzt zu ihr hinübergeblickt.

 „Wieso genießt sie denn nicht?“ „Warum macht sie das?“ „Was hat sie denn?“ 

 Wieder und wieder hatte sie sich den Mund getrocknet, den Blick aus dem stumpfen Fenster gewandt, den Rücken gestreckt und sich der Raserei übergeben.

     Das, was Feli zu einem ganz bestimmten, ihr auf ewig unvergesslichen Zeitpunkt hatte innehalten lassen, was die Kraft gehabt hatte, der Raserei etwas entgegenzusetzen, war das Aneinanderreihen von Worten gewesen. Mitten in voller Fahrt hatte Feli begonnen, Wörter, die dem Nichts entstammten, aneinander zu binden.

Und als sie diese, zu Atem kommend, las, ergaben sie einen Sinn.

 Wunderhaft von fremder Hand begann Felicitas, sich die eigene Welt zu erschließen.

 Als hätte ihr Unbewusstes ihr eine Sprache zugespielt, die lesbar geworden war. 

 Etwas, das man liest, ist so viel einfacher zu begreifen, als die Flüchtigkeit von gefühlten Gedanken, gedachten Gefühlen oder schlimmer noch: die Gedanken anderer über die eigenen Gedanken und Gefühle.

 Und in dem Maß, wie  Felicitas begann, die Worte zu hören, die in ihrem Innersten erklangen, verlor die fremde Lok zunehmend an Bedeutung. 

 Sie zog nicht mehr. Sie raste nicht mehr. Überwältigte sie nicht mehr.

 In der Sekunde, als sie auf die kleine Bank sank, gezogen allein von ihrer inneren Schwere, glitt Feli auf ihren Boden, fand Halt, erhob sich über sie, wendete sich von Außen nach Innen. 

 Von einem Spotlight erhellt, sah Felicitas in sich hinein, gewann ein Gefühl dafür, wohin es für sie gehen würde. Wendepunkt, ab dem für alle Zeiten unvorstellbar sein wird, dass diese Klarheit jemals nicht präsent gewesen wäre. 

 Was war passiert, bevor sie auf die Bank sank?

Sie hatte lang genug geschrieben ...

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Poet's Gallery Beitrag Juli 2022

Petra Thelen

Ich lebe schon seit vielen Jahren als Musikerin mit eigener Saxophonschule in Hamburg an der Elbe, kommend von Trier an der Mosel. Ich liebe Musik und Worte. Ich höre Musik, musiziere, lese und schreibe gerne. Ich schätze sehr die Verbindung zwischen den Künsten, denn sie gleichen und ergänzen sich. In jüngster Zeit habe ich begonnen, mich dem autobiographischen Schreiben zuzuwenden. Meine Ausbildung zur Autorin habe ich u.a. bei "schreibfertig – Kleinefeine Schreibschule für Jung & Alt" mit erf und Hartmut genossen. Das gemeinsame Schreiben dort ist unglaublich inspirierend.

Morgen soll es losgehen

Liebe Ana,

morgen soll es losgehen. Mama und ich haben alles gepackt. In drei Koffer. Mehr passen nicht in den Kofferraum. Mama kam gestern ins Zimmer und sagte uns, dass wir nach Deutschland fahren würden. Schon heute Nacht. Wir schaffen es hier nicht mehr. Merkwürdig sah sie aus. Genau wie Papa hatte sie tiefe Ringe unter den Augen und ihre Augenlieder zitterten leicht. Ich war natürlich total traurig. Mama kam zu mir und setzte sich mit mir auf die Couch. Sie sagte gar nichts mehr, wir weinten einfach nur. Ich weiß, dass Mama mir ihre Angst nicht zeigen wollte, sie will und muss ja mit Papa zusammen die Starke sein, aber glaube mir, ich habe gespürt, wie sie gezittert hat. Erst als Papa ins Zimmer kam und den Arm um uns legte, konnten wir uns etwas beruhigen. Liebe Ana, es ist alles so schrecklich.

Ich habe gestern am Fenster gestanden und gesehen, wie drüben in der Turnhalle, Du weißt schon, da wo Daniil zur Schule geht, Feuer aus dem Fenster kam. Die Fenster sind mit einem Wahnsinnsknall zerberstet, ich habe mich so erschrocken. Daniil sagte, das Feuer könne nicht so schnell in unsere Wohnung kommen. Stell Dir vor, die Hitze ist bis zu unserer Wohnung vorgedrungen. Die Scheibe war ganz heiß. Ich konnte meine Hände daran wärmen. Das war schön. Aber Ana, das Schlimme ist, dass wir uns jetzt gar nicht mehr sehen können. Noch nicht einmal im Keller, wo  es immer so laut und stickig war.  Und es hat so stark nach Müll gerochen, das kam von den Mülleimern, die dort unten stehen . Aber immerhin konnten wir uns sehen.  Du bist doch meine allerbeste und allerliebste Freundin. Wie das wohl werden wird, wenn wir auf der Reise sind? Hoffentlich haben wir genug zu essen und zu trinken. Papa hat uns vorbereitet, dass wir sehr lange fahren würden, aber dass wir in Deutschland sicherer seien. Er hat in den letzten Tagen ganz viel telefoniert, ich habe es immer durch die Tür gehört, obwohl er ganz leise gesprochen hat. Ich werde den Brief Alina mitgeben, ich darf heute Abend nicht mehr raus. Papa sagt, es sei zu gefährlich. Dabei sind es doch nur ein paar Minuten zu Dir. Ich habe mir überlegt, dass ich Dir mein himmelblaues Armband schenken will, als Andenken. Ich lege es in den Briefumschlag mit rein. Ich werde nochmal mit Papa reden, wenn er mitkommt, vielleicht geht das, dann gebe ich Dir selbst den Brief. Ich muss Dich unbedingt nochmal sehen. Und wir können uns umarmen. Ana, wir werden nicht zurückkommen. Papa sagt, wir werden uns jetzt ein neues Leben in Deutschland aufbauen. Dass alles zerstört wäre, wenn wir zurückkommen würden. Und weißt Du schon, dass unser neues Kulturzentrum zerbombt ist? Ich hab`s gesehen per Video. Wir waren doch vor ein paar Wochen noch da und haben getanzt. Das war so schön, mit Dir zusammen zu tanzen. Mein Tanzkleid kann ich leider nicht mitnehmen, ich hatte es doch im Kulturzentrum für die nächste Aufführung gelassen.

Liebste Ana, ich bin auch sehr aufgeregt. Ich bin den ganzen Tag, außer wenn ich Mama beim Koffer packen geholfen habe, durch unsere Wohnung getigert. Ich wollte mir alles ganz genau einprägen. Damit ich es nicht vergesse. Ich war ganz oft in Marias Zimmer. Mama hatte das Bettchen schon abgebaut, denn das wollen wir auf jeden Fall mitnehmen. Maria muss doch irgendwo schlafen. Sie ist doch noch so klein. Sie kann doch nicht auf einer Couch schlafen. Wir schon. Dort lagen an der Seite ihre ganzen Kuscheltiere. Mama sagte, dass wir jeder nur ein Kuscheltier mitnehmen dürften. Daniil hat seinen ausgerupften Löwen zum Einpacken hingelegt. Den hat er solange nicht mehr mit ins Bett genommen. Aber gestern Abend habe ich gesehen, durch die Türe, dass er seine Schnauze ganz zärtlich gestreichelt hat und ihm so wie ganz früher ein paar kleine Haare aus dem Fell gezupft hat. Weißt Du noch, ich hatte Dir den Löwen mal gezeigt, weil sein Kopf schon ganz kahl war. Daniil hat doch immer Daumen gelutscht und dann den Löwen an seine Nase gehalten. Und wir haben uns amüsiert. Mama hat ihn in die große Tasche gesteckt[. Maria muss ihre Kuschisammlung hier lassen, Du weißt ja, sie hatte über 50 Kuschis.

Ich habe viele Bilder von uns und der Tanztruppe eingepackt. Das hat Mama erlaubt. Sie nehmen ja keinen Platz weg, ich habe sie zwischen meine zwei Pullover gesteckt. Meinst Du, dass so etwas zu einem Neuanfang, wie Papa sagt, gehört, dass man nichts mehr oder nur wenig von seinem alten Leben zurückbehalten hat? Ich hoffe nicht. Denn ich will weiter tanzen. Und unsere Freundschaft wird doch alles überstehen. Oder Ana? Ich bin mir sicher. Die Kleider, die ich hier lassen muss, sind mir egal. Wir dürfen auch jeder nur ein paar Schuhe mitnehmen und Papa hat für uns alle Hausschuhe gekauft. Wir fahren nach Hamburg, hat Mama gesagt. Was meinst Du, sind die Mädchen dort anders als hier?  Ich habe mal gegoogelt. Hamburg ist eine riesengroße Stadt. Stell Dir vor, dort gibt es auch Wasser. Es ist wie Mariupol eine Hafenstadt, mit großen und bunten Container Schiffen. Es gibt dort auch einen Strand. So ähnlich wie unser Mariupol`skiy Plyzah. Da werden wir bestimmt hingehen. Und es gibt einen riesigen See, mitten in der Stadt, darauf segeln Leute im Sommer.. Wir wissen gar nicht, wo wir hinkommen. Aber Papa hat eine Bekannte, die spricht russisch, die will uns helfen. Morgen müssen wir erst Mal hier rauskommen. Papa sagt, es ist ganz gefährlich und wir müssen sehr aufpassen, weil auch dort, wo man eigentlich fahren darf, Minen sind. Stell Dir mal vor Ana, wir fahren auf solch eine Mine, ich habe schreckliche Angst davor. Ich habe ganz langsam geatmet, als ich daran dachte. So wie es die Tanzlehrerin uns gezeigt hat. Sie hat doch bei der letzten Aufführung, als wir so starkes Lampenfieber hatten, weil es doch die erste Aufführung in dem neuen Zentrum war und so viele wichtige Leute gekommen sind, gesagt, wenn Du schreckliche Angst bekommst, setz` Dich hin und atme nur. Aber Ana, wir gehen auf die Flucht, das ist was ganz anderes. Das ist keine Tanzaufführung, in der wir Angst haben, weil wir ein paar falsche Schritte machen und alle es merken könnten und wir uns dann fürchterlich schämen müssten. Ana, es ist doch kein Spiel. So wie wir es früher gespielt haben. Weißt Du noch, als Putin in die Krim einmarschiert ist, da haben wir doch Krieg gespielt, da waren wir erst sieben. Es geht doch um Leben und Tod, wenn Papa auf eine Mine kommt … Ach liebste Ana, ich will mir das gar nicht ausmalen. Weißt Du, wir fahren ja alle zusammen, nur Oma will nicht mitkommen. Wir hätten einen Koffer hiergelassen, dann wäre auch noch Platz für sie gewesen, aber Oma wollte nicht mitkommen. Sie hat gesagt, Putin ist schon so lange in der Krim, wir haben doch schon so lange Krieg, ich bleibe hier, es ist meine Heimat. Sie hat mir übers Haar gestrichen, als sie das sagte. Sie hat mich angelächelt und mich ganz lange angeschaut. Ich habe mich so geborgen und sicher gefühlt. Ich werde Oma so vermissen. Ana, ich muss jetzt aufhören, Mama ruft, ich solle ihr helfen. Aber eine Sache will ich Dir noch erzählen. Wir lachen trotzdem ganz viel. Auch wenn alles so schlimm ist, Mama und Papa bringen uns immer zum Lachen. Und Maria, stell Dir vor, so klein sie ist, sie strahlt uns alle immer an. Und Daniel ist ganz vernarrt in sie. Wenn wir lachen, dann denke ich, ach wir schaffen das schon. Das gibt mir jedes Mal Kraft. Dieses schöne Gefühl kann mir hoffentlich niemand nehmen. Und Ana, wir werden auch wieder miteinander lachen.

Wir werden bestimmt viele Tage nicht chatten können, weil wir doch im Auto sitzen. Aber wenn wir in Deutschland sind Ana, dann melde ich mich sofort. Pass auf Dich auf Ana und trage das hellblaue Band, so sind wir verbunden. Ich schaffe es bestimmt, Papa zu überreden noch zu Dir zu kommen. So kann und will ich nicht wegfahren. Ich muss Dich nochmal drücken.

 

In Liebe und tiefer Freundschaft Deine Yulia

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Poet's Gallery Beitrag Juni 2022

Ulrike Litschel

 

 

Ich bin Ulrike Litschel, seit einem Jahr im Ruhestand und entdecke grade, dass das Schreiben Freude machen kann und nicht nur zielgerichtete Arbeit ist. Mal sehen, wohin es mich führt

 

 

Skifahren

Ich erinnere mich, wie ich als Kind auf einem kleinen Hügel in unserem Dorf zum ersten Mal auf Skiern stand. Diese Skier hatte ich in unserem Keller gefunden. Sie waren ziemlich alt. Aus der Zeit vor dem 2. Weltkrieg schätze ich. Die Farbe platze ab und die Bindung war schon damals, Anfang der sechziger Jahre, vorsintflutlich.

Unermüdlich fuhr ich diesen Hügel hinunter, stürzte, stand auf und versuchte es wieder und wieder. Wenn ich abends nachhause kam weinte ich vor Schmerzen, wegen meiner gefroren Füße. Meine Mutter rieb sie zwischen ihren Händen warm. Aber auch das half nicht gegen die juckenden Frostbeulen, die ich in diesem kalten Winter bekam.

Irgendwann waren die Skier aus meinem Blickfeld verschwunden. Ich erinnere mich nicht was mit ihnen geschah, nur, dass damit meine erste Skikarriere endete.

Mit zwanzig fuhr ich mit einer Studentenorganisation ins Montafon. Ich wollte Skifahren lernen. Die nötige Ausrüstung hatte ich mir von einer Freundin geliehen. Die Ski waren alt, hölzern und sehr lang, aber damals schien mir das kein Hindernis zu sein. Auch dass die Skihose altmodisch war, störte mich nicht.

Aber auf der Piste angekommen, entsetzte mich die Herausforderung des Skifahrens                                   

Ich sehe mich noch oben auf einem Hang stehen und hören, wie unser Skilehrer uns auffordert, ihm in den Abgrund zu folgen. Dieser Hang war so steil, dass man selbst beim Hinunterklettern mit Bergschuhen hätte abstürzen müssen. Und da sollte ich runter? Mich schwindelte

Doch ich beugte mich der Autorität des Skilehrers und fuhr, wie mir geheißen schräg in den Hang hinein. Im Ohr die ständige Aufforderung, nur ja immer den Talski zu belasten und mich damit gegen alle Vernunft dem Abgrund zuzuneigen.

Das Ende kam als ich wenden musste. Zu diesem Zweck zeigen die Skispitzen einen unvermeidlichen Augenblick, eine Nanosekunde in den Abgrund. Ich stürzte in den Schnee, die alte Skibekleidung bot keinen Rutschschutz und mitsamt den Skiern, die an meinen Fußgelenken festgebunden waren, rutschte ich den langen, steilen Hügel unaufhaltsam hinab.

Damit endete meine Skikarriere . Nie mehr würde ich mich diesem Albtraum aussetzen. Ich lieferte die Skiausrüstung bei meiner Freundin ab. Und das wars.

Als ich ungefähr 50 Jahre alt war, pflegte ich zwei Freundinnen zu beschimpfen, die jedes Jahr zum Skifahren in den Süden fuhren. Für mich war der Wintersport vor allem eine große Umweltzerstörung und Geldschneiderei.

Irgendwann luden sie mich ein, sie in die slowenischen Berge begleiten. Ich könne einer anderen Mitreisenden, die auch nicht Skifahren konnte, Gesellschaft leisten. Wir beide Skiverächterinnen nahmen uns vor, täglich zu Wandern und vielleicht auch Schlitten zu fahren

Aber es blieb in diesem Urlaub nicht beim Schlittenfahren. Plötzlich reizte es mich, es nach drei Jahrzehnten doch noch einmal versuchen. Nur kurze Zeit auf den Skiern stehen, um mir hinterher nicht vorzuwerfen, ich wäre feige gewesen.

Seither bin ich dem Skifahren verfallen.

In den nächsten Jahren fuhr ich in jedem März mit den Freundinnen in den Wintersport nach Italien, Österreich oder Frankreich. Egal wohin, Hauptsache Schnee, blauer Himmel und Berge.

Ich fuhr sanfte Hügel hinab und stürzte. Mutiger geworden traute ich mich dann an die steileren Abhänge und stürzte wieder und wieder - und stürze auch heute noch.

Es machte mir nichts aus.

Ich fahre schön langsam die Abhänge hinunter und werde dauernd von besseren und guten Skifahrern und sogar Kindern überholt.

Aber das ist mir egal

Wenn ich beim Skiverleih gefragt werde, welche Art von Skiern ich haben möchte, sage ich immer: Die für Anfänger. Ich bin seit 17 Jahren Anfängerin und werde es auch immer bleiben.

Aber das macht nichts. Ich liebe es einfach.

Meine Freundinnen fahren nicht mehr mit. Sie halten sich für zu alt und haben Angst vor Verletzungen. Ich halte das für einen Vorwand und sage ihnen, sie sollten sich nicht so widerstandslos in ihr Alter einrichten, aber sie weigern sich hartnäckig.

Also fahre ich allein.

Natürlich war es mit der kleinen Gruppe schöner. Aber der Schnee, der Himmel und die Pisten sind immer noch wunderbar und das Hochgefühl, wenn ich einen steilen Abhang geschafft habe.
Und morgen gehe ich wieder auf den Berg und ziehe langsam und in weiten B
ögen die Piste hinunter. Vielleicht werde ich auch stürzen.

 Aber das gehört ja dazu.

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Poet's Gallery Beitrag Mai 2022

Jutta Gritti

 

Jutta Gritti - interessiert an allem, was auf die Bühne, an die Wand oder zwischen zwei Buchdeckel passt. Durch Corona wurden viele Pläne der Rentenzeit ausgebremst, der Spaß am Schreiben, an der kleinen Form, an der Sprache an sich kehrte schließlich zurück. Wenn die Bilder den Weg von meinem Kopf über das Papier in die Köpfe der Lesenden finden, umso besser… 

 

Die Burg

 

Die Burg, oder das, was von ihr noch übrig geblieben war, lag stoisch und von Besucherscharen verschont im warmen Abendlicht, hoch über dem tosenden Atlantik, nah an der Abbruchkante des Steilufers. Man konnte sich vorstellen, warum sie hier einst errichtet worden war: als Bollwerk, das Wind, Wetter und Invasoren trotzen sollte, die in Jahrhunderten immer wieder vergeblich versucht hatten, die Insel zu erobern.

Es musste ein fantastischer Ausblick von oben sein und es war klar, sie würden hinaufgehen. Der kleine handgeschriebene Hinweis am Eingang wies auf das Schließen der Anlage bei Dämmerung hin. „Ach Gott ja“, meinte Nanna, „eine Stunde würde ja wohl reichen, so viel scheint ja an der Burg gar nicht mehr zu besichtigen zu sein.“ Jakob trottete hinter ihr zur Burg hinauf.

Der Weg war länger als gedacht, ein ausgetretener Trampelpfad. Sie stapften und stolperten wortlos mal neben-, mal hintereinander her wie auch sonst oft in ihrem Leben - Jakob und Nanna, beste Freunde, aber kein Paar. Jakob und Nanna waren wie Bruder und Schwester, die sie nie gehabt hatten. Sie kletterten über kleine Felsplatten, rutschten auf lockeren Steinchen aus und erreichten schließlich, von der unerwarteten Anstrengung außer Atem, die Burganlage.

Sie bückten sich, um durch das niedrige steinerne Eingangstor in die Burgreste zu gelangen - die befürchteten Invasoren von damals schienen kleiner gewesen zu sein als die Touristen von heute. Die Ausmaße eines einstmals riesigen Saales schüchterten sie augenblicklich ein. Sie fühlten sich angesichts der Größe des einstigen Rittersaals klein und unbedeutend und gleichzeitig frei, die Jahrhunderte hatten an der Burganlage genagt und die Decke des Saales und die Obergeschosse zerstört. Der Himmel über ihnen gab ihnen die freie Luft zum Atmen. Sie stellten sich vor, wie die Untertanen hier einem Fürsten oder einem König kniend gehuldigt hatten.

Der Zahn der Zeit hatte der Burg den furchteinflößenden Eindruck genommen, aber die faszinierende Aussicht war ihr nicht zu nehmen gewesen.

Sie näherten sich beide respektvoll der ungesicherten – und wie ihm schien – bröckeligen Kante, die über dem Meer zu schweben schien und waren stumm vor Bewunderung… sie konnten hören, wie tief unter ihnen das Meer tobte, wie es an die Felsen klatschte und der Höllenlärm machte jedes Gespräch unmöglich.

Es war nicht möglich, sich dem Zauber dieses Ortes zu entziehen und so legte sich Nanna gerade so weit an den Rand, dass die Kamera am ausgestreckten Arm die Naturgewalt gefühlte 100 Meter tiefer fotografieren konnte. Die Szenerie übte einen so gewaltigen Reiz auf sie aus, dass sie noch näher an die Kante robbte und nun sogar die Wasserwirbel mit eigenen Augen, nicht nur mit dem Auge der Kamera sehen konnte.

Jakob blieb fast das Herz stehen. Nanna wollte doch wohl nicht allen Ernstes da liegen bleiben? Ein weiteres Teil der Kante könnte abbrechen, sie könnte jeden Augenblick das Gleichgewicht verlieren, eine Böe des hier immer stärker werdenden Windes könnte sie erfassen, die Kamera könnte ihr aus der Hand gerissen werden und sie könnte reflexartig versuchen, sie noch zu greifen. Jakob brüllte gegen das Brausen, Nanna möge zurückrobben, man könne doch auch von hier ganz schön sehen. Schließlich schrie er, er würde jetzt gehen, er könne das nicht mehr mit ansehen, wie Nanna jetzt gleich abstürzen würde. Jakob war klar, dass eine solche Drohung Nanna nicht beeindrucken würde, falls sie sie überhaupt gehört hatte. Er war sich ja bewusst, dass Nanna die mutigere und er selbst der ängstlichere oder vorsichtigere war. Und eigentlich wollte er sie doch nur beschützen.

Seine Gedanken wirbelten in seinem Kopf herum, während er sich abwandte, weil er die Anspannung nicht mehr aushielt, bis Nanna in seiner Vorstellung jetzt gleich ganz bestimmt herunterfallen würde. Wenn er nicht hinsehen würde, würde es vielleicht nicht passieren. Und wenn doch? Er sah in seiner Phantasie Nanna hinunterstürzen bei dem Versuch, die herabfallende Kamera zu fassen, er hielt sich die Hände vors Gesicht, wie bei einem entsetzlichen Film, bei dem man die schrecklichste Szene auch nur hinter vorgehaltener Hand ertragen konnte, um sich Nanna in der nächsten Szene unten auf einem Felsen liegend vorzustellen. In Jakobs Kopf raste der eingebildete Film: vielleicht hätte Nanna den Sturz überlebt, - das Schlimmste konnte er sich nun doch nicht vorstellen - man müsste die Küstenwacht alarmieren, ein Arzt müsste ihr helfen, ihrer Mutter, ihrem Vater müsste erklärt werden, was ihrem einzigen Kind passiert war, sie müsste nach Deutschland in ein Krankenhaus gebracht werden. All diese schrecklichen Phantasien rasten ungebremst in seinem Kopf herum, so real als wenn er tatsächlich Zeuge eines entsetzlichen Unfalls geworden wäre. Tränen stiegen ihm in die Augen und rannen über die Wangen.

Plötzlich erinnerte er sich an den Zen-Meister, der geschrieben hatte: Der Unterschied zwischen Dir und mir - wenn ich sitze, sitze ich, wenn ich stehe, stehe ich, wenn ich gehe, gehe ich. Wenn Du aber sitzt, dann stehst Du schon, wenn Du stehst, dann läufst  Du schon, wenn Du läufst, dann bist Du schon am Ziel.

Hinter sich hörte er Nannas fröhliche Stimme, die so begeistert klang: „Das musst du sehen, das ist unglaublich, einmalig, die Gewalt der Natur, die Gischt, die Felsen, die Möwen und wir hier oben, schau dir die Fotos an!“ Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu schwärmen und wollte Jakob die zahllosen Bilder zeigen, die so ganz anders waren, als die, die er sich vor wenigen Augenblicken noch zusammenphantasiert hatte. Sie stand ganz nah bei ihm und wischte die Fotos auf der Kamera weiter und weiter. Jakob konnte die Begeisterung seiner besten Freundin noch gar nicht teilen.

„Hast du geweint?“

„Nein, der Wind treibt einem hier ja die Tränen in die Augen“. Jakob wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.

Nannas Begeisterung holte Jakob in die Wirklichkeit zurück und die Freundin hopste geradezu beschwingt den Weg hinunter. Jakob blieb nachdenklich hinter ihr.

 

Die alte Frau wollte gerade das Tor zur Anlage schließen und bedeutete ihnen, dass sie nun nicht mehr lange auf sie gewartet hätte. Sie waren die Letzten, die die Anlage verließen.

„Mann, Jakob, deine Bedenken, dass wir heute die Nacht hier verbringen müssten, waren wie immer vollkommen überflüssig.“

Stimmt, dachte er, und nicht nur die. Aber es war knapp.

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Poet's Gallery Beitrag April 2022

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Ursula Mommsen

 

Ursula Mommsen, Jahrgang 1950, studierte Politikwissenschaft und arbeitete nach ihrem Diplom mehrere Jahrzehnte im Medienbereich. Sie schrieb eigene Texte und redigierte andere. Privat führt sie Tagebuch, um zu beschreiben, zu analysieren und besser zu verstehen, was mit ihr und um sie herum geschieht. Gegenwärtig probiert sie neue Formate des Schreibens aus. Dazu nimmt sie auch an der Schreibwerkstatt des Haus im Park in Kooperation mit der VHS teil. Die Vielfalt der Art der Beiträge und ihrer Themen sowie konstruktives Feedback sind sehr inspirierend, findet sie. Ursula Mommsen hat zwei Kinder.

 

Über Identität

Eine aktuelle Ausstellung. Fotos, vor allem in schwarz und weiß, aber auch Videos. Die Fotografin stammt aus Südafrika. Sie fotografiert Schwarze Menschen, Schwarze Menschen aus der Queer-Szene. Sie waren und sind doppelt unterdrückt, als Schwarze von Weißen sowie als Schwule, Lesben, Bisexuelle oder Transsexuelle von Weißen und Schwarzen. Ihre Suche nach ihrer Identität und ihr Kampf für deren Anerkennung in der Gesellschaft dokumentiert die Künstlerin Zanele Muholi mit ihrer Arbeit. Muholis Modelle stehen bewusst dafür ein, sich ihr Schwarzsein zurückerobern und ihre sexuelle Orientierung und ihre Liebe offen leben zu wollen.

 

Identität. Sie basiert auf Unterscheidung und Abgrenzung. Doch das ist nicht normfrei und neutral, sondern gründet auf Werten, auf Bewertung. Gut oder Böse, Richtig oder Falsch, Wertvoll oder Wertlos, Schön oder Hässlich. Und das wiederum hat sich über Jahrhunderte in der Weltgesellschaft entwickelt, befördert von Interessen und Macht. Heute wird die Frage nach der Identität - global gesehen - vor allem von Menschen thematisiert, die lange Zeit ausgrenzt waren und immer noch sind.

 

Der Roman „Identitti“ von Mithu Sanyal beschreibt die Konfliktlinien heute in Deutschland. Maßstab für bestehende Ausgrenzung und damit dafür, Zugehörigkeit zu verweigern, ist demnach das Aussehen: vor allem die Farbe von Haut und Haaren. Die 1971 in Düsseldorf geborene Kulturwissenschaftlerin und Autorin, deren Eltern aus Indien stammen, schöpft aus eigener Erfahrung. Sie setzt das Leben von People Of Colour in der deutsche Mehrheitsgesellschaft mit witzig schrägem Blick und mit modernen Stilmitteln wie hashtags* in Szene.

Auf der Suche nach Identität. Ist das auch ein Problem für eine Weiße Frau, im reichen Norden der Erde geboren, heterosexuell, mit einer Hautfarbe, die der der Mehrheitsgesellschaft gleicht? Eine Weiße Frau kann sich konfrontiert sehen mit diesem abstrakten Begriff, weil andere Menschen sich diese Frage stellen - und zwar nicht nur im privaten Kreis, sondern im öffentlichen Raum. Damit rütteln sie zugleich an den maßgeblichen Vorstellungen der herrschenden Gesellschaftsordnung. Überdeutlich steht fest: Unsere Narrative sind veraltet.

So ruft auch der Mythos von der Schöpfungsgeschichte in der Bibel nach einer Neuauflage. Seit langem schon wird gemunkelt, dass nicht Eva sondern Lilith die erste Frau von Adam war. Und die Wissenschaft weiß inzwischen, dass es Menschen gibt, die ausgeprägte weibliche und männliche Sexualorgane haben, also nicht eindeutig Junge oder Mädchen sind. Und dass es Menschen gibt, die sich als das Geschlecht fühlen, das anders ist als das, was sie dem äußeren Anschein nach haben. Gott schuf demnach also nicht nur Mann und Frau, sondern auch Zwitter und transsexuelle Individuen. Weil sie EINEN Apfel vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, verwies Gott Adam und Eva des Paradieses. Vielleicht müssen wir ALLE Früchte des Baumes der Erkenntnis essen, damit wir wieder das Paradies betreten dürfen: Durch Erkenntnis Vorurteile überwinden und in Respekt vor jedem Lebewesen auf dieser Erde zusammenleben lernen.

 

Ein Elend der Identität kommt vom Vergleichen, auch vom Vergleichen mit Normvorstellungen. Dazu zählt auch die Frage: Bin ich schön? So heißt ein Film von Doris Dörrie. Bin ich gut genug? Gilt meine Meinung etwas? Wenn dieser Zweifel im Hintergrund den Klang eines Lebens bestimmt, auch den eines Menschen der Mehrheitsgesellschaft, stimmt etwas nicht. Ein Dämon, der die Leichtigkeit des Seins verdirbt und sein Opfer ständig zu besonderen Anstrengungen nötigt. Woher kommt diese innere Stimme, die nicht verstummen will - vielleicht trotz Aktivitäten und Erfolge im Außen?

Obwohl auch in Flora und Fauna große Unterschiede bestehen, scheint es bei den Geschöpfen in diesen Bereichen kein Problem mit der Identität zu geben. Eine Eiche fragt sich wohl nicht, ob sie genau so schön ist wie die Rotbuche nebenan? Und ein Goldfisch vergleicht sich sicher nicht mit einem Wal. Auch der Apfel möchte keine Birne sein. Nehme ich mal einfach so an. Warum ist das bei den Menschen anders? Spiegelt der Selbstzweifel nur ein fremdes Augenpaar wider, das uns früher eher lieblos, vergleichend, kritisch angeschaut hat? Ist es verinnerlichte Fremdabwertung der herrschenden Eliten, wie es manche Autoren als Folge der massiven, jahrhundertelangen Kolonialisierung beschreiben?

Verlässt man die Ebene der Identität, die mit sozialen und gesellschaftlichen Aspekten sowie  Gruppen verbunden ist und begibt sich auf die rein persönliche Ebene, ist die individuelle Identität an bestimmten Körpermerkmalen festzumachen. Ein Staat stellt die Identität einer Person fest, indem er deren Fingerabdruck oder die Iris kontrolliert. Einzigartig beschaffen bei jedem Menschen und damit eindeutig und unverwechselbar zuzuordnen.

Letztlich gibt es damit so viele Identitäten wie es Menschen gibt, und das sind derzeit rund acht Milliarden. Acht Milliarden Individuen gleichzeitig und jedes davon ist einzigartig. Damit gibt es im Prinzip gar keine Norm, sondern nur Singularitäten, die aber das genau gemeinsam haben: Jede Einheit ist ein Unikat und unterscheidet sich damit von jeder anderen. Das aber wiederum ist kein Tatbestand, der nur auf Menschen zutrifft. So gleicht zum Beispiel keine Schneeflocke der anderen, jede ist einzigartig in ihrer kristallinen Struktur.

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Poet's Gallery Beitrag März 2022

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Peri Ali

Ich bin Peri, 14 Jahre alt und gehe auf ein Gymnasium in Hamburg. Ich spiele Tennis und schreibe sehr viel. Zudem liebe ich die Farbe Grün, interessiere mich sehr für die Griechische Mythologie und bin ein großer Marvel Fan

 

Hoffnung

Ein Schmerz, so stechend wie eine Flamme. Eine Leere, so tief wie die unendlichen Schluchten der Welt. Einsamkeit, das Gefühl von Verlust. Wut, Hass. Alles in mir brodelte gleichzeitig. Ich sah es noch immer vor mir, ihr strahlend weißes Lächeln, ihre dunkelgrünen Augen, welche wie die Sterne am Nachthimmel leuchteten, ihre wallenden Haare, begraben unter einem aus Ebenholz geschnitzten Sarg und dunkler Erde.

All dies löste eine solche Wut in mir aus, ich wollte gegen die Wand boxen, gar sterben, ich wollte ihm, der sie so grausam aus dem Leben riss, die Knochen brechen, ihn enthaupten. So brutal und schmerzhaft wie er sie tötete, so wollte ich ihn verletzen, ihn so sehr leiden lassen wie er mich. Noch nie hatte ich solch eine Trauer, solch eine Schwärze in mir empfunden. So vieles hatten wir geplant, so vieles hatten wir hinter uns. Und er ... er nahm mir den letzten Funken Hoffnung, das letzte Bisschen meines Glücks und die letzten Teile meiner Seele. Ihr Tod traf mich wie eine Faust ins Gesicht – nein, wie die scharfen Zähne eines Wolfes in die Kehle. Das Gefühl, nie wieder atmen, nie wieder mein Zimmer verlassen zu können.

Und doch stehe ich hier, mit erhobenem Kopf und neu gefundener Freude bin ich bereit, wieder ins Leben zu treten. Ja, es hatte lange, so unendlich lange gedauert, ich selbst zu sein, und obwohl sie nicht mehr an meiner Seite steht, so ist sie tief in mir drin. Nicht in meinem Herzen, nein, in meinem Kopf, in meinen Erinnerungen, in dem, was ich als das Leben bezeichne. Dinge verändern sich, das Leben kommt und geht. Der Tod ist eine einmalige Reise, eine Erlösung unserer Körper und ein Zeichen dafür, dass die Zeit nach so vielen langen Jahren reif ist. So traurig er auch sein mag, der Tod ist wunderschön, und ihn zu fürchten hat keinen Grund. Denn eines Tages, vielleicht auch heute, morgen, oder gar in dieser Sekunde, wird er euch einholen, um das Rennen zu beenden und ein weiteres zu beginnen. Bereit zu sein, macht ihn um ein Ganzes erträglicher, ja, sogar gut.

 

Das letzte Licht

Ich wusste nicht, was es war. Es stand vor mir, die surreal wirkenden Augen bedrohlich und anmutig zusammengekniffen. Es war so wunderschön, majestätisch und doch so hässlich, dass ich fast würgen musste. Ich konnte nicht einschätzen, wohin es schaute, denn die Augen waren so tief schwarz, dass sich meine Seele in ihnen widerspiegelte. Jedoch war ich nicht mehr überrascht, solch ein grausames Wesen zu sehen. In den letzten Wochen geschah so viel, so viel Unerklärliches, Verrücktes, gar Unrealistisches. Schwarze, schattenartige Wesen wimmelten in den Gassen, Kreaturen, bestehend aus nur einzelnen verätzten Hautteilen, welche die kahlen Knochen bedeckten, krochen umher und warteten darauf, ihre nächsten Opfer zu verschlingen, in der Hoffnung, dadurch etwas menschlicher zu werden.

Und ich? Nun, ich wurde langsam verrückt. Sie sprachen mit mir, sie griffen nach mir und mehr als nur einmal hatte ich das schreckliche Gefühl ihrer Hände auf meiner Haut. Das einzige, was mich bei Verstand hielt, waren sie. Wunderschöne schwarze Haare, Muskeln aus Stahl und ein Herz aus Gold. Gewiss waren sie keine Menschen, oh nein. Ihre Haut schimmerte silbern, ihre Hände waren zu eleganten Klauen gekrümmt und ihre Wangen bedeckt mit goldenen Sommersprossen, welche von ihnen als das „Gold der Sonne“ bezeichnet wurden. Sie konnten Dinge, welche die menschliche Vorstellungskraft übertrafen, und waren mutiger als alle Soldaten auf einem Schlachtfeld zusammen. Doch heute, an diesem tristen Freitagmorgen, war ich allein. Allein in der Falle einer Kreatur, mit Hunger und Schadenfreude in den Augen. Mit glänzender, dunkelroter Haut, die wie Blut schimmerte, welches jetzt noch in meinen Adern floss, doch bald schon die grau gepflasterten Straßen bedecken sollte. Ihre spitzen Zähne schimmerten schwarz, so wie ihre Augen, und ihr Schweif ruhte auf dem Boden. Wunderschöne weiße Haare bedeckten ihren Kopf und zogen mich immer tiefer in ihren Bann. Ein Lächeln, so schön, zugleich so boshaft, umspielte ihre vollen schwarzen Lippen, welche bald schon leuchtend rot glänzen sollten.

Ich wusste, dass sie mein Tod war, trotzdem wollte ich nichts anderes als zu ihr zu gehen und den weichen Geruch ihrer Haut aufzusaugen, welcher an ein loderndes Feuer erinnerte. Und dies nun, dies war die Geschichte, wie ich das letzte Mal die Welt erblickte, wie all das Licht in mir erlosch und ich langsam und qualvoll aus dem Leben trat. Ich bin mehr als nur erpicht darauf, eure Geschichte zu hören, so bald wie möglich. Und so möge die Welt hier, bei mir, wieder vereint sein.

Poet's Gallery Beitrag Januar 2022

Rufus Song

Rufus Song, 1972 in Frankfurt geboren.

Mann der Möglichkeiten.

Adam, Eva und der Baum der Erkenntnis

Gott hatte in sieben Tagen die Erde erschaffen und galt bei den Kollegen als Vorreiter und Visionär. Seit einigen Monaten war es jedoch etwas still um das Projekt geworden. Man wartete im Allgemeinen darauf, dass ein neues Level freigeschaltet würde, doch Gott verharrte in merkwürdiger Lethargie. Im Hauptquartier Himmelreich debattierte man heftigst über die weitere Vorgehensweise. Als Vertreter der Teufelslobby saß Satan auf Gottes linker Schulter, wobei man die Bezeichnung Schulter nicht allzu wörtlich nehmen sollte, denn Gott hat natürlich keine Schulter wie wir sie kennen. Satan stellte, was Gott bisher erschaffen hatte, infrage. „Und, war es das jetzt? Zwei menschliche Kreaturen im Paradies?“, fragte er ketzerisch. „Meine Güte, wie langweilig ist das denn bitte. Hast du nie Big Brother oder Götter unter Palmen gesehen? Da geht’s ab! Die streiten und versöhnen sich, belügen und offenbaren sich, hassen und lieben sich, verraten und verbünden sich, flüstern und schreien, lachen und weinen und tanzen und raufen miteinander. Das ist Leben, das ist Action.“ Man muss wissen, die Teufel hatten anfangs große Hoffnungen in das Projekt Erde gesetzt, mit tausenden von Arbeitsplätzen gerechnet. Pustekuchen! Das Paradies in seiner jetzigen Form war zu perfekt, zu glatt, zu eindimensional. Da gab es keinen Raum für Teuflisches. Seine Litanei beendete Satan mit einem provokanten „Komm schon, du hast doch eh nicht mehr lange…“ Was natürlich völliger Unsinn war, da Gott logischerweise, also wenn einer, dann ja wohl er, unsterblich ist.

 

Gott fühlte sich aktuell aber tatsächlich ziemlich leblos. Satan, das wusste er, verfolgte vor allem die Interessen der Teufel. Hatte er aber nicht Recht damit, dass sein Projekt Erde in einer Sackgasse gelandet war? Es musste irgendetwas passieren und ihm gefiel Satans Enthusiasmus.

Auf seiner rechten Schulter allerdings saß als Vertreter der Engel Community Gabriel, der auch keine schlechten Argumente vorbrachte. „Gott, du solltest wegen der Teufel nicht Kopf und Kragen riskieren. Du hast nicht das Paradies auf Erden geschaffen, sondern die Erde als Paradies. Sie ist perfekt so wie sie ist und die Menschen huldigen dir das. Du wirst als Schöpfer des Friedens und der Eintracht in die Geschichtsbücher einziehen. Das ist keine Sackgasse, sondern eine Autobahn des endlosen Glücks.“

Gott fühlte sich durchaus gebauchpinselt von Gabriels Worten. Das Problem war nur, ihm war langweilig. „Du musst den nächsten Schritt endlich durchziehen“, säuselte sogleich Satan in sein linkes Ohr. „Kommando Selbstbestimmung. Schmeiße diese zwei menschlichen Geschöpfe aus deinem Garten und gib ihnen die Kontrolle über sich selbst.“ „Auf keinen Fall!“ rief Gabriel. „Du wirst sie ins Verderben stürzen! Bedenke, was die anderen Götter von dir halten werden, wenn du deine Schutzbefohlenen aus einer Laune heraus opferst?“

Auch Gabriel ging es in erster Linie um die Interessen der Engel und die befürchteten eine Lawine an Arbeit auf sich zurollen sollten die Menschen außerhalb des Paradieses alleine klarkommen müssen. Einhergehend mit endlosen unbezahlten Überstunden.

Gott wägte ab. Er sah die positiven Aspekte, die die Selbstbestimmung der Menschen mit sich brächte. Bisher war immer er alleine für alles verantwortlich gewesen. Nicht nur, dass er alles erschaffen hatte. Er musste es auch unaufhörlich instand halten. Dafür sorgen, dass reife Früchte an den Bäumen hingen und überall Blumen blühten, dass Wein in den Bächen floss und Mensch und Tier gut miteinander auskamen. Am lästigsten war ihm aber, dass ständig Disteln und Dornen geschnitten und entsorgt werden mussten. Wieso hatte er sie überhaupt erschaffen? Er konnte sich nicht daran erinnern. Er war zu einer Art Hausmeister des Paradieses mutiert. Er, Gott, man stelle sich das mal vor. Peinlich! Er hatte genug von alledem und kürzlich sogar heimlich in der Burnout Ambulanz für Götter einen Termin vereinbart.

Aber auch Gabriel hatte nicht unrecht. Sein Ruf als Gott stünde auf dem Spiel, wenn er Adam und Eva ohne triftigen Grund sich selbst überließe. Er müsste es so hinbekommen, dass die beiden sich aus freien Stücken zu diesem Schritt entschlössen?

Er besann sich. Es galt, einen gangbaren Kompromiss zu finden. Hier war Diplomatie gefragt.

„Was schlagt Ihr also konkret vor?“, fragte er Richtung Teufel.

Satan beriet sich mit seiner Delegation. „Wir machen folgenden Vorschlag. Du erschaffst zwei Bäume, einen nennst Du den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Einen Baum, der Klugheit verspricht, dessen Früchte Adam und Eva unter Androhung auf ewige Verbannung aus dem Paradies aber nicht essen dürfen. Den anderen Baum nennst Du den Baum des Lebens, der ewiges Leben verspricht. Du überlässt es den Menschen alleine, was sie daraus machen.“

Der Schachzug der Teufel ging auf. Gabriel war überrumpelt, Hilfe suchend wandte er sich zu den anderen Engeln um, die ihrerseits mit den Achseln zuckten. Der Vorschlag schien fair.

Gott nickte erleichtert und kürte einen Apfelbaum – oder war es ein Feigenbaum, er war nie gut in Botanik gewesen –  in der Mitte des Gartens zum Baum der Erkenntnis. Einen anderen zum Baum des Lebens. Er rief Adam und Eva herbei, erklärte Ihnen, was es mit den Bäumen auf sich hätte und dass sie hochkant  aus dem Paradies flögen, wenn sie die Früchte des einen Baumes äßen.

Adam und Eva nickten folgsam, warfen sich aber verstohlen aufgeregte Blicke zu. Diese Verkündigung war wahrlich ein Geschenk Gottes. Sie fanden den Alltag im Paradies schon länger ziemlich öde. Nichts war verboten. Alles im Überfluss vorhanden. Jedes Detail von Gott geregelt. Es gab keine anderen Menschen, keine sozialen Kontakte; außer mit den Tieren natürlich.

Hatten sie am Anfang noch viel miteinander gelacht, waren nackt entzückt durch den Garten gesprungen, hatten voller Begeisterung die vielen Früchte probiert und sich in einem fort über Gott und die Welt unterhalten, war ihr Alltag im Paradies mittlerweile doch eher schweigsam und träge. Was sollte ihnen da ewiges Leben bringen. Ewige Langeweile wäre wohl die passendere Bezeichnung.

Andererseits gab es endlich ein Verbot. Und sie könnten es brechen. Und dadurch aus dem Paradies in die Freiheit entkommen.

Da rollte schon die Schlange heran. Bereit, ihre berühmten Worte zu sprechen, aber Eva winkte ab. Die Entscheidung war längst gefallen. Beherzt bissen die beiden in die süßen Früchte und die Einschaltquoten im Götter TV schnellten schlagartig in schwindelerregende Höhen. Gott war wieder auf seinem Zenit und wenn die Menschen nicht gestorben sind, dann ist er es noch heute!

Poet's Gallery Beitrag Oktober 2021

Britta Haarmann

Ein paar Zeilen zu mir... verheiratet, 2 erwachsene Kinder ... Lebensmittelpunkt in Lüneburg, wo ich am Theater als Mitarbeiterin an der Kasse und in der Musikschule im Büro tätig bin. Ich spiele Schlagzeug, tanze Swing und liebe es, draußen im Grünen und Bunten zu sein. 

 

Das Leben ist spannend, denn immer im Flow. Ebenso das Schreiben. Den Flow und die unendliche Vielfältigkeit dessen spiegeln auch die zwölf Impulshefte des Online-Schreibkurses „Lust am Text“ von fanger& fanger: Kleinefeine Schreibschule für Jung & Alt – ich kann ihn nur empfehlen, bin nach längeren Pausen kurz vor dem Abschluß, genieße das Schreiben und Lernen unter professioneller Anleitung und Führung! 

 

 Regenbogenrutsche

 

Wie jeden Morgen nahm ich die Zeitung aus dem Briefkasten, wollte am Geldbaum im Flur vorbei zurück in meine Wohnung, als ich vom Blumentopf her ein dünnes Stimmchen meinen Namen rufen hörte, jedoch niemand zu sehen war…                    

 

Ich stoppte und beugte mich runter in die Richtung, aus der ich den Ruf zu hören geglaubt hatte. „Ganz schön trocken schon wieder“, dachte ich, als ich mit Forscherblick die Blumenerde scannte. „Huhu, höher! Hier bin ich. Wenn du den Kopf hebst, sitze ich auf Augenhöhe auf einem Blatt.“ Ich hob den Kopf. Mit Kurzsichtigkeit gesegnet, schob ich meine Gleitsichtbrille hoch und näherte mein Gesicht den Blättern bis auf wenige Zentimeter. Tatsächlich! Da hockte eine kleine Figur, eine Art Zwerg, durch seine grüne Kleidung kaum auszumachen zwischen den Blättern. Ich schloß die Augen. Ich hätte den letzten Gin Tonic am Abend zuvor weglassen sollen! Nachdem ich bis zehn gezählt hatte, öffnete ich erst das rechte, dann das linke Auge. Er war noch da.                                                    

 

„Hallo“, kam es vom Blatt. Definitiv, das Minizwerglein redete mit mir. „Haaallo!!! Ich brauche dringend deine Hilfe!“ „Ähm – worum geht‘s denn?“ „Ich muß wieder nach Hause!“, postulierte das Männlein. Ach so! „Dann geh doch. Ich mach dir die Tür auf“, bot ich an. „Nein – ich kann nicht einfach gehen.“ Ich verstand nicht, warum dies nicht möglich sein sollte. „Du bist ja auch irgendwie hier rein gekommen. Also wirst du auch wieder rausgehen können?!“ „Ich brauche einen Regenbogen, auf dem ich zurück rutschen kann“, jammerte Minimann. Klar! Unsereins reist per Fahrrad, Auto oder Flugzeug, andere rutschen über einen Regenbogen. Ich beschloß, eine kalte Dusche zu nehmen, einen starken Kaffee zu kochen und Dehnübungen auf dem Balkon zu machen. Bei meiner Rückkehr hoffte ich, keine grünen Männchen mehr zu sehen. Ich richtete mich auf und drehte ab.

 

„Halt“! Wow! Dieser Liliputaner konnte ganz schön laut werden. Ich drehte zurück – jetzt stand er auf dem Blatt in voller Größe. Die betrug etwa drei Zentimeter. Grüner Hut auf braunen Locken, grünes Wams und grüne Knickerbocker. Die Füße steckten in braunen Stiefelchen. Irgendwo hatte ich so eine Erscheinung schon mal gesehen. „Wer bist du eigentlich und wie kommst du in meinen Blumentopf?“, echauffierte ich mich.     Der kleine Kerl tat einen langen Zug aus seinem Pfeifchen. Auch noch rauchen unter meinem Geldbaum! „Gestatten: Ich bin ein Leprechaun.“ Genau! Ich erinnerte mich! In jedem Reiseführer über Irland werden die Leprechauns erwähnt. Naturgeister, die dort in den Hügeln und Wäldern hausen. Sie gehören zum Mythos der grünen Insel wie die Meerjungfrau zu Kopenhagen oder die Ratten zu Hameln. Hauptamtlich arbeiten sie als Schuhmacher für die Feen. Sie gelten als kleine Geizhälse, da sie ihr Geld vergraben. Der Sage nach am Ende eines Regenbogens. „Ich habe den falschen Regenbogen genommen und bin nach Südafrika gerutscht“, sagte mein Gesprächspartner. Noch während ich über das Phänomen eines falschen Regenbogens nachdachte, dämmerte mir der Zusammenhang. Den Geldbaum hatte mir meine Nachbarin aus Johannesburg mitgebracht, als Dankeschön dafür, dass ich bei Ihr zwei Wochen die Blumen gegossen hatte. „Wie bist du denn in dem Geldbaum gelandet?“ fragte ich den Kobold. „Ich bin vorzeitig vom Regenbogen abgesprungen, als ich merkte, dass die Richtung nicht stimmte. So bin ich auf dem Markt in einem der Blumenstände in diesem Topf gelandet.“ Den meine Nachbarin erfeilscht hatte. Damit wäre das geklärt. Ich zweifelte zwar noch immer ansatzweise an meinem Verstand, aber die Rauchwölkchen, die aus den Blättern aufstiegen, schienen meinen Verdacht tatsächlich zu bestätigen. 

 

Während ich überlegte, ob Mr. Leprechaun mir nicht auch ein Paar Schuhe nähen könnte, wenn er sich schon mal zu mir verirrt hatte, jammerte das Kerlchen: „Ich muß vor dem nächsten Vollmond zurück sein, sonst kann ich nie wieder auf die Insel, zu meiner Frau und meinen sieben Kindern.“ Mir schwante etwas. Ich bekam grade die Verantwortung für das Glück eines waldschratigen Schusterleins und seiner Familie aufgebrummt. „Wieso hast du eigentlich den falschen Regenbogen genommen?“ (Lach- und Sachgeschichten mit der Maus, tickerte es durch meinen Kopf. Wobei die heutige Folge wohl eher zu den Lachgeschichten gehörte) „Nun…“, zögerte Meister Schuh, „ich hatte am Abend zuvor zu viel Farnschnaps getrunken, da war’s noch etwas neblig in meinem Kopf. Doch ich mußte mein Geld in Sicherheit bringen. Also bin ich auf den nächsten Regenbogen aufgestiegen. Der war ewig lang und gebogen, die Richtung konnte nicht stimmen. Da bin ich gesprungen. Dabei habe ich auch noch den Geldsack verloren“, schloß er und senkte den Kopf. Schimmerte da eine Träne? „Vor dem nächsten Vollmond … einen Regenbogen … bitte!!“ Der ganze Geldbaum zitterte vor lauter Geschluchze. „Ich gebe dir eine Goldmünze, wenn es dir gelingt!!“ Bei einem solchen Angebot war klar: es ging um Leben und Tod!                                          

 

Ich googelte den nächsten Vollmond. Der würde bereits am nächsten Tag am Himmel stehen. Ein Regenbogen war nicht zu erwarten. Die Wettervorhersage verkündete laue Sommerabende und anhaltende Trockenheit. Als ich dem Unglücklichen das Ergebnis meiner Recherchen mitteilte, heulte es erneut los im Geldbaum. Die Pfeife erlosch unter der Tränenflut, von zu trockener Blumenerde konnte keine Rede mehr sein. 

 

„Ich muß jetzt erstmal frühstücken, ohne was im Magen kann ich nicht denken. Uns bleiben noch zwei Tage, um dich nach Hause zu bringen, das sind 48 Stunden, das ist richtig viel Zeit“, beruhigte ich ihn. Es gelang mir, meiner Stimme einen überzeugenden Klang zu verleihen. Er schnüffelte noch ein paarmal in seinen Hemdsärmel, dann fischte er ein Ministreichholz von der Größe eines Holzsplitters aus seiner Hosentasche und bemühte sich, das Pfeifchen wieder in Gang zu bringen. Fehlanzeige! Das Streichholz war feucht geworden. Zum Glück! „Kann ich dir was zum Frühstück anbieten“ fragte ich.“ Nein, danke. Ich nasche hier von den Blättern, wenn du nichts dagegen hast?“ Ich nickte. „Aber vielleicht hast du ja einen Span für mich?“, blinzelte der Wichtel unter seinem Hut hervor. Ich zögerte, aber dann versorgte ich meinen Blumenzwerg mit einem Holzspan vom Kaminholz und mich mit Kaffee und Brötchen. In meinem Kopf rotierte es. Das Schicksal des kleinen Kerls rührte mich nun doch. Konnte man ihn vielleicht im Briefkuvert nach Hause schicken? Sollte ich ein Flugticket nach Irland buchen und den Grünling selbst überbringen? Könnte ich ihn einem LKW Fahrer Richtung grüne Insel mitgeben? Nein, alles keine Lösung. Ein Regenbogen mußte her.                                

 

Ich fing an Spaghetti zu kochen. Mittwochs aß meine Nichte Nelly immer nach dem Kindergarten bei mir. Mein irischer Besucher war eingeschlafen und ich hoffte, er würde sich über den Nachmittag still verhalten.                                                   

 

Als ich mit dem Kind nach Hause kam, blieb alles ruhig. Nelly hüpfte in meine Küche und kippte den Inhalt ihres Rucksacks auf den Fußboden. Brotdose, Trinkflasche, Stoffhase, Regenhose, Wachsmalkreiden. Sie zerrte ein zerknittertes Papier Din A 3 Format hervor. „Nelly, laß uns doch erst essen, bevor du malst“  „Hab noch gar keinen Hunger. Guck mal, was ich Tolles im Kindergarten gemacht habe.“ Ich starrte auf das Papier. 

 

Darauf war der Anfang eines Riesenregenbogens zu sehen. Das war’s! Mary Poppins! In einer Filmszene springt sie mit den Kindern und dem Straßenmaler Bert in eins seiner Bilder. „Nelly, das ist ja ein toller Regenbogen!! Wenn du das Bild fertig hast, schenkst du es mir?“ bat ich. „Klar, wollte ich sowieso!“, kam die Antwort. Die Spaghetti schmeckten mir so gut wie noch nie. Abends, nachdem Nelly abgeholt worden war, weckte ich mein Zwerglein. Er hatte tatsächlich den ganzen Tag geschlafen. Vor dem Geldbaum breitete ich auf dem Fußboden das Bild von Nelly aus. „Was meinst du?“ Der Leprechaun hüpfte im Blumentopf hin und her, schoß Purzelbäume und wäre fast vorzeitig rausgefallen. „Oh, oh, oh, ich wußte, du schaffst es! Danke!!“ Da hatte er mehr gewußt als ich. „Prima! Bist du startklar?“ Er nickte, packte sein Pfeifchen ein, zog den Hut über die Ohren und stellte sich wie ein Turmspringer auf dem Sprungbrett bereit. Ich nahm ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und setzte ihn an den Beginn des Regenbogens. Mit einem schlürfenden Geräusch, wie wenn der letzte Rest Wasser durch den Badewannenabfluß gurgelt, wirbelte er in das Bild – weg war er. Ich konnte ihm nicht mal eine gute Reise wünschen, sah noch seine Hand aus dem Lila winken. Wie hypnotisiert stand ich im Flur. Mein Blick pendelte zwischen Nellys Gemälde und dem Geldbaum. Ich hatte geträumt!  

 

Unter den Blättern des Geldbaums blitzte es. Ich neigte mich zum Blatt, schob die Brille hoch. Eine Goldmünze glitzerte mir entgegen. 

Poet's Gallery Beitrag Juni 2021

www.schreibfertig.com

Jürgen Schöneich

Jürgen Schöneich  schreibt für Geld, was seine Kunden lesen wollen. Seit über zehn Jahren verfasst er auch Texte für sichselbst, die er gerne vorliest. Meist sind es kurze Prosastücke mit Überraschungen und kleinen Provokationen. Manches davon findet sich unter www.berlinermax.de. Jürgen Schöneich lässt sich gern zu Lesungen einladen, Kontakt unter berlinermax@gmx.de

Besuchen Sie Jürgen Schöneich am 6. Juni 2021 um 16 Uhr live in Wilhelmsburg auf der Wiese am interkulturellen Garten und im Internet mit musikalischer Begleitung von Renée de la Prade am Akkordeon: 
https://suedlese.de/lesungen/juergen-schoeneich-renee-de-la-prade-schraege-stories-und-crazy-tunes/

Rebirthing   

Es gibt fast nichts, wovor Nico Kleinig Angst hat. Als Bereichsleiter einer bundesweit tätigen Versicherung ist er bekannt dafür, sich weder durch unfreundliche Reaktionen auf seine Geschäfts- anbahnungsversuche noch durch Aufsässigkeiten seiner Mitarbeiter vom geraden Karriereweg abbringen zu lassen. Nico Kleinig ist immer im Gefechtsmodus, tritt das Gaspedal jederzeit durch und kneift niemals. Fast.

Jetzt hat er Angst. Er bewegt sich vorsichtig durch das Gewimmel des Hamburger Doms. Er trägt seinen grauen Geschäftsanzug, schon um klarzumachen, das hier ist ein beruflicher Pflichttermin. Um ihn herum geht sein Team, lauter gestandene Versicherungskaufleute in abendlicher Feierlaune. Seine Angst macht Kleinig hellwach. Er hört das Klingeln am Feuerwehrauto des Kinderkarussells, das Grölen alkoholisierter Jahrmarktsbesucher und immer wieder ein nasskaltes Geräusch, wenn ein Wagen am Ende der Wasserrutsche in den künstlichen Tümpel platscht. Widerwillig nehmen seine Ohren die billige Jahrmarktsmusik und die dämlichen Sprüche wahr, mit denen Opfer für eine Attraktion namens Skyflasher geworben werden. 

Wie gesagt, Kleinig ist nicht freiwillig hier. Nachdem Berichte von Unstimmigkeiten im Team bis zur Geschäftsführung gedrungen waren, wurde der Dombesuch vom Personalvorstand angeordnet. Als Teambildungsmaßnahme, Kosten übernimmt die Firma, Belege sind einzureichen. Ein Rattern und Rauschen dringt an seine Ohren, ergänzt vom Kreischen aus gefühlt tausend gefolterten Kehlen. Die Achterbahn, das Ziel der Gruppe, der Höhepunkt des heutigen Jahrmarktsbesuchs.      Der gemeinsame Besuch des Vierfachloopings ist die ultimative Maßnahme zur Festigung des Teams: Wir lernen uns mal von einer anderen Seite kennen, emotional sozusagen, alle in einem Boot sozusagen. Wir hören den Herzschlag von jedem im Team beim gemeinsamen Sturz ins Auf und Ab des neuen Geschäftsjahres. Grausame Idee für jemanden mit Höhenangst. Kleinig hat seit heute morgen nichts Festes mehr in den Magen bekommen, er hat letzte Nacht nicht schlafen können. Eine zweistellige Zahl von Espressos wirbeln durch seinen Magen, ein Geräusch wie der Milchaufschäumer der teameigenen Nespresso Maschine. 

Jetzt hat die Gruppe die Achterbahn erreicht. Die Teamassistentin, Frau Winterzorn, kauft zwölf Karten und lässt sich den Beleg geben. Zwei bullige Männer öffnen eine Schranke. Kleinig nimmt metallische Geräusche wahr, ein Gestoßenwerden wie im Güterbahnhof, dazu eine leicht jaulende Softjazzmusik, und von weither die Geräusche des Jahrmarkts, alles übertönt vom Rauschen des eigenem Bluts im eigenen Kopf. Die Gruppe setzt sich in einen bereitstehenden Wagen. 

Kleinig landet in der ersten Sitzreihe neben der Praktikantin, einer schwarzgekleideten jungen Frau mit roten Haaren, einigen Totenkopftattoos und metallischen Verzierungen an Mund und Augen. In diesem Auf-zug würde die Dame es in der Versicherungswirtschaft schwer haben, denkt sein Bereichsleitergehirn, als Gespenst für die Geisterbahn würde sie sich besser eignen. Schon klappen Bügel herunter, und ein Entkommen ist unmöglich. Kleinig hat kurz überlegt, ob er sein Arbeitsverhältnis kündigen soll, aber jetzt ist es zu spät. 

Mit einem Ruck setzt sich der Wagen in Bewegung, und zwar steil nach oben. Kleinig kann die Reeperbahn und den Hafen sehen, ein Kreuz-fahrtschiff kommt gerade die Elbe hoch. Die Totenkopf-Praktikantin sagt etwas, das er nicht versteht. Er stimmt zu, sicherheitshalber. Kleinig ist kein Feigling. Der Wagen ist inzwischen sehr, sehr weit oben. Auf dem wackligen Gleis ruckt er noch einmal und bleibt stehen. Weit unten ist der Dom ein kakophones Lichtermeer. 

Kleinig dreht sich zur Totenköpfin um, die grinst und hat ein wildes Flackern in den Augen. Er wendet sich ab und schließt lieber die Au-gen, ein Relais klackt, der Wagen setzt sich in Bewegung und stürzt senkrecht in die Tiefe. Kleinigs Blut und sein Magen kleben an der Schädeldecke, neben ihm ein schrilles Geräusch wie eine Sirene oder eine Kreissäge. Er braucht einen Moment, bis er sich klar wird, das ist die Praktikantin, die schreit. Sie kreischt mit der Stimmkraft einer Death Metal Frontfrau, und ihr Schrei zieht Kleinig mit, der ganz oh-ne eigenen Willen ebenfalls um sein Leben schreit. Aus voller Kehle. 

Mit einer heftigen Bewegung reißt er sich die Krawatte vom Hals, um das Stimmvolumen zu steigern. Er geht völlig auf in seinem Schrei, der als Ausdruck von Angst beginnt, sich in eine mörderische Wut steigert, ein Schrei gegen den morgendlichen Stau, seine doof-dreiste Tochter, den schlechten Kaffee in der Kantine, die Sollzahlen, das Autohaus und die unzuverlässige Werkstatt, die dumme Deutsche Bank, seine vertrocknete Gattin, den ungemähten Rasen, die kleinäugigen Nachbarn, die Deutsche Bahn, gegen die neuen Regeln bei Miles & More, gegen alle seine verzogenen Kunden, gegen den Architekten seines Reihenhauses, das Finanzamt, seine gierige Geliebte, gegen die Kumpel im Golfclub, die Nachbarskinder, das Controlling, gegen die Strafzettel, die Bundesregierung, und vor allem, vor allem gegen den für ihn verantwortlichen Vorstand Human Ressources. 

Kleinig legt sein ganzes verpfuschtes Leben in diesen einen Schrei. Der Wagen kommt unten an, rast jetzt durch die Loopings, das ganze Team wird hin und her geschleudert, er sieht die Totenköpfin an. Sie hat Freudentränen in den Augen und nickt anerkennend: Cooler Schrei,Herr Kleinig, machen wir nochmal, oder? Kleinig nickt. Begeisterung erfasst ihn und lässt ihn grinsen. Klar, nochmal. Wirklich befreiend! Neu geboren werden in weniger als einer Minute und für ganze sechs Euro.

Jürgen Schöneich  in:

 

„Last Storys aus dem 

Frühstücksraum“, 

 

hrsg. v. Erna R. Fanger & Hartmut Fanger,

Edition schreibfertig.com No 2,

tredition 2020  

Weitere Geschichten von Jürgen Schöneich in  Geschichten aus dem Frühstücksraum"

Hrsg. v. Erna R. Fanger & Hartmut Fanger,

Edition schreibfertig.com No 1,

tredition 2018 

 

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Poet's Gallery Beitrag Mai 2021 www.schreibfertig.com

Mariam Salehizadeh

Mariam Salehizadeh 

 

Geboren 1959 in Hamburg. Sehr norddeutsch geprägt und mit iranischen Wurzeln verbunden, liebt die deutsche Sprache und iranische Musik. In der Offenen Schreibgruppe übt sie sich in Spontaneität, um so ihre Gefühle und Gedanken zu jedwedem Thema in Worte zu fassen.

 

Blattnachrichten

Als ich heute nach Hause schlenderte, sah ich unter den vielen Bäumen und  Sträuchern einen kleinen Busch, der sich so nah an der Parkbank befand, dass ich dachte, vielleicht erkennt dieses Büschlein im Holz der Bank einen seiner Urahnen. Die hellgrünen Blätter an seinen zarten Ästen hingen leicht herab, so wie die Hände einer Pianistin über dem Klavier. Dann tat ich etwas, was ich oft tat. Betrachtete den Busch für eine Weile und zupfte ganz vorsichtig eines der Blätter von ihm heraus. Als ich weiterging, kam mir eine junge Frau entgegen – sie sah mich nicht. Sie schaute auf das Display ihres Smartphones. Vielleicht hoffte sie auf eine Nachricht, ein interessantes Date. Oder sie suchte die neueste Neuigkeit der letzten hundertstel Sekunde. Heute war mein Display dieses grüne Blatt in meiner Hand. Auch ich suchte die neueste Neuigkeit – und das kleine grüne Blatt fing an zu erzählen: „In mir vereinen sich das Wasser und der Staub der Sterne. Ganz neu bin ich, einmalig – es gibt mich nur hier in deiner Hand an diesem Ort und jetzt. Gestern streifte mich ein kleiner Vogel und setzte sich auf das Ästchen, an dem ich hing. Er sang mir ein Lied, das noch nie zuvor zu hören war, und der Staub begann in meinen Adern zu tanzen.“ 

Als das Blättchen so mit mir sprach, streifte ein Windhauch meine Hand und wehte es hinweg. 

 

Gerne gehe ich diesen Weg auch morgen und hoffe auf die neueste    

Neuigkeit dieser Welt.  

 

Mariam Salehizadeh  in:

 

„Last Storys aus dem 

Frühstücksraum“, 

 

hrsg. v. Erna R. Fanger & Hartmut Fanger,

Edition schreibfertig.com No 2,

tredition 2020  

Poet's Gallery Beitrag März 2021 www.schreibfertig.com

   

Myriam Kunze

Myriam Kunze, Jahrgang 1969, hat als Sekretärin viele Jahre in Hamburg gearbeitet. Heute lebt sie mit Mann, 2 Kindern und Hund in ihrer ursprünglichen Heimat, dem Bergischen Land bei Köln. Einige ihrer Gedichte sind in Anthologien der Frankfurter Bibliothek erschienen und in einer Anthologie des Roloff Verlages mit dem Titel „Wandlungen“. Geschrieben hat sie schon immer: Kurzgeschichten,Kolumne für die hauseigene Zeitschrift  ihres damaligen Hamburger Arbeitgebers,  Lokalberichterstattung für eine Gemeindezeitschrift, Blogbeiträge, Artikel für einen Pfarrbrief und aktuell Web-Content für unterschiedliche Auftraggeber.  

Nachdem sie erfolgreich den Belletristikkurs der kleinen, feinen Schreibschule Hamburg absolviert hat, schreibt sie derzeit an einem historischen Roman, der im Kern die Geschichte einer jungen Frau in Ostpreußen während der Kaiserzeit und ihrer Verschleppung nach Russland während des 1. Weltkrieges erzählt. 

 

Das weiße Land im Osten

Rufus, der neunjährige Kaltblutwallach wog an die 700 kg und hatte einen gelassenen Charakter. So war es nicht verwunderlich, dass er überall auf Gut Bickelbach seinen Einsatz fand. Ob als Kutschpferd, Lastenträger oder als Zugpferd während der herbstlichen Holzfällerarbeiten. Im Frühjahr wurde er vor den Pflug gespannt und im September vor den Leiterwagen. Manchmal diente er der jüngeren Generation als ideales Anfängerpferd. Sein Temperament hielt sich in überschaubaren Grenzen und den Mut, den man aufbringen musste, um auf ihm zu reiten, ebenso. Gelegentlich trug er Heinrich von Dahlen-Imhoff, den Besitzer des Gutes, der selbst an die 120 kg wog und aus diesem Grund ein robustes und gemächliches Pferd zu schätzen wusste, weit über die holperigen Landstraßen Ostpreußen hinaus. Obgleich von Dahlen-Imhoff eine durchaus vorzeigbare Herde Trakehner besaß, bevorzugte er für seine meist sonntäglichen Ausritte das gescheckte Kaltblut. 

Doch im Sommer des Jahres 1907 zeigte sich Rufus von einer bis dahin nie da gewesenen Seite. 

Die Bediensteten des Gutes waren mit der Getreideernte beschäftigt. Die Arbeiten gingen zügig voran. Unterstützt wurden sie von den Bauern der umliegenden Dörfer. Die Männer und deren Söhne gingen mit den Sensen vorweg, die Frauen und Mädchen mit den Harken hinterher. Das frisch gemähte Getreide wurde zu Kebsen aufgeschichtet, so dass es bei gutem Wetter für mehrere Tage abtrocknen konnte. Die Jungschar war dabei nicht immer ganz bei der Sache. Die Kinder, die auf dem Gutshof lebten, und jene aus den Dörfern sahen sich nicht allzu häufig und so ergaben sich zahlreiche Gespräche, die mit Gekicher und Albernheiten einhergingen. Allen voran war Ida Josefine das wohl gesprächigste Kind unter ihnen. Sie plapperte oftmals ohne Unterlass. Ihr Temperament glich zuweilen einem kleinen Tornado, in dessen Auge man sich tunlichst nicht hineindrängen sollte. Jedoch war sie auch ein gescheites Ding und alles, was sie neu erlernte, das setzte sie flink und ohne Kompromisse um. Wohingegen ihre Schwester Martha Louise zurückhaltender Art war. Sie war stets bemüht der Harmonie dem Streitgespräch den Vorzug zu geben. Obwohl auch sie das Kind von Angestellten des Gutes war, hatte sie dennoch ein feines Benehmen, das sich so manches Gutsherrenkind von ihr abschauen konnte. 

Hin und wieder stimmten die Älteren zur Wiederherstellung der Konzentration auf die Ernte beliebte Volkslieder an, derer sich die Kinder dann anschlossen. Ihre hellen, klaren Stimmen wurden weit über das Feld hinaus getragen. 

Rufus, der den kompletten Tag, mit langem Strick am Baum angebunden zwischen Fressen und Dösen wechselte, nahm keinerlei Notiz von den umtriebigen Menschen. Doch nun begann die Dämmerung und es wurde Zeit, die Erntearbeiten zu beenden und die Abfahrt vorzubereiten. Ida übernahm das Anschirren von Rufus. Wenn sie auch mit ihren zehn Jahren nur etwas knapp über ein Meter dreißig maß, ihrer Durchsetzungskraft dem Zugpferd gegenüber tat dies keinen Abbruch. 

Die Erwachsenen saßen erschöpft am Rand des Feldes im Kreis und erholten sich bei Bier und Broten. Die Vorarbeit der Getreideernte war geschafft.

Die Kinder spielten Fangen und Verstecken und liefen kreuz und quer über das Feld. Auch Martha war an diesem Tag ausgelassen und freute sich, im Leiterwagen unter ein paar Decken eines der besten Verstecke gefunden zu haben.

Zur gleichen Zeit saß ihre Schwester Ida auf dem Kaltblut und wartete ungeduldig auf den Aufbruch. Es war ihre Belohnung für das Anschirren, während das Pferd den Leiterwagen mit den Arbeitern und Kindern zog, auf diesem sitzend den Nachhauseweg anzutreten. Sie zappelte mit ihren Beinen, pfiff nach den Kindern und stöhnte, weil die Erwachsenen immer noch nicht zur Abfahrt bereit waren. Obgleich es ihr verboten war, Rufus ohne die Unterstützung eines Kutschers anzutreiben, fehlte ihr an diesem Tag wie auch an vielen anderen der Gehorsam. Sie ließ Rufus antraben. Der Gaul wurde in den frühen Abendstunden ungewöhnlich munter. Sein Trab ging über in einen leichten Galopp. Ida staunte. Nichtsahnend, dass ihre Schwester in ihrem Versteck ebenfalls über die Leichtfüßigkeit des Kolosses verwundert war. Plötzlich hörten sie beide aufgeregtes Gegrunze. Aus dem angrenzenden Waldstück schnellte eine Rotte Wildschweine hervor. In Panik kreuzten sie den Feldweg direkt hinter dem Leiterwagen. Rufus, der wegen seiner Scheuklappen die Gefahr nicht zuordnen konnte, sich  derer aber bewusst zu sein schien, setzte über in einen rasanten Galopp. Die Köpfe der Erwachsenen drehten sich zuerst zum Feld, über das die Rotte weit hinaus lief, dann zum Wagen, der nunmehr in voller Fahrt zwischen Feld und Wald auf unebenen Boden an Geschwindigkeit zunahm. Die kleine Ida versuchte ihr Bestes Rufus mit den langen Zügeln in ihre Gewalt zu bekommen. Doch wollte sie nicht zwischen die Hufe kommen und vom Wagen überrollt werden, musste sie zusehen, sich mit aller Kraft selbst auf dem Pferd zu halten.

So wurde das Kaltblut zunehmend zu einem temperamentvollen Warmblut, das vom Weg auf das Feld zusteuerte und weiter im wilden Galopp auf die sitzende Menschenmenge der Erwachsenen zu raste ...

Poet's Gallery Beitrag Februar 2021 www.schreibfertig.com

   

Manja Kernke

Manja Kernke.

Von geschriebenen Worten genauso fasziniert wie von Zusammenhängen und Wahrheit, lebt und arbeitet mit ihrer Familie in Berlin.

„Mein Laden“

Endlich, ein kleiner Einkaufsladen. „Mein Laden“ schwang sich in schwarzer Schrift über den Eingang. Er war geöffnet. Vor dem Ladenfenster stand ein Tisch mit vier Stühlen. Lorilie stieg vom Fahrrad und klopfte sich den Staub von der Hose. Mit trockener Zunge leckte sie sich über die klebrigen Lippen. 

Dann trat sie ein. Drei ältere Frauen sahen sie an. Nichtssagend. Oder abschätzig? „Ich weiß, dass ich hier fremd bin“, will sie antworten. Aber sie hatten ja gar nicht gefragt. 

Die Frauen warfen einen schnellen Blick durch das kleine Ladenfenster. Das hatte sie gerade ganz deutlich gesehen. „Ja, ich bin allein hier“, wollte sie antworten, „eine schwarze Frau, auf dem Fahrrad, mit Staub im Gesicht und in den Haaren. Und ich habe Durst.“ Aber sie hatten ja nichts gesagt. 

Entschlossen ging sie zum Getränkeregal, nahm sich eine Wasserflasche heraus und lief zu den drei Frauen an die Kasse. Zwei wichen zurück. Oder schien es ihr so? „Einmal“, sagte sie mit fester Stimme und stellte laut – zu laut? – die Flasche auf den Tresen. Die Frau an der Kasse nickte und tippte die Summe ein.

Lorilie zog ihr Portemonnaie aus ihrer kleinen Umhängetasche und stieß mit dem Handrücken gegen die Kante des Tresens. Es fiel dumpf klirrend zu Boden. Ein paar Münzen fielen heraus, blieben liegen oder rollten durch den Laden. Lorilie ging in die Hocke, mit Tränen in den Augen, scharrte das Geld zusammen,  stand wieder auf.  Legte zwei Euro  auf den Tresen, nahm die Wasserflasche und wandte sich um. Vor ihr stand eine der älteren Frauen. Sie hielt die Hand auf. In dieser lagen drei Münzen. 

„Hier“, sagte sie. Ihre Stimme klang weich. 

„Danke“, murmelte Lorilie und fühlte das Rot auf ihren Wangen. Aber das konnten die Weißen nicht sehen. Das konnten sie nie sehen.  

„Wollen Sie einen Kaffee?“, fragte die ältere Frau. Lorilie schüttelte abwehrend den Kopf. 

„Wir haben auch Eistee“, sagte sie einlenkend und strich sich mit der faltigen Hand über ihre Stirn. „Bei der Hitze." 

Lorilie senkte den Kopf, dann nickte sie leicht. „Daswäre schön“, murmelte sie und sah ihr scheu ins faltige Gesicht, „danke.“ 

Manja Kernke in:

 

„Last Storys aus dem 

Frühstücksraum“, 

 

hrsg. v. Erna R. Fanger & Hartmut Fanger,

Edition schreibfertig.com No 2,

tredition 2020 

 

 

 

Poet's Gallery Beitrag Januar 2021 www.schreibfertig.com

   

Barbara Rossi

Barbara Rossi. Neben Lyrik schreibt sie auch Kurzprosa und Sachtexte. Ihre Arbeiten veröffentlicht sie in Zeitschriften und im tredition Verlag, Hamburg. Sie schreibt regelmäßig Beiträge für die Zeitschrift Experimente.  Außerdem hält sie Vorträge zu den Themen Lebensverkürzende Erkrankungen sowie Tod und gibt Kurse zur kreativen Trauerbewältigung nach dem Tod eines Kindes. Sie lebt und arbeitet in Hamburg.

 

Barbara Rossi

WINTERLIEBEN

Ich liebte die Nacht vor den Festen. Ich liebte die Kälte, das Einfrieren der Dinge, die Unbeweglichkeit, weil zu kalt, zu dunkel, kein Geld im Januar. Da gehen ja die ganzen Versicherungen vom Konto. Ich liebte die Tannennadeln unter dem Weihnachtsbaum und an meinen Strümpfen. Ich liebte die Landschaften, karg und verdeckt. Ich liebte die Vögel, die tiefer flogen, wenn die Temperatur wieder gesunken war. Ich liebte die Kerzen, die alles erleuchteten. Ich liebte die festliche Dekoration und das Geschirr, welches nur einmal im Jahr benutzt wurde. Ich liebte die Vogelhäuschen, den regen Verkehr meiner gefiederten Besucher, die anderen Plänen folgten. Ich liebte den Geruch vom frisch gefallenen Schnee. Ich liebte meine Winterstiefel, die Sonne am höchsten Punkt und den schmelzenden Schnee. Ich liebte die weißen Tannen, den Igel, der sich darunter verbarg, und die Katze, die alles sah. Ich liebte die zugefrorenen Seen, die Teiche, die Finsternis. Ich liebte das Gefühl der Geborgenheit meiner Winterjacke. Ich liebte meinen Vater, wenn er sagte: „Vielleicht fällt der Schnee so leise, damit man sich besser hören kann.“ 

"Winterlieben" und weitere Geschichten von Barbara Rossi sind nachzulesen in "Last Storys aus dem Frühstücksraum".

Hrsg. v. Erna R. Fanger & Hartmut Fanger,

Edition schreibfertig.com No 2,

tredition 2020 

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Weitere Geschichten von Barbara Rossi sind

zudem nachzulesen in "Geschichten aus dem Frühstücksraum".

Hrsg. v. Erna R. Fanger & Hartmut Fanger,

Edition schreibfertig.com No 1,

tredition 2018 

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Weiteres von Barbara Rossi  entnehmen Sie außerdem in https://tredition.de/autoren/renate-haussmann-hg-22853/jetzt-wird-es-spannend-hardcover-140542/  und https://Wenn die Nacht kommt  in Manhattan hrsg. v. Renate Hausmann sowie https://www.barbararossi.de/

https://www.facebook.com/barbararossi.de/

Katja Fink: Poet's Gallery Beitrag Oktober 2020

www.schreibfertig.com

In Lüneburg geboren, arbeitet Katja Fink mit  Freude erfolgreich als diplomierte Musikpädagogin und Pianistin in ihrem eigenen „Kunst & Klavierstudio24“ 

www.kunstundklavierstudio24.de in Hamburg. 2015 gegründet, stellt dies für sie die Symbiose von bildenden Künsten dar, ist Musik doch wie Malerei mit Tönen und Worten. Katja Fink lebt in Hamburg, ist verheiratet und hat einen Sohn.

 

„Klara und Tom im Zauberwald“ ist die Geschichte von den Geschwistern Klara und Tom, zehn und acht Jahre alt. Auf ihrer Suche, wer ihre verschollenen Eltern waren, erleben sie im Zauberwald spannende Abenteuer und Begegnungen, wie die mit dem Waldhüter Aron. 

Nur, wer ist die traurige Cäcilie, wer die geheimnisvolle Elfe Seraphine? Woher kommt plötzlich der Maler Balthasar? Sogar der Tod lugt in schwarzer Gestalt um die Ecke. Was für ein Geheimnis birgt die kostbare goldene Schale? Klara und Tom entdecken eine unheimliche alte Burg. Ist sie so unbewohnt, wie sie aussieht? Werden die beiden vielleicht dort Antwort auf ihre Frage finden, wer ihre Eltern waren? Eine Reise voller Rätsel. 

Nachstehend als Leseprobe das Kapitel „Die traurige Cäcilie“:

 

Die traurige Cäcilie

 

„Glaubst du, wir werden jemals  erfahren, ob unsere Eltern noch leben?“, zweifelte Tom. Inzwischen kamen die Kinder der Burg immer näher. Als sie sie endlich erreicht hatten, fanden sie die große Hebebrücke verschlossen. 

Einen anderen Eingang als diesen sahen sie nicht. 

„Wenn sich die Brücke nicht von selbst herabsenkt, glaube ich das kaum“, erwiderte Klara,  „wir  werden  hier  unser Nachtlager bereiten. Mal sehen, ob jemand kommt und uns einlässt.“ Sie sammelten Holz, um Feuer zu machen. Nach kurzer Zeit rösteten sie ihr mitgebrachtes Weißbrot über den Flammen. Tom liebte das etwas Angebrannte. Klara kratzte sich mit einem Messer die schwarze Kruste herunter.

Allmählich wurde es dunkel.  Der Mond zog seit einer Weile seine Bahn.  Die Sterne funkelten am Nachthimmel. „Schau‘ mal Klara, da! Eine Sternschnuppe!“, unterbrach Tom die Stille. 

„Hotzpotz, wen haben wir denn da? Zwei Kinder, die sich verlaufen haben!“ 

Ein großer Mann mit langem schwarzem Bart und einem grünen, verblichenen Filzhut stand wie aus dem Nichts vor ihnen und schaute sie aus tiefschwarzen Augen an. „Wer hat euch hierher geführt, und warum seid ihr ganz allein hier im Wald?“ „Wir haben ganz alleine hierher gefunden.  Wir glauben, dass wir hier erfahren, wer unsere Eltern waren. Und wer sind Sie? Wer wohnt in dieser Burg?“ Klara sprach mit fester Stimme, nur das Herz schlug ihr bis zum Hals. Tom erging es ebenso. Er versteckte sich hinter seiner Schwester und hielt sich an ihr fest.

„Ihr braucht keine Angst zu haben. Ich tue euch nichts. Mein Name ist Aron. Ich lebe seit langer Zeit  hier im Wald. Ab und zu verirren sich ein paar reisende Gesellen hierher. Denen weise ich den Weg. Übernachtet hat hier noch niemand. Ihr seid die ersten, die sich bis zu dieser Burg gewagt haben. Außer mir wohnen hier nur die Waldgeister.“ Tom nickte. Ein paar hatte er bereits unterwegs gesehen. 

„Es gibt hier in der Burg viele vergessene Seelen ...“, Aron legte einen Finger auf seinen Mund, „psst, hört mal, da weint jemand!“ Arons Stimme klang beruhigend für die Kinder. Sie folgten ihm ohne Zögern zur Burg. 

Als sie ankamen, warf der Mond sein Licht auf ein Kellerfenster. Dahinter erkannten die drei den Schatten einer Frauengestalt in einem langen Ballkleid. Sie weinte und wischte sich mit einem weißen Taschentuch die Tränen vom Gesicht. Eine große Kerze brannte auf einem Holztisch. Ihr Licht erhellte ein wenig den finsteren Raum. „Warum weint die Frau?“, wollte Tom wissen.

„Ich weiß es nicht, vielleicht fragst du sie selbst?“ Aron nahm ein Steinchen und warf es an das Fensterglas. Die Frau erschrak. Sie stieg auf einen Stuhl und öffnete das Kellerfenster.

„Was wollt ihr hier?“ Ihr Ton klang bitter. Klara entgegnete: „Wir haben Sie weinen sehen und dachten, wir fragen, ob wir Ihnen helfen können?“

 

„Ich weine, weil sie  mich hier vergessen haben. Sie haben mich zurückgelassen auf der Erde, und keiner kommt, um mich zu holen.“ „Sind Sie denn tot?“, wollte Tom wissen. „Ja und nein, mein Junge ... wie ist dein Name?“ „Tom, ich heiße Tom.“ „Weißt du Tom, ich hänge fest zwischen zwei Welten.“ Die Frau geriet ins Träumen. „Wir haben wunderschöne Feste gefeiert, prächtige Kleider getragen, herrliche Musik und den Wein genossen. Ich habe auf meinem Flügel gespielt. Alle haben mir zugehört, wie ich die neuesten Kompositionen von Frederik Chopin und Franz Liszt vorgetragen habe.“ „Chopin kenne ich!“, rief Klara. „Der hat sehr schöne Musik geschrieben!“  

„Sie nannten mich Cäcilie“, erzählte sie weiter, „jetzt sind sie alle längst im Himmelreich. Ich werde sie nie wiedersehen.“ 

Tom blickte ratlos zu Aron. Wie meinte sie das?, dachte er.  

„Wenn doch endlich jemand käme und mich erlöste.“ Cäcilie seufzte. 

Aron wurde ungeduldig. „Cäcilie, ich habe dir schon hundertmal gesagt: Nur du selbst kannst dich erlösen! Wende dich ab von deinen weltlichen Wünschen und bete! Dein Engel wartet schon lange auf dich, um dich heimzuführen.“ „Ja Aron, ich glaube, du hast recht. Jetzt bin ich endlich soweit. Ich sehe das Licht aufgehen …“ 

Mittlerweile war fast unbemerkt die Nacht vorübergegangen. Die ersten Sonnenstrahlen schienen auf das Kellerfenster. „Oh, seht nur, seht!“, rief Klara, „Cäcilie ist verschwunden, es ist nur noch Staub dort, wo sie gestanden hat!“

„Das Licht konnte sie erlösen, weil ihr bis zum Tagesanbruch bei ihr geblieben seid“, sagte Aron, „ich danke euch für eure Hilfe.“

„Klara, lass‘ uns endlich nach Hause gehen“, flehte Tom. „Nein, wir geben jetzt nicht auf“, meinte Klara bestimmt. „Vielleicht gibt es jemanden in der Burg, der uns sagen kann, wer unsere Eltern waren.“ Sie war voller Hoffnung. „Aron, kannst du uns begleiten?“ 

Klara drehte sich um, doch auch Aron war wie von Geisterhand verschwunden.

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Poet's Gallery Beitrag Juni 2020 www.schreibfertig.com         Sabine Müller

 

Sabine Müller, geboren 1959, liebt Geschichten. Schreiben ist für sie nicht nur Mitteilen oder Hinterfragen, sondern in eine Welt der Phantasie, der Wünsche und Hoffnungen einzutauchen. Mitte der 90ziger Jahre entschloss sie sich, ihrem Hobby ein solides Fundament zu geben und absolvierte neben ihrem Vollzeitjob ein Studium für  Kreatives Schreiben bei der Akademie für Fernstudien in Hamburg.

Diverse nachfolgende Workshops, Schreibreisen und der Kontakt zu anderen Schreibfreudigen motivierte sie dann 2015 zu dem Schritt, ihr erstes Buch mit Kurzgeschichten „Rendezvous im Grünen und andere Geschichten“ im Selbstverlag unter ihrem Mädchennamen Sabine Römer herauszubringen.

Die Gewerkschaftsangestellte nutzt ihr Hobby, um ihrem hektischen Alltag einen Ruhepol zu geben. 

Schon jetzt hat sie wieder viele Ideen für neue Schreibprojekte, arbeitet aktuell an ihrem ersten Roman und absolviert nebenbei die Romanwerkstatt der Kleinenfeinen Schreibschule. Die Autorin lebt mit ihrem Lebenspartner in Bremen.

 

Mutter

 

Du sitzt vor mir mit müden Augen,

seufzt und fragst, was das Leben noch für einen Sinn hat.

Die Gelenke schmerzen, das Gehör schwindet, die Augen werden immer schlechter.

Es ist so viel passiert in den Jahren, die hinter dir liegen.

Du hast es mir erzählt, immer wieder.

Und doch gibt es ein paar Geschichten, die nie erzählt wurden. 

Warum?

Wer will sie hören, fragst du mich.

Ich will sie hören ... und verstehen.

Ach Kind, belaste dich nicht damit.

Genieße dein Leben, sagst du und ich versuche,

in deinem Gesicht zu lesen, die Falten zu deuten,

die Gedanken hinter deiner Stirn zu erkennen.

Ein leises Lächeln umspielt deine Augen.

Es ist gut so, sagt dieses Lächeln.

Und ich versuche, es zu glauben.

 

 

Was ist wichtig?

Ja, was ist eigentlich wichtig im Leben? Das habe ich mich schon öfters gefragt. Lasse ich mein Leben Revue passieren, so merke ich, dass sich die Antworten auf diese Frage im Laufe der Jahre immer wieder geändert haben. Ich denke, das ist normal. Mit 15 sind die Ansprüche an das Leben natürlich anders als mit 61. War früher der Wunsch nach Erfolg, Anerkennung und Besitz ein ständiger Antreiber, so ist es mir jetzt wichtiger gesund zu bleiben, die Menschen, die mir wichtig sind, um mich zu haben, gemeinsame Zeit miteinander zu verbringen ….. nicht erst seit Corona aber jetzt ganz besonders. Die Frage, wie es in Zukunft weitergehen soll, weitergehen wird, treibt nicht nur mich um.

Was ist wichtig? 

Ich ertappe mich, Pläne zu machen. Pläne für die nächsten Monate, Pläne für das nächste Jahr. Und dann frage ich mich, ob es Sinn macht zu planen oder ob es nicht sinnvoller ist, den Moment im Hier und Jetzt zu genießen. Das Leben zu genießen, so wie es mir meine Mutter geraten hat.  Das verunsichert mich. Ich stelle fest, dass ich immer alles in meinem Leben geplant habe. Ohne Plan habe ich Angst, mich zu verlieren. Brauchen wir nicht alle irgendwie Pläne? Ein Plan schafft eine Struktur. Eine Struktur, an der ich mich entlang hangeln kann, die mir Sicherheit bietet. Ohne diese Sicherheit kann ich nicht genießen. Das Leben genießen bedeutet auch, sich mit einem Plan Vorfreude zu sichern. Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich auf meinem Sofa, das Laptop auf den Knien. Ich habe mir für heute Urlaub genommen. Die Waschmaschine läuft, die Steuererklärung habe ich heute früh erledigt. Das habe ich gestern für heute geplant und kann nun diese Zeit genießen. Heute gibt es zum Abendessen Fisch, ich werde ein neues Rezept ausprobieren. Das ist mein Plan und ich freue mich darauf, ihn abends umsetzen zu können. Planen und genießen schließen sich also nicht aus. Es macht insofern durchaus Sinn zu planen, auch wenn sich manche Pläne zurzeit nicht realisieren lassen. So wie der geplante Urlaub im Ausland, die geplante große Feier mit der Familie und den Freunden …. alles zurzeit nicht möglich. Doch ist das wichtig? Nein, wichtig ist das nicht. Es wäre schön gewesen, aber es ist wichtiger, dass wir gesund bleiben, um uns zu einem späteren Zeitpunkt zu sehen, um uns auf eine Reise zu einem späteren Zeitpunkt zu freuen – um uns auf die Zukunft zu freuen. Nicht den Mut verlieren, das Leben zu planen und zu genießen. 

Das ist wichtig!

 

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Poet's Gallery Beitrag April 2020 www.schreibfertig.com Barbara Schirmacher

Barbara Schuhmacher wuchs an der Ostsee auf. Sie studierte in Hamburg und Tübingen Pädagogik und Theologie. Es folgten zwanzig Jahre Lehrtätigkeit und dann die Ausbildung zur Psychotherapeutin mit weiteren Berufsjahren in eigener Praxis. Sie lebt mit ihrem Mann, erwachsenen Kindern und Enkelkindern auf dem Lande und in Hamburg. Schreibend erforscht sie ihre Fragen an das Leben. 

 

2018 veröffentlichte sie "Ein aufrechter Mensch. Mein Großvater Otto Globig". Eine Spurensuche, das Schicksal ihres Großvaters zur Zeit der Naziherrschaft betreffend. 

 

 

Nachstehend präsentieren wir drei Gedichte aus dem Band „Lieben gelernt noch einmal von vorn“, BoD – Books on Demand, Norderstedt 2020, von Barbara Schirmacher. Die Autorin bringt uns diesen Prozess existenziellen Ringens um Lebendigkeit und erfülltes Dasein in poetischen Bildern von vitaler Sprachkraft nahe.

 

 

 

Lila lila

humpedei

 

spring in dein Glück

spring nicht vorbei

finde den Flügel

setz dich nicht drauf

lauf mit den Tränen

halt sie nicht auf

spür das Geheimnis

lach mit dem Sturm

trau auf die Wolken

wag dich nach vorn

hör auf die Flöte

sprich mit den Weisen 

sammle das Schweigen

 streichle den Tod

 Lila singt leise

von Blau und von Rot

 

 

... die Liebe aber

 

Wenn du die Hände um mein Gesicht legst

wenn ich die Wangen an deine Wärme schmiege

taucht etwas auf zwischen uns

aus vergessener Tiefe

nicht von dieser Welt

doch ohne jeden Zweifel

es war

einst

und immer noch

malt es sich auf jede Pore

ein Glanz vielleicht oder ein Schimmer

der leuchtet noch 

wenn du gegangen

 

 

Kleiner Sommer

 

Salderatzen Tolstefanz

Falke Milan Wolkenberge

reinzubeißen draufzuhauen

Hüpfburg Urviech Drachenhöhle

Sommerrausch auf schmaler Straße

Kornblumen Johanniskraut

unerwartet stundenlang

Sonne im Tief Angelika

 

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Poet’s Gallery Beitrag November 2019

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Gudrun Hammer

Gudrun Hammer schreibt Geschichten, ob kurz oder lang. Am liebsten nach dem  Motto: Was du nicht begreifst, davon musst du erzählen.

Anfang der Kurzgeschichte 

Die Suche aus dem  Erzählband

" Lieberkühn“, edition wohlwill, Hamburg 2017 


Ich frage in einer Buchhandlung nach Martin und dem Fortgang seiner Arbeit. Die Buchhändlerin erteilt mir Auskunft. Mit  sorgenvollem Gesichtsausdruck erzählt sie, dass der  Schriftsteller  zurzeit und zu seinem Leid schon seit Längerem n den Filialen der Großbuchhandlung Heinrich, und zwar in Altona, aber auch in der kleinen Freiheit, anzutreffen sei. Ein kleines Lächeln glättet die Stirnfalten der Frau. Martin W. würde sich nur noch ungern dort aufhalten. Er hätte mit der Recherche für seinen neuen Roman bereits vor einem halben Jahr begonnen und würde nun damit  fortfahren, weil er, das sei ein offenes Geheimnis, sich einen Beginn der Schreibarbeit nicht vorstellen könne. So sei er jeden Tag in einer der beiden Buchhandlungen anwesend, um Menschen zu treffen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Im Grunde genommen hätte er aber keine Lust mehr zu diesem Zeitvertreib. Ein Abschied von der Öffentlichkeit würde ihn jedoch an den Schreibtisch zwingen, und dieser Situation fühle er sich erst recht nicht gewachsen. So treibe er sich zumeist in den hinteren Räumlichkeiten des jeweiligen Ladens herum, schaue mürrisch dem Publikumsverkehr zu, sei nur selten zu einer Auskunft über seine Person oder eines seiner Werke bereit und habe beinahe jegliches Interesse an den Kunden verloren. Martin W., verrät mir die Buchhändlerin, wirke verstört. Er befinde sich in einer Krise, die eigentlich eine Schreibkrise sei. Das wage sich der berühmte Schriftsteller allerdings nicht einzugestehen und so quäle er das Verkaufspersonal der Firma Heinrich mit seiner schlechten Laune. Vor einem halben Jahr habe er seine Umgebung noch mit Witzen und kleinen Späßen aufgemuntert, er habe den Kunden viele Fragen gestellt und einen Schreibblock nach dem anderen mit seiner bescheidenen Schrift gefüllt. Ja, er habe ein echtes Interesse am lesenden Menschen gezeigt. Jetzt jedoch bleibe er auf seinem Stuhl sitzen, schlage die Beine übereinander, kreuze die Arme vor der breiten Brust und enerviere die Kolleginnen und Kollegen mit seinem gelangweilten Gesichtsausdruck. Ab und zu würde er den Tisch mit den Neuerscheinungen inspizieren, hier und dort ein Buch in die Hand nehmen, mit dem Zeigefinger den Text einer willkürlich aufgeschlagenen Seite verfolgen und dabei den Kopf schütteln. Martin W. mache einen sehr unzufriedenen Eindruck, sagt mir die Buchhändlerin. Doch wage niemand einzuschreiten. Denn einerseits würden viele Menschen den Laden nur seinetwegen betreten, zwischen den Regalen wandeln und auf eine Ansprache des Meisters warten. Es sei in der Kleinen Freiheit vorgekommen, dass ein in der Buchhandlung unbekannter, schüchterner junger Mann eine ganze Stunde hin und her gelaufen sei, von der Lyrik bis zum Ratgeber für Hobby-Gärtner alles in der Hand gehalten, dabei des Öfteren einen verschämten Blick in Richtung Martin W. geschickt habe und mit einer zutiefst unglücklichen Miene und ohne mit jemandem gesprochen zu haben, die  Heinrichsche Buchhandlung verlassen habe. Da manche dieser Neugierigen und zugleich um Aufmerksamkeit Heischenden nicht wagen würden, ohne den Kauf eines Buches getätigt zu haben wieder zu gehen, würde sich sogar die Anwesenheit einer griesgrämigen Berühmtheit bezahlt machen. 

 

Das Geschäftliche rangiere schließlich vor dem Betriebsklima und komme letztendlich dem angestellten Personal wieder zugute.

Die Buchhändlerin stößt einen kaum merklichen Seufzer aus. Zudem würde beinahe in jeder Woche ein Pressevertreter nach Martin W. schauen. Es würde sich immer um denselben Mann, Lokalredakteur eines Stadtteilblattes, handeln. Die wirklich wichtigen Kollegen seien nicht mehr interessiert. Die Nachricht vom Dichter in der Buchhandlung sei Schnee von gestern und ein müder Dichter keine Schlagzeile

wert. Meine Informantin rückt einen neben der Kasse liegenden Bücherstapel gerade und zuckt mit den Schultern. So sei es nun einmal. Aber man könne Martin W. schließlich nicht vor die Tür setzen. Herr Heinrich sei ein Freund des Schriftstellers, diese Verbindung würde  die derzeitige Situation verschlimmern. Die Buchhändlerin schweigt und sieht mich über die Kasse hinweg an. Ich bedanke mich bei ihr für die Informationen. Dann frage ich sie nach dem Weg zur Kleinen Freiheit, die, wie sich herausstellt, parallel zur Großen Freiheit liegt. …

 

Siehe auch Buchtipp für März 2020 Gudrun Hammer  

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  Ich habe einen Blog: waltraudfitschen.wixsite.com/sophie-precht

Poet’s Gallery Beitrag Januar 2019

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Barbara Schirmacher

Barbara Schirmacher wuchs in Heiligenhafen an der Ostsee auf. Sie studierte in Hamburg und Tübingen Pädagogik und Theologie und war etwa 20 Jahre lang Lehrerin.

Dann ließ sie sich zur Psychotherapeutin ausbilden und arbeitete in eigener Praxis. Sie zog drei Kinder auf, lebt mit ihrem Mann in Hamburg und hat Freude an ihren fünf Enkelkindern. Das Schreiben ist indessen in den Mittelpunkt ihres Lebens gerückt.

Nachstehend präsentieren wir den Beginn von „Ein aufrechter Mensch. Mein Großvater Otto Globig“, BoD – Books on Demand, Norderstedt 2018, von Barbara Schirmacher. Die Autorin begibt sich dabei auf Spurensuche nach ihrem Großvater, dem die unverbrüchliche Freundschaft und Treue zu dem jüdischen Arzt, der seiner Tochter einst das Leben rettete, unter dem Regime des Naziterrors zum Verhängnis wurde und dessen Schicksal über Jahrzehnte unter dem Siegel des Verschweigens verborgen war. 

 

Ein aufrechter Mensch

Mein Großvater Otto Globig

 

Lieber Großvater,

ich bin noch nicht geboren, doch Du weißt, dass ich schon bei Mama im Bauch bin. Und ich weiß, dass Du heute der einsamste Mensch auf der Welt bist. Allein in einer Gefängniszelle, an einem Ort, wie er trostloser nicht sein kann. Jetzt, wo die Zellentür hinter Dir zugefallen ist und der Wachmann sich entfernt hat, bin ich, Deine erste Enkelin, zu Dir geschlüpft. Weil ich Dir etwas sagen muss. Etwas Wichtiges: Ich freue mich auf Dich, meinen Großvater! Ich hab Dich lieb. Ich freue mich darauf, Dich kennenzulernen, Dir näher zu kommen.

Deine ungeborene Enkelin Im Sommer 1940

Jahrzehnte später 

Jahrzehnte später stieß ich in einer Ausstellung in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin auf ein Schwarz-Weiß-Foto. Es zeigte eine Zelle des Strafgefängnisses Tegel. Der Eindruck des düsteren schmalen Raumes legte sich augenblicklich beengend um meinen Brustkorb und ich wich unwillkürlich zwei Schritte zurück. Eine vom vergitterten Fensterchen schräg über Hocker und Pritsche einfallende Lichtbahn verstärkte die hoffnungslose Atmosphäre.

Die Ausstellung war einem der prominenten Gegner des Nationalsozialismus, Helmuth James von Moltke, gewidmet. Er und seine Frau Freya hatten während seiner Haftzeit fast täglich Briefe gewechselt. Sie schrieb ihm nach der Verurteilung zum Tode, es sei ihr ein Trost, dass er nicht für Hitler sterbe wie die vielen da draußen, sondern gegen ihn. 

Mein Großvater war einer der kleinen Leute. Er führte ein anständiges, unauffälliges Leben, wie unzählige andere auch. Dennoch wurde er verurteilt. Sein Freund, der Rechtsanwalt, war nach der Verhandlung so erschüttert, dass er kaum bemerkte, wie der Zug von Berlin zurück nach Landsberg über die Oderbrücke rumpelte. Lange hat meine Großmutter ihm auf seinen Bericht hin den Rücken zugekehrt. Lange stand sie am Fenster und starrte mit ihren tiefblauen Augen blicklos nach draußen. In einer Wortlosigkeit, aus der sie ihr Leben lang nicht wieder herausfinden sollte, wenn es um ihren Mann ging.

Die Wahrheit über meinen Großvater, ein unter dem Nebel des Verschweigens verborgenes Geheimnis. Seit dem Besuch der Ausstellung rumorte es in mir, ließ mich nicht mehr los. Noch einmal löcherte ich Tante Gertrud, als sie bereits in ihren Achtzigern war. Als Angestellte der Polizeiverwaltung, das Büro mit Aussicht auf den Gefängnishof, hatte sie ihren Vater im Blickfeld, als er dort während der Untersuchungshaft seine Runden drehen musste. 

Ob er einmal zu ihr hinauf gewinkt hat? Er wusste doch wahrscheinlich, in welchem Zimmer der Polizeiverwaltung ihr Schreibtisch stand. Ebenso wird ihm klar gewesen sein, dass sie ihn von oben sehen konnte. Aber – wollte er sich überhaupt zu erkennen geben? Oder lähmte ihn die Scham? Die Scham, den Blicken seiner Tochter ausgesetzt zu sein. Ohne die Möglichkeit, sich diskret der Situation zu entziehen. Jeden Tag wieder gezwungen, diese Stunde durchzustehen. Hinter seinem Vordermann her trottend im engen Kreis. Hände auf dem Rücken. Blick zu Boden. „Ich hab ihn gesehen, den Papa, im Gefängnishof, man kann sich ja vorstellen, wie mir zumute war“, sagte sie. Dann schwieg sie wieder und es war klar, sie würde auch diesmal nicht weitersprechen. Ich nickte und begrub meine letzte Hoffnung, doch noch etwas über das hinaus, das ich von meiner Mutter über ihn wusste, von ihr in Erfahrung zu bringen.

*

Doch der Stein, der mit der Ausstellung in der Berliner Gedächtniskirche ins Rollen gekommen war, ließ sich nicht mehr aufhalten. Es arbeitete in mir. Meine Gedanken kreisten um die Ereignisse, die sich seit seiner Verhaftung abgespielt haben mochten. Die Bruchstücke, die ich herausbekam, ergänzte das Bewusstsein mit Bildern, die in mir aufstiegen, und Atmosphären und Empfindungen, die sie untermalten.

Der Familie, auch ihm selbst, musste klar gewesen sein, er würde im Gefängnis nicht lange durchhalten. Von Tag zu Tag spürte er den Druck in seinem Herzen stärker werden. Ein zierlicher Mann, von schlankem Knochenbau. Schon in guten Zeiten neigte er zur Hohlwangigkeit. Jetzt, in der Haft, vertieften sich die Schatten in seinem Gesicht von Tag zu Tag. Er atmete auf, als sein Rechtsanwalt, ein guter Freund der Familie, der an Sommerabenden gern auf ein Gläschen zu ihm in den Garten kam, endlich nach Wochen die Nachricht brachte, dass die Untersuchungshaft ein Ende haben würde. Die Gerichtsverhandlung war für den 3. Juni 1940 angesetzt. Allerdings nicht in Landsberg an der Warthe, sondern in Berlin. Am Sondergericht. Der Rechtsanwalt entschloss sich, dies nicht als schlechtes Omen zu nehmen, und ermutigte seinen Freund Otto nach Kräften. Wir fahren nach Berlin zu der Verhandlung und abends sind wir wieder zurück in Landsberg. Selbst die Nazis können aus einer solchen Bagatelle nichts Großes machen. Otto Globig fuhr also zuversichtlich nach Berlin. Mit Handfesseln, hinten auf der harten Holzbank der Grünen Minna, begleitet von einem Wachmann. An den vergitterten Fensterchen huschten die Chausseebäume des Warthebruchs in ihrer frühsommerlichen Pracht vorbei. Die Kirschbäume in seinem Garten hatten hoffentlich gut angesetzt. Wie jedes Jahr würde er einen Teil der Ernte zu Kirschwein verarbeiten. In einer Anwandlung behaglicher Tatkraft wollte er sich die Hände reiben und wurde sich ruckartig der Handfesseln bewusst. Das Polizeiauto rumpelte auf den Pflasterstraßen von Küstrin und Ottos Herz machte Sprünge. Das schmerzte. Wenn alles gut ging, würde er das Gericht als freier Mann verlassen. Dafür würde sein Verteidiger plädieren. Unbescholtener Bürger Landsbergs, nein, unbescholtenes Mitglied der Volksgemeinschaft, in tapferem Einsatz als Soldat im Ersten Weltkrieg hatte er dem Vaterland seine Gesundheit geopfert und brachte auch jetzt Opfer ohne Rücksicht auf die eigene berufliche Existenz. Sein eigentlich unabkömmliches Auto stand im Dienst der neuen Zeit und seine ausgedehnten Dienstfahrten in die Umgebung Landsbergs führte er, der gesundheitlich angeschlagene, vierundfünfzigjährige Angestellte der Victoria-Versicherung, mit dem Fahrrad aus.

Otto knirschte mit den Zähnen. Diese Hunde. Diese Hakenkreuz behängten Hunde. Grinsend zeigten sie die Zähne, als sie ihm den Autoschlüssel für kriegswichtige Zwecke abnahmen. Höhnisch grüßten sie ihn mit ihrem Heil Hitler aus dem offenen Wagenfenster seines Opel Olympia, auf dem Rücksitz zwei lachende junge Frauen.

*

Otto Globig war ein Junge vom Lande. Seine Mutter führte die Gastwirtschaft im Dorf Gruhno, Kirchspiel Friedersdorf, Kreis Luckau, wo er 1886 geboren wurde. Als sein Vater starb, war Otto gerade elf Jahre alt. Als die Mutter dem Vater ins Grab folgte, war er zwanzig. Nach Volksschule und Konfirmation arbeitete er in der Landwirtschaft, dann folgte der Militärdienst bei der Artillerie Seiner Majestät des Kaisers. Am 18. September 1911 wurde er bei der Victoria-Versicherung eingestellt. Der nun Fünfundzwanzigjährige arbeitete zunächst als Einnehmer. Ging von Tür zu Tür und kassierte wöchentlich die geringen Prämien für die Volksversicherung, eine 1892 eingeführte Lebensversicherung mit niedriger Versicherungssumme für die „untere Volksklasse“, so eine Verlautbarung der Victoria. Aus dem Ersten Weltkrieg kam er mit einer dreißigprozentigen Kriegsbeschädigung an Herz und Magen zurück und schaffte es trotzdem, in den Inflationswirren nicht mit der großen Zahl der Einnehmer entlassen zu werden, sondern in der Victoria-Versicherung voranzukommen. Er wurde Generalagent für Landsberg und Umgebung mit einem monatlichen Gehalt von 250.- Reichsmark plus Reisespesen und konnte sich 1934 sein erstes Auto leisten, einen Ford Cabrio, stolzes Zeichen seines Erfolges. Die beiden Töchter Gertrud und Gretel, meine Mutter, mit ihren damals zwanzig und neunzehn Jahren fast volljährig, machten bald den Führerschein und genossen eine weitere Facette ihres sorglosen Lebens als berufstätige, finanziell unabhängige junge Frauen. Ihr Vater ließ sie großzügig ans Steuer, wie er überhaupt seinen behaglichen Wohlstand gerne mit Freunden und Bekannten teilte. Er liebte Geselligkeit im sommerlichen Garten und an Winterabenden in der Meydamstraße bei Hausmusik und Kirschwein. Meine Mutter sprach gern von ihrem Papa; von ihr wusste ich, wie fröhlich er war und wie viel ihm daran lag, dass die Menschen um ihn herum es auch waren. Ich erinnere mich an das Foto auf der Anrichte in der Wohnstube im Heiligenhafen meiner Kindheit. Damals schienen mir seine Augen immer dunkel und traurig und ich hielt dem Bild nur deshalb etwas länger stand, weil die Mutter mit so warmer Stimme zu dem Foto hinsprach, mein Papa. Aber in mir scheute etwas davor zurück, Fragen nach ihm zu stellen.

Er hatte es gerne lustig, sagte die Mutter, und ich stellte mir vor, er hätte mich als kleines Mädchen kennengelernt. Er hätte meine Hand in seine genommen und wir wären zusammen um den See in seinem Garten gewandert. Er hätte mir dunkelrote Kirschen über die Ohren gehängt und vielleicht hätte er im Gartenhaus einen festen Bogen Papier gefunden und mir einen Hut gefaltet. Dann wären wir vom Bootssteg aus in den kippligen Kahn geklettert. Er hätte die Ruder ins Wasser getaucht und mir die große weite Welt gezeigt. Ich habe eine Postkarte gefunden, die er aus einem Kurort geschrieben hat. Er musste gut auf sein Herz achten. Auf dieser Karte schrieb er der Oma: „Die Damen hier tragen neuerdings Dauerwelle. Das sieht sehr hübsch aus. Lass dir doch auch so etwas machen.“ Und außerdem ermahnte er sie, und das hat mich ganz innig berührt, weil ich an das heiß gedrückte Fünfzigpfennigstück dachte, mit dem ich als Kind auf dem Jahrmarkt haushalten musste, er hingegen ermahnte sie: „Lass die Kinder tüchtig Karussell fahren.“ Wenn mein Großvater mit mir zum Jahrmarkt gegangen wäre ... Wie sehr vermisste ich ihn, wie sehr fehlte er uns allen. (...)

 

An dieser Stelle laden wir zugleich herzlich ein zu der Lesung von Barbara Schirmacher im Rahmen der 

Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus 

Hauptkirche St. Michaelis 

am 27. Januar 2019, 16:00 Uhr.    

Aktueller Buchtipp

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Poet's Gallery Beitrag November 2017

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Thorsten Oliver Rehm 

Thorsten Oliver Rehm, Jahrgang 1970, ist selbst passionierter Taucher und Absolvent der „Schule des Schreibens", im Belletristik-Kurs unter der Leitung von Hartmut Fanger.

 

Nach einer betriebswirtschaftlichen Ausbildung ist er seit vielen Jahren im kaufmännischen Bereich tätig.

 

Seine Leidenschaft für das Schreiben bricht sich nun Bahn. Sein Roman-Debüt: ein Thriller, aber natürlich auch ein Taucherroman!

 

Thorsten Oliver Rehm ist verheiratet und Vater von zwei Kindern

Thorsten Oliver Rehm

Auszug aus seinem Roman „Der Bornholm-Code“, gebunden, mit Schutzumschlag, ca. 500 Seiten, ISBN 978-3-920793-30-6, EUR 26,80 (D), sFr 43,40, EUR 27,80 (A). Ab 8.12.2017 überall im Handel erhältlich.

 

Lars schaltete das Satellitentelefon aus. Gedankenverloren strich er mit der Hand über seine Bartstoppeln und blickte auf die an diesem Tag raue See. Trotz des Seegangs hatten die Forschungstaucher seines Teams heute die übliche Anzahl Tauchgänge unternommen. Die Zeit für das Projekt war knapp bemessen, jeder Tag auf See kostete riesige Summen. Der Etat für diese Expedition war nur widerwillig genehmigt worden. Umso effizienter musste die Mannschaft arbeiten, wenn er eine Chance auf Verlängerung des Projekts haben wollte. Seit den gestrigen Ergebnissen wusste er, dass die angesetzten elf Tage auf See nicht reichen würden.

 

Er schlenderte zum Heck der Baltic Sea Explorer I, dem besten Forschungsschiff des archäologischen Instituts, für das er seit nunmehr dreizehn Jahren tätig war. Das Gespräch mit Frank war ein Flop gewesen. Lars hätte darauf gewettet, dass er seinen früheren Partner aus der Reserve locken würde, doch dessen war er sich nun nicht mehr sicher. Zweifelsohne waren sie hier, vor der Küste der dänischen Ostseeinsel Bornholm, auf sensationelle Funde gestoßen. Diese würden ihn auf die nächste Sprosse seiner Karriereleiter führen. Doch ihm fehlten die entscheidenden Teile im Puzzle. Was sie hier entdeckt hatten, ergab keinen Sinn. Er benötigte Frank, seine Kompetenz, seine Erfahrung, und vor allem seinen Riecher. Franks wissenschaftliche Spürnase hatte sie beide immer zum Erfolg geführt. Fast immer zumindest, denn bei ihrem letzten gemeinsamen Projekt war es anders gelaufen; doch sie würden an dem damaligen Punkt wieder anknüpfen können, da war sich Lars sicher! Ja, er war auf eine heiße Spur gestoßen, auch wenn er noch nicht einschätzen konnte, wohin sie ihn führen würde.

 

„Dr. Berends! Dr. Berends!“, rief ein Mann aus der Tauchereinheit aufgeregt. „Kommen Sie schnell! Das müssen Sie sich ansehen!“

 

An Bord befanden sich Salzwasserbecken. Dort legten sie die aus dem Meer geborgenen Fundstücke ein, um sie möglichst unter Luftabschluss zu halten. Lars sah ein paar Teamleute um eines der Becken stehen und debattieren. 

 

Als er in die große Wanne blickte, weiteten sich seine Augen. Er zog Handschuhe über und nahm eines der Objekte aus dem Becken heraus.„Das kann nicht sein“, die Stimme versagte ihm. Lars räusperte sich. „Aus welchem Wrack habt ihr es?“

Aus Wrack B“, antwortete ein anderer Taucher, der sich gerade aus seinem Trockentauchanzug pellte.

Lars erstarrte.

 

„Das kann nicht sein“, wiederholte er benommen, wohl wissend, dass es tatsächlich so war, denn der Crew unterliefen bei den Aufzeichnungen keine Fehler. Trotz seiner Funktionsjacke bekam er eine Gänsehaut. „Das kann einfach nicht sein.“

 

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www.thorstenoliverrehm.de 

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Poet's Gallery Beitrag August 2017

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Susanne Bertels

Susanne Bertels ist 1958 in Hamburg geboren.

Sie arbeitet hauptberuflich als Pastoralpsychologin; zu einer Hälfte in einer kirchlichen Beratungsstelle und zur anderen als Ausbilderin für Seelsorge 

In ihrer Freizeit schreibt sie seit ein paar Jahren und holt sich mit viel Freude gern Anregungen in Gruppen für Kreatives Schreiben, wie in der offenen Schreibgruppe von Erna R. und Hartmut Fanger.

 

Heimliche Liebe

Zuerst bist du nur da als Ahnung, unbestimmte Sehnsucht. Dann kommt das Verlangen. Ich suche die Begegnung mit dir; weiß dich zu finden in den unterschiedlichsten  Zusammenhängen   im Supermarkt, am Bahnhof, an der Tankstelle.

Fast immer gelingt es mir, dich aufzuspüren. Das Gewand, in dem du daher kommst, ist verheißungsvoll und erhöht die Vorfreude. Deine Figur passt sich den unterschiedlichen Situationen an, wird  vor allem durch die Jahreszeiten geprägt: mal sinnlich rund, mal flach und kompakt.

Ich freu mich darauf, dich in die Hand zu nehmen, auf den Augenblick, da du ganz mir gehörst. Sorgfältig wähle ich dich unter den vielen Möglichkeiten aus.

Und dann ist der Zeitpunkt da.

Mal sofort und voller Ungeduld, mal zelebriert in einem besonderen Ambiente. Unsere Begegnung ist mitunter stürmisch, voller Verlangen, und dann wieder genussvoll, langsam und bedächtig. Liegst du erst enthüllt vor mir, entfaltet sich dein Duft und ich bin ganz hingerissen von deiner Farbe. Meist in schönem, satten Braun, mitunter jedoch auch weiß und manchmal, ja manchmal treffen die Farben aufeinander.

Wenn meine Zunge sich dir nähert, kommt es zum Höhepunkt. In dem Maße, in dem du dahin schmilzt, versinke ich im Glück. Gern würde ich diesen Moment verlängern und ewig wie auf einer Wolke schweben. Aber dann ist es plötzlich vorbei.

Beseelt bleibe ich zurück. Ich ahne schon, dass mein Glücksgefühl nicht ewig anhalten wird.

In der Ferne winkst du mir schon zu und ich werde ihn wieder suchen, den Zeitpunkt dieser Begegnung mit dir, oh du meine - Schokolade!

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