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Nachlese zum G20–Gipfel: Der Protest der Bürger – packend und bunt, kreativ und friedlich!

 

Was angesichts der Bilderflut über die Gewalt im Schanzenviertel unterging:

Bereits im Vorfeld, am 28. Juni, kam der unermüdliche 83-jährige Globalisierungskritiker Jean Ziegler ins Schauspielhaus, stellte die Legitimation des G20-Gipfels radikal infrage, erklärte dafür allein die UNO als zuständig. Zugleich appellierte er an den deutschen Rechtsstaat, der alle Mittel in der Hand hielte, die Strukturreformen, die es zur Veränderung einer „kannibalischen Wirtschaftsordnung“ bedürfe, durchzusetzen. Er müsse sie nur nutzen. Den beeindruckenden Auftakt bildete dann am Mittwoch vor dem Gipfel die Kunstaktion der 1000 Gestalten. Initiiert von der Künstlergruppe „das kollektiv“. In Lehm gehüllt, zunächst strauchelnd, buchstäblich am Boden, teils kriechend, gezeichnet von Resignation, Einsamkeit, Angst und Verzweiflung, vereinzelt und verloren. Grandiose Übersetzung der Kehrseite einer in erster Linie auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Globalisierung, wo der Einzelne zunehmend auf der Strecke zu bleiben droht. Bis die ersten ausbrechen. Sie helfen einander auf, trösten sich gegenseitig. Befreit schreien sie ihre Qual heraus, entledigen sich der mit Lehm verschmierten Klamotten. Bunte T-Shirts darunter. Erst jetzt offenbar werden sie sich plötzlich ihrer Schönheit und Kraft gewahr, jubeln, tanzen und spüren, dass ein jeder hier aufgefordert ist, Verantwortung zu übernehmen. Wir können nicht davon ausgehen, dass dieser Impuls von der Politik kommt, wir als Zivilgesellschaft sind gefordert, Veränderungen zu initiieren. In diesem Sinne hatten am 5. und 6. Juli auch 77 Organisationen und Initiativen aus über 20 Ländern zu einem „Gipfel für globale Solidarität“ in die Hamburger Kulturfabrik Kampnagel geladen. Auf 11 Podien in mehr als 70 Workshops trafen sich dort über 2000 Besucher zum Austausch über politische Alternativen und Lösungswege. Den Höhepunkt bildete der Auftritt der Umweltaktivistin, ‚Hüterin des Saatguts‘ und Doktorin der Physik aus Indien, Vandana Shiva. In der Laeiszhalle lasen am 5. Juli beim Festival „Lesen ohne Atomstrom“ so bekannte Namen wie Renan Demirkan, Auma Obama, Schwester von Ex-US-Präsident Barack Obama, Günter Wallraff, Konstantin Wecker und viele mehr aus den Werken „Empört Euch!“ und „Engagiert Euch!“ von Stéphane Hessel, dem 2013 verstorbenen Résistance-Kämpfer und Überlebenden des Holocaust, zugleich Mitautor der UN-Menschenrechtserklärung von 1948. Zur selben Zeit gab es die Möglichkeit, im Hauptgebäude der Hamburger Universität an einem interreligiösen Friedensgebet mit Vertretern der Aleviten, Bahai, Buddhisten, Christen, Hindus, Juden und Muslime teilzunehmen. Von der chinesischen Xylophonistin Lin Chen musikalisch hochkarätig initiiert und begleitet. Beim anschließenden Empfang im Café Dell’Arte war Raum für Austausch und Gespräche. Am Freitag, 9. Juli, fand sich wiederum in der Barclaycard-Arena zu einem Konzert im Rahmen des Global Citizen Festivals eine Reihe internationaler Musiker aus Pop und Jazz zusammen, u.a. Shakira, Andreas Bourani, Coldplay und Herbert Grönemeyer, um für eine gerechtere Welt, gegen Armut und Hunger, anzuspielen.

Am Samstag, 8. Juli dann, Ökumenischer Gottesdienst des kirchlichen Bündnisses „global.gerecht.gestal†en“ in der bis zum letzten Platz gefüllten St. Katharinen-Kirche, wo in der Predigt deutliche Wort zu der zerstörerischen globalen Finanzpolitik fielen. Der anschließende Demonstrationszug „Hamburg zeigt Haltung“ mit Bischöfin Kirsten Fehrs an der Spitze sowie nach offiziellen Angaben 10 000 Teilnehmern führte den Hafen entlang bis hin zur Fischauktionshalle. Mit dabei: die Träger des angeblich 340 Meter langen Weltenschals, mit Applaus bejubelt, und immer wieder musikalische Einlagen, Blechbläser und Trommeln, die für gute Stimmung sorgten. Auf der Abschlusskundgebung sprachen unter anderem der New Yorker Bürgermeister, Demokrat und Trump-Kritiker Bill de Blasio und Gesine Schwan. Zahlenmäßig wurde das Ganze mit den über 80 000 Teilnehmern des Linksbündnisses auf der Reeperbahn noch getoppt.

Insgesamt waren es an die 100 000 Hamburger, darunter große und kleine Initiativen, die ihrem Protest gegen die Allmacht der Konzerne, Rüstungsexporte, Bildungsdefizite, gegen Hunger und Krieg friedlich und ideenreich Ausdruck verliehen haben. Von den Medien, bis auf wenige Ausnahmen, eher zögerlich während des Gipfels aufgegriffen und längst wieder in Vergessenheit geraten. Stattdessen beherrschen bis heute die Ausschreitungen im Schanzenviertel das Bild, emotional aufgeladen, Betroffenheit heischend. Der viel gerügte Schwarze Block ist laut Friedenspreisträgerin Carolin Emcke „ein dankbar angenommenes Bild“ mit der Funktion, von der eigentlichen Kritik abzulenken. Statt stichhaltiger Analyse der Vorfälle gibt es gegenseitige Schuldzuweisungen, die der Wahrheitsfindung wenig dienlich sind. Zahlenmäßig ist der Schwarze Block eine deutlich kleine Minderheit – gewaltbereite, teils kriminelle so genannte Revolutionstouristen, die nachweislich den Hauptteil der Gewalttaten zu verantworten hatten, mitgerechnet. Von der seitens einer beherzten jungen Hamburgerin ins Leben gerufenen Aktion „Hamburg räumt auf“, wo nach den Krawallen über achttausend Bürger das Zepter in die Hand nahmen, aufräumten und putzten, spricht im Nachhinein kaum noch jemand.

Wer allerdings, die historische Gunst der Stunde nutzend, unter den vielen friedlich Demonstrierenden war, die sich mit den Missständen nicht abfinden, sondern für ein menschliches globales Miteinander einstehen wollen, mochte ermutigt und bestärkt aus diesen Tagen hervorgehen. Könnte dies doch ein Auftakt sein, es dabei nicht zu belassen, sondern weiter gegen Unrecht, gegen Hunger, Leid, Ausbeutung und Krieg aufzustehen, immer wieder.

Erna R. Fanger und Hartmut Fanger

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Gedicht für den Monat Oktober

Herbstgefühl

 

Fetter grüner du Laub/Am Rebengeländer/

Hier mein Fenster herauf/Gedrängter quellet//Zwillingsbeeren, und reifet/

Schneller und glänzet voller/Euch brütet der Mutter Sonne/Scheideblick, euch umsäuselt Des holden Himmels/Fruchtende Fülle;/ Euch kühlet des Mondes/Freundlicher Zauberhauch./Und euch betauen ach! Aus diesen Augen/ /Der ewig belebenden Liebe/

Vollschwellende Tränen 

 

Johann Wolfgang Goethe

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Kommentare: 1
  • #1

    J. Jasper (Mittwoch, 06 März 2019 20:16)

    Meine Hochachtung und meinen Dank für diesen hervorragenden Bericht, den ich leider erst jetzt gelesen habe!
    Ich frage mich wie können wir es gemeinsam schaffen, daß solche Berichte, Standpunkte in die mdien gelangen und ein breites Publikum erreichen.
    Herzlichen Dank,
    J. Jasper

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