© Hartmut Fanger
Das eigene Leben als Stoff zum Schreiben
Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023
Seit 1959 findet sich alljährlich ein Autor/eine Autorin als Gastdozent/in an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main ein, um im Rahmen einer Vortragsreihe ein Semester lang Fragen über den Schaffensprozess und die Umstände literarischer Gegebenheiten zu erörtern. Betrachtet man die Liste der Vortragenden, so ist schnell klar, hier ist das Who is Who der deutschsprachigen Literatur vertreten – dementsprechend legendär indessen die Frankfurter Poetik-Vorlesungen, worunter besagte Reihe bekannt wurde. Von Ingeborg Bachmann bis Heinrich Böll, von Hans Magnus Enzensberger bis Martin Walser, von Elisabeth Borchers bis Julie Zeh und viele, viele mehr. 2022 hatte nun Judith Hermann die Ehre, woraus schließlich der vorliegende Band „Wir hätten uns alles gesagt“ entstanden ist.
Doch wer hier lediglich einen Sachtext über Literatur im Allgemeinen und das Schreiben im Besonderen erwartet hat, wird angenehm überrascht sein. So heißt es gleich zu Beginn: „Das Schreiben über das Schreiben ist offenbar und erwartungsgemäß eigentlich vermieden worden, stattdessen haben sich Menschen und Situationen aufgezeigt, die das Schreiben beeinflusst haben“. Und Judith Hermann versteht es im Zuge der Schilderung ihres Schaffensprozesses auch in diesem Band, weitere Geschichten – und zwar Geschichten aus ihrem Leben – zu erzählen,
Und so überrascht es auch nicht, dass der Stoff aus all ihren großen Erzählbänden ihr tatsächliches Leben zum Inhalt hat: „Ich schreibe über mich. Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht.“
Dabei lässt sie uns wissen, dass sie während ihrer Arbeit nie sicher sein kann, inwieweit das, was sie von sich erzählt, wenn sie autobiografisch schreibt, tatsächlich stattgefunden‘, was sie womöglich nur ‚geträumt‘ oder sich ‚nur ausgedacht hat‘, weshalb ihre Erinnerung sich, literarisiert, der Fiktion annähert, was wir schließlich wiederum unter dem Begriff Autofiktion verstehen. Autofiktionales Schreiben also das Stichwort. Nicht umsonst heißt es an einer Stelle: „Schreiben imitiert Leben, Verschwinden der Dinge, beständiges Zurückbleiben, Unscharfwerden, Erlöschen der Bilder.“
Spannend gleich zu Beginn die Geschichte mit ihrem Psychoanalytiker Dr. Dreehüs, dem sie eines späten Abends zufällig auf der Straße begegnet, weshalb sie wieder zu rauchen beginnt und sich von ihm in einer Kaschemme zu einem Gin Tonic einladen lässt. Und wie einer Analyse eigen, werden auch hier all die Erinnerungen wach, Erinnerungen an die Stunden, die sie bei ihrem Analytiker verbracht hat. So etwa an die Entstehung des 17 Erzählungen umfassenden Bandes, „Lettipark“ zur selben Zeit, den wir bereits im Februar 2018 (siehe Archiv) vorgestellt hatten und den sie am Ende Dr. Dreehuis zukommen lässt, ihrer langjährigen Freundin Ada hingegen verweigert. Eine weitere authentische Geschichte.
Die Psychoanalyse ist es schließlich auch, die bisher Verdrängtes und Traumatisches wachruft, was summa summarum natürlich eine Fülle weiterer lebensnaher Geschichten beinhaltet. Dabei spielen Träume, Fantasien, insbesondere Erlebnisse in der Kindheit eine eklatante Rolle. Wobei sich der Autorin die Frage stellt, inwieweit es für sie ‚quälend, harte Arbeit ist, so eine Geschichte zu schreiben‘, oder dies eher ‚beglückend, unterhaltsam‘ sein kann, „am Ende ein Geschenk.“
So erzählt Judith Hermann zum Beispiel die Geschichte von ihrem Vater, wie er sie als Kind mit zur Aufbahrung des geliebten Großvaters nimmt, ohne sie vorher auf irgendeine Weise darauf vorzubereiten. Zugleich fallen in diesem Zusammenhang die ‚Kratzer‘ an den Händen des Vaters auf. Dieser erzählt ihr, dass diese von dem Kuscheltier kämen, in das es sich nach dem Tod der ‚echten‘ Katze verwandelt hätte. Dass das Kind eine solche Fantasie nicht verstehen kann, liegt auf der Hand.
Oder das überdimensionale Puppenhaus, das er ihr gebaut hat, um davon zu erzählen, dass darin des Nachts ein seltsames Wesen haust, was dem Kind natürlich regelmäßig Angst einjagt und weshalb die Autorin sich heute noch beim Verfassen eines Textes darüber allein fühlt. Viele Anekdoten und Überraschungen folgen.
Und das alles in gewohnter Judith-Hermann-Qualität erzählt. Das hat sich seit „Sommerhaus später“ nicht verändert. Sensible Beobachtungen, sprachlich nuancenreich, knapp und vielstimmig umgesetzt. Es bedarf auch hier nur weniger Worte um für Kopfkino zu sorgen. Ein Kleinod in der Kunst der kurzen Form, der Kunst des Aus- und Weglassens.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem S. Fischer Verlag Frankfurt am Main
© Hartmut Fanger
Glück und Leid im Alltag eines Autors
Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis, Hanser Verlag. München 2023
Dies jüngste Werk Arno Geigers ist eine wahrhaft beglückende Lektüre, zugleich Fundgrube für alle, die das Schreiben für sich als Medium erkannt haben, das eigene Leben aus einer erweiterten Perspektive heraus anders wahrzunehmen und neu zu bewerten, sowie als Möglichkeit, sein schöpferisches Potenzial zu verwirklichen. Werfen wir in „Das glückliche Geheimnis“ mit Geiger selbst einen Blick zurück auf seine vorausgegangenen Romane, „Es geht uns gut“, „Selbstporträt mit Flusspferd“, „Alles über Sally“ oder „Der alte König in seinem Exil“, lässt sich daraus durchaus eine Erfolgsgeschichte ablesen, aber auch, dass jeder Erfolg offenbar unweigerlich seinen Preis hat.
Auf 240 Seiten gewährt uns der Autor Einblick in die Entstehungsprozesse seiner Romane, in die diesen begleitenden Umstände sowie die Einsichten, die er dabei gewonnen hat. So zum Beispiel, inwieweit er eine Art Doppelleben geführt hat und Tag für Tag, vornehmlich zu Fuß oder per Rad, mehr oder weniger heimlich seine Runden drehte, um in Altpapiertonnen nach brauchbarem Material zu suchen. Darunter Briefe und Tagebuchaufzeichnungen. Im Zuge dessen bewahrheiten sich für ihn zusehends die Erkenntnisse seiner Vorbilder wie etwa Lew Tolstoi oder Ludwig Börne. So, dass Menschen, die für ‚den Hausgebrauch‘ schreiben, im Grunde das ‚einlösen’, was viele Schriftsteller vermissen lassen. Laut Börne sei in der Kunst
[s]ich unwissend zu machen ... die große Kunst. Denn an nichts herrsche größerer Mangel als an Büchern ohne Verstand. Das Geburtsland des Gedankens sei das Herz ... Nicht an Geist, an Charakter mangle es den meisten Schriftstellern und Schriftstellerinnen. Es fehle ihnen an Mut zur Ehrlichkeit, ihre Eitelkeit stehe ihnen im Weg ... Aufrichtigkeit sei die Quelle aller Genialität. Leseprobe
Dementsprechend trifft er bei seiner Suche auch auf so manches Buch, das er dann ‚anders als in gekauften Büchern, in freudiger Erregung liest’. Doch was, wenn er dort ein Buch von sich selbst findet ...?
Mit einfachen Worten, stichhaltig, plastisch, dabei gewürzt mit feinem Humor, zeichnet Geiger seinen Werdegang als Schriftsteller, von anfänglicher Erfolglosigkeit bis hin zum Autor, der binnen kurzer Zeit ‚fast halbmillionfach’ Bücher verkauft. Ein Erfolg, der sich, wie er selbst es ausdrückt, ‚wie durch den Kamin mit Poltern und Getöse’ einstellte. Denn schon bald ziehen die zahllosen Fernsehauftritte, Podiumsdiskussionen, Preisverleihungen und jede Menge Lesungen Zustände der Erschöpfung bis hin zum Burnout nach sich und zeugen davon, wie von dem Traum eines jeden Autors ein Alptraum werden kann. Dabei war es auch für Geiger wahrlich nicht immer einfach, seine Werke bei einem Verlag unterzubringen.
Und wie im richtigen Leben geht es im Werk Geigers auch um handfeste Beziehungen. So werden hier ebenso Geschichten von der Liebe erzählt. Von der Liebe zu seiner einstigen Freundin M., zur Geliebten O. und seiner heutigen Frau K., die, direkt oder indirekt, ihren Beitrag zu dem Erfolg seines Werks beigetragen, ihn unterstützt und ihm immer wieder den Rücken freigehalten haben.
Und natürlich kommen auch die uns allen anhaftenden Themen existentieller Herausforderungen zum Tragen. So anrührend wie erschütternd die Schilderungen von Krankheit und Tod, sei es von dem eines guten Freunds, sei es von Verwandten, wie der Schlaganfall seiner Mutter und die Demenzerkrankung des Vaters. Geiger zieht nicht zuletzt daraus die Erkenntnis, zu der schon der geschätzte verstorbene Freund gelangt war: „Das Leben ist eine Zumutung.“
Geiger kommt in diesem Buch der Wahrheit, zumindest seiner, sehr nahe, auch wenn für ihn klar ist, dass er ‚über das eigene Leben nur schreiben kann, indem er es verfälscht’. Für ihn gibt es dennoch keinen Unterschied, wenn er zum Beispiel seinen Vater beschreibt. Da ist er Sohn und Schriftsteller zugleich. Wie er überhaupt als Schreibender ‚mehr als nur Schriftsteller’, sondern zugleich ‚Lebensgefährte, Sohn, Künstler, Lumpensammler, Gauner, Bruder, guter und schlechter Freund, alles in einem sei’ – nach Ernie Ernaux und anderen ein weiteres Beispiel Autofiktionalen Schreibens, der Erforschung des eigenen Lebens geschuldet.
Eine nicht nur für die schreibende Zunft sowohl geistreiche, tiefgreifende als auch unterhaltsame Erzählung. Lichtblick in dunklen Zeiten! Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Hanser Verlag München
© Hartmut Fanger
Großer Geist im kleinen Nest - Von Schlegel bis Goethe - Wie Jena zum Zentrum der Romantik wurde
Andrea Wulf: Fabelhafte Rebellen – Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich, Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn, C. Bertelsmann-Verlag, München 2022
Erfahren Sie, wie Jena zum Zentrum der Romantik wurde, und lassen Sie sich von Andrea Wulfs Streifzug durch die Welt der umtriebigen jungen Romantiker, einer leuchtenden Phase voller Aufbruchsenergie, verzaubern. Vor der Folie der Französischen Revolution erleben wir so plastisch wie detailliert namhafte Schriftsteller, Philosophen und Dichter besagter Zeit und machen uns mit deren gesellschaftspolitisch umstürzlerischem Gedankengut vertraut. Gemeint sind in erster Linie die Gebrüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel sowie Caroline Schlegel, aber auch Fichte, Novalis und deren Ziehväter Goethe und Schiller und viele mehr.
Dabei versteht es Wulf, den Leser mitten in die Jenaer „Romantiker-Szene“, wie wir heute sagen würden, und deren ‚wildes Treiben‘, als das es in der Jenaer Gesellschaft wahrgenommen wurde, hineinzuziehen. Und dies auf 525 Seiten mit einem über 100 Seiten umfassenden Anmerkungsapparat, Literatur- und Stichwortverzeichnis, teils farbigen Abbildungen und Karten. Obschon wissenschaftlich fundiert, ist das Ganze gut les- und nachvollziehbar!
So wird der Leser mit auf die Reise in eine andere Zeit, in eine andere Welt genommen, eine Welt der Kleinstaaten und absoluten Herrscher, in der es wahrlich schwer gewesen ist, das eigene Ich – postuliert vornehmlich von dem Philosophen Johann Gottlieb Fichte –zu entdecken und sich gegen jede Art von Obrigkeit und Willkür zu behaupten, die bei Verstoß in der Regel zu Zensur, ja gar Gefängnisaufenthalt führte. Allein in Jena scheint es ein wenig anders gewesen zu sein, denn nur dort soll es laut Schiller etwas mehr Freiheiten gegeben haben. Dies mag sich nicht zuletzt der Tatsache verdanken, dass es dort bereits seit dem 16. Jahrhundert eine Universität gegeben hat, die nach Wulf von vier sächsischen Herzögen kontrolliert wurde, von denen ‚keiner tatsächlich das Sagen hatte’, was den Professoren entsprechend Spielraum erlaubte.
Anderswo war es sehr viel strenger. Insbesondere Caroline Schlegel, geborene Böhmer, konnte ein Lied davon singen. Als Befürworterin der Revolution, unverheiratet und schwanger in der Festung Königstein inhaftiert, galt sie erst im Zuge der Heirat mit August Wilhelm Schlegel wieder als gesellschaftsfähig. Spannend und mit Verve, wie in einem Roman, erzählt Wulf die außergewöhnliche Geschichte von Caroline Schlegel und kristallisiert dabei plastisch die Rolle der Frau in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts heraus. Denn Caroline Schlegel war es auch, die entscheidend bei der bis heute gültigen Übersetzung ihres Mannes der Werke Shakespeares mitwirkte. Doch verfasste sie obendrein eigene literarische Texte. Allerdings blieb sie dabei, wie im Übrigen die meisten ihrer schreibenden Zeitgenossinnen, anonym oder deren Texte erschienen unter männlichem Namen. Frauen hatten in der Literatur kaum Rechte ebenso wenig wie im richtigen Leben, sollten sich allenfalls, amtlich verfügt, um die Familie kümmern.
Was für eine Zeit des Aufbruchs, alte Strukturen lösten sich auf und ein gewaltiger Wissensdurst brach sich wiederum Bahn. Es entstand eine Bewegung, in der die Jugend und als einzige Ausnahme der schon leicht betagte Goethe als ‚Gott’ gefeiert wurde. Schiller hingegen geriet mitunter in Konflikt mit Mitgliedern der Bewegung. So zum Beispiel mit Friedrich Schlegel, der dessen Zeitschrift, „Die Horen“, ‚als verstaubt‘ attackierte. In Berlin gab er schließlich unter dem Namen „Athenäum“ ein eigenes revolutionäres Blatt heraus, das neben einer umfangreichen Besprechung von Goethes „Wilhelm Meister“ vornehmlich von Novalis als „Blüthenstaub bezeichnete Fragmente enthielt, die einem neuen Genre entsprachen, was wiederum ebenso eine „Revolution der Worte“ beinhaltete. Doch war es auch der Beginn der napoleonischen Kriege, deren Gefahr zunächst unterschätzt wurde.
Dem Leser fällt es letztendlich nicht leicht, von der Lektüre zu lassen, bietet sie doch eine Fülle teils spektakulärer Informationen, die einerseits ein lebendiges Bild des späten 18. Jahrhunderts vor Augen führen, andererseits jede Menge überraschender Momente enthalten, die angesichts der oft skandalösen Verhältnisse nicht selten der Komik entbehren, uns ein Lächeln entlocken oder den Atem anhalten lassen. Am besten, man liest das Buch gleich ein zweites Mal!
Doch lesen Sie selbst lesen Sie wohl!
Für das Rezensionsexemplar bedanken wir uns herzlich beim C. Bertelsmann Verlag.
© Hartmut Fanger
Starke Frauen in einem schwachen Sozial- und Bildungssystem
Giulia Caminito: Das Wasser des Sees ist niemals süß, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2022
Mit dem 320 Seiten umfassenden Adoleszenz-Roman „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ ist der vornehmlich in Italien bekannten Schriftstellerin Giulia Caminito auf Anhieb ein Bestseller gelungen. In über zwanzig Sprachen übersetzt, wird er demnächst in zahlreichen weiteren Ländern, wie u.a. Griechenland und Japan erscheinen.
Vielfach ausgezeichnet, erzählt der dritte Roman der Autorin von den Hindernissen ihrer Generation, am sozialem Aufstieg zu partizipieren, sowie der zunehmender Radikalisierung der Protagonistin im Zuge dessen.
Ein Roman von erzählerischer Wucht, den man, einmal zu lesen begonnen, nicht mehr aus der Hand legt. Ebenso wenig wie man die Protagonistin und Ich-Erzählerin so schnell wieder vergisst. Zwar wächst sie an der Peripherie Roms auf, hat aber ‚das Zentrum nie gesehen‘. Weder das Kolosseum noch die Sixtinische Kapelle, von Vatikan oder Villa Borghese ganz zu schweigen. Aus ärmsten Verhältnissen stammend, radikalisiert sie sich zunehmend, was ihr durchaus dienlich ist, sich in der Schule und später als Doktorandin an der Universität durchzusetzen.
Arm sein heißt hier nicht, sich in die Opferrolle zu be- und am Ende angesichts der fatalen gesellschaftspolitischen Vorgaben aufzugeben. Im Gegenteil, macht die Protagonistin ihrem aus der griechischen Mythologie entlehnten Namen „Gaia“ alle Ehre, gilt dieser doch als Bezeichnung der Erde als erster Gottheit und wird zugleich als „Die Gebärende“ gedeutet. Damit wird überdies auf die herausstechenden weiblichen Aspekte der Protagonistinnen, Mutter und Tochter, verwiesen, die über charakterliche Stärke und Selbstbewusstsein ebenso verfügen wie einen rebellischen, unbeugsamen Geist. So etwa, wenn sich die Mutter, als Anwältin verkleidet, aus dem Wohnungsamt so lange nicht fortbewegt, bis sie von den Sicherheitsleuten unter Anwendung von Gewalt hinausgeworfen wird. Die Tochter, zugleich Ich-Erzählerin, wiederum zertrümmert einem Mitschüler, der sie unentwegt mobbt und ihren Tennisschläger kaputt macht, das Knie. Besagter Tennisschläger gewinnt umso mehr an Bedeutung, wenn wir erfahren, welche Entbehrungen Gaias Familia auf sich genommen hat, ihr diesen zu finanzieren. Die Mutter als Putzkraft tätig, der Vater Invalide, hausen sie mit fünf Personen in einer zwanzig Quadratmeter Kellerwohnung, die Zwillingskinder schlafen in Pappkartons ...
Spannend zu allem hin das Verhältnis zwischen Gaia und ihrer angesichts der Verhältnisse schon zwangsläufig pragmatischen Mutter, die Gaia kaum erträgt, und die sie dennoch, wo es nur geht, unterstützt. An einer Stelle heißt es, dass Gaia ‚über sie richtet und ihr nicht vergibt.“ Markant erweist sich die Hassliebe zwischen Mutter und Tochter, indem Erstere den 18. Geburtstag ihrer Tochter in dem Fitnessstudio ausrichtet, in dem sie putzt. Das Ganze endet dann auch in einem Debakel. Das von der Mutter ausgesuchte Kleid, Schuhe und Frisur kommen bei Gaia nicht gut an, der Vater, der das Haus ewig schon nicht verlassen hat, erleidet in seinem Rollstuhl auf dem Weg dorthin Angstattacke auf Angstattacke.
Deutlich wird, wie schwer es ist, über den eigenen Tellerrand zu schauen, zumal wenn der Alltag sich als ständiger Existenzkampf gestaltet. So ist für die Analyse, was die Politik bewirkt und den unzulänglichen sozialen Rahmen, den sie liefert, kaum Raum, geschweige denn für entsprechendes Engagement. Eine treffende Metapher hierzu bildet der Moment, wo der Hubschrauber über dem See abstürzt, dies jedoch keinen interessiert.
Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für das uns freundlicherweise überlassene
Rezensionsexemplar gilt dem Klaus Wagenbach Verlag!