Dr. Erna R. Fanger und Hartmut Fanger MA

Seit über 25 Jahren erfolgreiche Dozenten für Kreatives und Literarisches Schreiben, Fernschule, Seminare, Lektorat

Buchtipp des Monats April 2019 - www.schreibfertiig.com

Fernanda Melchior: Saison der Wirbelstürme

Buchtipps von Erna R. Fanger und Hartmut Fanger
schreibfertig.com

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Buchtipp des Monats April 2019:

  ©  Erna R. Fanger:

„Malas Vibras“ – Dämonische Schwingungen

 

Fernanda Melchor: „Saison der Wirbelstürme“, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2019, aus dem mexikanischen Spanisch von Angelica Ammar

Der zweite Roman der Mexikanerin Fernanda Melchors (*1982) – ihr erster auf Deutsch – ist mit der Überlagerung des Geschehens von ‚der Saison der Wirbelstürme’ ein sprachlicher Abdruck von Natur- und Menschengewalt. Kein Buch für schwache Nerven. In dieser verstörenden, von unvorstellbarem Ausmaß an Gewalt durchsetzten Prosa, wo das Leben eines Menschen nichts zählt, ein Wert wie Menschenwürde entfernt scheint wie ein entlegener Planet jenseits der Milchstraße, bricht sich der mimetische Gehalt poetischen Sprechens Bahn. Ein Werk zugleich von martialischer Brillanz, dem sich der Leser nur schwerlich entziehen kann. Und es spricht für seine literarische Qualität, dass man sich die Lektüre dieser Zumutungen an Niederungen menschlicher Existenz antut. Dies ist keine Literatur, wie sie sich der gebildete europäische Leser wünschte, der gerne den Geist der Aufklärung und Rebellion atmet und existenzielle Belange anhand von Figuren studiert, immer auf der Suche nach Antworten auf die eigenen Lebensfragen. Dies Buch ist ein Schrei. Ein Aufschrei, erwachsen aus ohnmächtiger Empörung und Trauer. Ein Diskurs, durch den sich wie ein Lavastrom nicht enden wollende und immer wieder neu entflammende Gewaltexzesse ziehen.

Im Zentrum des Geschehens der Mord an einer als Hexe geltenden Frau, auf deren entstellte Leiche eine Clique umherstreunender Kinder stößt. Ein Mord, um den sich fortan alles dreht.Packend die Verflechtung unterschiedlicher Stimmen, die den Tod der Hexe kommentieren. Ein Konglomerat an Mut- und Anmaßungen, Spekulationen und Verdächtigungen. Jeder glaubt die Hintergründe dafür zu kennen. Jeder aus seiner Sicht und seiner ureigenen Perspektive. Die Wahrheit um das Verbrechen enthüllt sich im Zuge dessen kaum. Vielmehr offenbart sich zwischen den Zeilen eine andere Wahrheit, nämlich die einer strukturellen Gewalt, deren Saat sich hier in drastischen Bildern entlädt, teils ausgiebig pornographischen, etwa gegen Ende des Romans, die man dem Leser gerne ersparen würde. Dies alles in ungeheurer Rasanz, in Sätzen teils über Seiten hinweg, in denen sich ein so erschreckendes Ausmaß abgründiger Existenz auftut, dass einen Abscheu und Ekel ergreifen können. Von den Betroffenen selbst heißt es, dass, „malas vibras“, dämonische Schwingungen, schuld seien „an so viel Unglück: an all den Toten ...“

Der Schauplatz, das gottverlassene, trostlose „La Matosa“. Bar jeder Perspektive. Bar jeder Moral. Scheinbar abgekoppelt vom Rest der Welt. Vergessen von der Politik, die dort versammelten Figuren wiederum geprägt von Hoffnungslosigkeit, Ohnmacht und Resignation: 

Ein] Landarbeiter, der auf der Jagd seinen Sohn erschoss und der Polizei erklärte, er habe ihn mit einem Dachs verwechselt, dabei war es allseits bekannt, dass der Alte es auf die Frau seines Sohnes abgesehen und alles sogar heimlich mit ihr abgesprochen hatte. Oder „die Verrückte aus Palogacho, die darauf beharrte, dass ihre Kinder nicht ihre Kinder seien, sondern Vampire, die ihr das Blut aussaugen wollten, weshalb sie sie erschlagen musste, mit Brettern, die sie aus dem Tisch gerissen hatte, mit Schranktüren und sogar einem Fernsehbildschirm.

Warum wir die Lektüre dennoch entschieden nahelegen: Es ist diese Dringlichkeit, die Melchor dem Leser aufoktroyiert, die etwas Unbedingtes, etwas Zwingendes hat, weiterzulesen, sich einzulassen und der furiosen Anklage gegen himmelschreiendes Unrecht Respekt zu zollen. Eben nicht wegzusehen, vielmehr ihr Gehör zu verschaffen.

Aber: Lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Wagenbach Verlag!

Datei als Download im Archiv  Fernanda Melchor

Siehe dazu unseren Sachbuchtipp lMathias Bröckers 

unseren aktuellen Buchtipp: Angelika Krauß

Buchtipp des Monats März 2019 - T. C. Boyle: “Das Licht“

©  Erna R. Fanger:                                              

Vom Aufstieg und Fall eines Gurus

T. C. Boyle: “Das Licht“, aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag, München 2019.

Mit „Das Licht“ knüpft T.C. Boyle an frühere Romane an, in deren Zentrum eine Kultfigur steht, etwa Kellog oder Alfred Kinsey. Und wie immer geht es bei diesem Setting darum, wie nah die jeweiligen „Jünger“ dem verehrten Guru stehen, und damit um das Gerangel, zum inneren Kreis zu zählen. Letzteres ist auch das Ansinnen des Protagonisten Fitz, einer der Harvard-Doktoranden um den legendären Drogenprofessor Timothy Leary im Fach Psychologie. Der hat mit Drogen zunächst mal so gar nichts am Hut. Vielmehr hegt er die typischen Karriereträume eines Spießers. Schließlich hat er Frau und Kind. So sind ihm die ‚Sessions’ seiner Studienkollegen, wo es statt um die Erforschung von harten Fakten um Selbstversuche im Zuge von Drogentrips geht, nicht nur fremd, sondern äußerst suspekt. Und er nimmt das lediglich aus Furcht auf sich, sonst womöglich seinen Platz im ‚Inner Circle’ einzubüßen. 

Doch schnell ist er infiziert vom Sehnsuchtsvirus der Bewusstseinserweiterung, der die Ränder einer ganzen Generation erfasst hat, die Ränder, von denen jedoch immer schon die entscheidenden Impulse ausgegangen sind: der Sehnsucht, die Ketten von Materialismus und Spießbürgertum zu sprengen, wie sie nach der einschneidenden Erfahrung des Zweiten Weltkriegs für Europa und die USA prägend waren. Und so sollte nach seiner Entdeckung 1943 seitens des Schweizer Chemikers Albert Hof LSD zu Beginn der 60er Jahre in den USA bahnbrechend das Feld der Psychologie und von dort aus die Welt revolutionieren. Es galt am Ende gar als der direkte Weg zu authentischer Gotteserfahrung, mystischer Verklärung in der Gemeinschaft Gleichgesinnter und markierte die Geburt der Hippiebewegung.

T.C. Boyle, selbst drogenerfahren und eben dieser Generation zugehörig, schildert das Ganze aus der Perspektive des Kenners der Szene, der erhellende Blick auf die Ereignisse von damals von wohlwollender Distanz. Der einst bissige Sarkasmus, abgelöst von feiner Ironie. Dabei zeigt er die Figuren dem Stand ihres sozialen und entwicklungspsychologischen Kontexts gemäß, ohne sie zu diskreditieren. Was von ihnen zu halten sei, wird jeder Leser für sich entscheiden. Ein unaufgeregter Blick, getragen von nachsichtigem Humor für die Irrwege, die hier beschritten werden. Irrwege, wie sie auch von anderen Communitys der 60er Jahre, etwa den Bhagwan-Anhängern oder der Mühl-Kommune, bekannt sind, und die augenscheinlich allesamt zum Scheitern verurteilt waren. 

So artet der hoffnungsvolle Aufbruch in ein neues Zeitalter der Bewusstseinserweiterung – statt sorgsamer Erforschung und Dokumentation der Experimente mit LSD-Trips – aus in Partyexzesse. Exemplarisch für das Scheitern der Bewegung Doktorand Fitz, dem im Zuge des Prozesses zwischen Aufstieg und Fall der Community nicht nur seine Dissertation aus dem Blickfeld gerät, sondern auch Frau und Kind, während er nach einem experimentellen Partnertausch der 19 Jahre jüngeren Lori verfällt. Ganz zu schweigen von Guru Leary, der das hehr angelegte Experiment wegen eines Models verlässt, dem er wiederum verfallen ist. 

Die Rezensionen und Meinungen über Machart und Stil überschlagen sich – von unumwundener Bewunderung über manch Häme des deutschen Feuilletons, wie es im Buche steht. Was die Faszination von „Das Licht“ eigentlich ausmachen mag, ist, dass darin eine  Menschheitssehnsucht verhandelt wird, die noch lange nicht abgegolten scheint und in dem ernsthaften Versuch besteht, wenn nicht das Paradies auf Erden zu installieren, so diese doch zu einem Ort zu machen, der allen Bewohnern ein würdiges Leben gewährt. Diese Vision, der 68er-Generation zugeschrieben und von dieser einst mit Macht vorangetrieben, ist offenbar aus dem Menschheitsgedächtnis nicht zu tilgen. Auch wenn Unkenrufe aus den Reihen der Etablierten uns dies unablässig – gleichwohl mit Macht – auszureden versuchen. Umso berauschender, diese Aufbrüche in Boyles fiktiver Chronik der Ereignisse jetzt nacherleben zu können und sie einmal mehr aufflammen zu lassen.

Dass die LSD-Forschung, nachdem sie lange ein Schattendasein führte, indessen neue Wege einschlägt und evidente Erfolge in der Arbeit mit Sterbenden erzielt hat ebenso wie in der Behandlung von Suchtkrankheiten und Depressionen, bezeugt einmal mehr, dass Boyle hier nur eine Etappe auf einem Weg nachgezeichnet hat, der noch lange nicht zu Ende sein mag. Nicht verschwiegen sei an dieser Stelle das herausragende Werk des exzellenten Journalistik-Professors Michael Pollan, „Verändere Dein Bewusstsein“, Antje Kunstmann-Verlag, das im Übrigen nahezu zeitgleich mit Boyles „Das Licht“ auf dem deutschen Büchermarkt Furore macht und gerade dabei ist, die Sachbuchbestenliste zu erobern. Ein Zufall?! (Siehe hierzu auch unser Sachbuchtipp des Monats März)

Aber: Lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Hanser Verlag, München

Datei als Download im Archiv T.C.Boyle

Siehe dazu unseren Sachbuchtipp Michael Pollan

 

unseren aktuellen Buchtipp: Elisabeth Borchers

Buchtipp des Monats März 2019

©  Erna R. Fanger & Hartmut Fanger
Poetischer Abgesang einer Grande Dame der Literatur

   

Elisabeth Borchers: „Nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Ein Fragment“, herausgegeben von Martin Lüdke, Mitarbeit Ralf Borchers. Weissbooks GmbH, Frankfurt am Main 2018

Die aus dem Nachlass publizierten Erinnerungen der 2013 verstorbenen Elisabeth Borchers – bedeutende Lyrikerin und legendäre Suhrkamp-Lektorin – geben vordergründig zunächst einmal  Einblick hinter die Kulissen des Literaturbetriebes. Wir werden Zeuge vom Umgang mit Schriftstellern ebenso wie von der Zusammenarbeit zwischen Autor und Lektor. Abgerundet wird das Ganze durch den so erhellend wie feinsinnigen Essay des Literaturwissenschaftlers und Kritikers Martin Lüdke.

Aufhorchen lässt gleich der Titel „Nicht zur Veröffentlichung bestimmt“. Wie gelangt das Fragment dennoch an die Öffentlichkeit. In erster Linie ist dies dem Autor Arnold Stadler zu verdanken, der Elisabeth Borchers noch zu Lebzeiten dazu ermutigt und ihr bis zum Schluss beratend zur Seite gestanden hat. Ihr Sohn Ralf Borchers und Martin Lüdke haben das Fragment nun – fünf Jahre nach ihrem Tod – in dem von Borchers ehemaligen Suhrkamp-Kollegen geführten Weissbooks-Verlag auf den Weg gebracht. Ein Buch, von dem sich neben Literaturbegeisterten nicht zuletzt Leser mit eigenen Schreibambitionen einiges versprechen dürften. So erfährt man zum Beispiel spannende Details aus dem offenbar grundlegend konfliktiven Verhältnis zwischen Lektor und Autor. Ebenso wie von dem nicht selten zutage tretenden Widerspruch, einerseits zwischen Autor und Werk, andererseits zwischen literarischen Kriterien des Verlags und dem Postulat, zugleich marktstrategischen Gesetzen gerecht zu werden. Borchers, als Lektorin hier in der Position ‚zwischen den Stühlen’, fühlt sich in diesem Ränkespiel bisweilen wiederum bis hin zur ‚Selbstverleugnung’ genötigt. 

Wie auch immer, erfährt der Leser eines: Selbst bei hoch anerkannten Autoren wird nur mit Wasser gekocht. Und auch der Autor mit großem Namen ist kaum in der Lage, ständig Meisterwerke zu fabrizieren, wie der Öffentlichkeit suggeriert und vom Autor schließlich selbst geglaubt wird. 

 

Mit scharfer Zunge nimmt Borchers im Übrigen keinerlei Rücksicht auf ehrwürdige Meriten und bezichtigt etwa so arrivierte wie augenscheinlich unumstößliche Ikonen des Literaturbetriebs der Hochstapelei, sei es Martin Walser, Jurek Becker, Max Frisch, Uwe Johnson oder Marie-Luise Kaschnitz. Mit Letzterer geriet das Verhältnis Lektor-Autor am Ende regelrecht zum Gefecht, wobei es dann weniger um das Werk, die Arbeit am Text, als viel mehr um Macht und Einfluss ging, wie Borchers selbst zugibt. 

Weniger Enthüllungsbuch über die Verlagslandschaft entpuppt sich das Ganze bei fortschreitender Lektüre jedoch als Zeugnis zunehmender Vereinsamung der Autorin und ihres Ringens mit den Beschwernissen des Alterns. Letzteres beklagt zum Teil in Reflexion der nüchternen Betrachtungen desselben in den Worten der Bibel bei Prediger Salomon oder aber der Klage der Psalmisten. In ihren eigenen Worten gibt sie selbst ergreifend zum Besten: 

„Ich habe die Welt abgesucht nach Möglichkeiten, nach Haltepunkten. Wie leer die Welt in solchen Stunden ist. Man wirft Netz um Netz aus, sie bleiben leer. Wie ein leer geschöpftes Meer.“

Berührend überdies die Literarisierung von Wunschvorstellungen, die immer wieder in die Realität der Autorin überzugehen scheinen. So etwa im Hinblick auf die Wucht einer unerwidert bleibenden, großen Altersliebe, die Borchers umtreibt und ihre Spuren im Text hinterlässt. Die Enttäuschung über den ausbleibenden Anruf, das unermessliche und zugleich trügerische Glück, mit dem Geliebten ‚gern in Kirchen’ zu weilen, ist dieser doch in den meisten Fällen präsent allenfalls als Abwesender und bleibt für Borchers unverfügbarer Sehnsuchtsort.

„Ein eigenartiges Gefühl, ganz allein in einem so um sich greifenden Raum [einer Kirche] zu sein ... Ich habe in diesen Raum hinein geredet: da bin ich, ganz allein, bitte ... Ich versuchte dich anzurufen. Keine Antwort und das Handy mit der stereotypen Aufforderung: versuchen Sie’s später noch einmal ... Ach ist ein Synonym für Nichtausgesprochenes. Ach. Nichtauszusprechendes“.

Mit „Nicht zur Veröffentlichung bestimmt“ wird uns die „Femme de lettres“ Elisabeth Borchers in Erinnerung bleiben, als scharfe Kritikerin ebenso wie sanftmütig-sehnsuchtsvoll Liebende und stets vortreffliche Lyrikerin.

Aber: Lesen Sie selbst, lesen Sie wohl! 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Weissbooks Verlag

 ©  Erna R. Fanger            

„Von der Pein einer Davongekommenen“

Marceline Loridan-Ivens: “Und du bist nicht zurückgekommen“, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Insel Verlag, Berlin, 2015.

1944 wird Marceline, fünfzehnjährig, zusammen mit ihrem Vater, Solomon Rozenbaum, nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo man sie trennt. Er ist in Auschwitz interniert, sie in Birkenau. In dem hier vorliegenden Brief nun gibt sie sich, drei Jahre vor ihrem eigenen Tod, noch einmal Rechenschaft über die Legitimation ihrer eigenen Existenz ab. Da ist sie 86 Jahre und damit doppelt so alt wie ihr Vater, als er starb. Dabei stellt sich die Frage, wie viel mehr er, im Gegensatz zu ihr selbst, in der Familie gebraucht worden wäre. Von ihrem jüngeren Bruder zum Beispiel, der sich das Leben nahm. Es sind quälende Fragen, bohrende. Und es bedarf 70 Jahre Abstand, sie zur Sprache zu bringen in einer Gesellschaft, wo nach 1945 Vergessen, Verdrängen angesagt ist, dem Erinnern zunächst kaum Raum gewährt wird. Hinzu kommen Verstörung und Ratlosigkeit der Überlebenden: „Überleben macht einem die Tränen der andern unerträglich. Man könnte darin ertrinken.“ 

 

„Ich bin ein fröhlicher Mensch gewesen“ heißt es gleich zu Beginn, „ aus Rache dafür, dass wir traurig waren und dennoch lachten“. Doch mit den Jahren nimmt sie eine Veränderung an sich wahr, keine Bitterkeit, wie sie beteuert. Es ist, als wäre sie „schon nicht mehr da (...) Ich habe hier keinen Platz mehr. Vielleicht weil ich das Verschwinden akzeptiere, oder es ist ein Problem des Wünschens. Ich werde langsamer.“  

 

Dies bezeichnet die Warte einer radikalen Leerstelle, von der aus Loridan-Ivens sich mit schmerzender Klarsicht diesem Dilemma ihres Lebens stellt. Fortan kreisen ihre Gedanken um die letzte Nachricht ihres Vaters auf einem Zettel – „Mein liebes kleines Mädchen“ –, die der Zufall ihr zuspielen sollte, vier, fünf Sätze, an die sie sich partout nicht mehr erinnert, weil eine andere Erinnerung, die sie zeitlebens bedrängt, sich offenbar darüber geschoben hat. Die Erinnerung an eine Prophezeiung ihres Vaters: „Du wirst vielleicht zurückkommen, weil du jung bist, ich aber werde nicht zurückkommen“, von der Loridan-Ivens schreibt, sie habe sich ihr ‚ebenso stark und ebenso endgültig eingeprägt wie einige Wochen später die Nummer 78750 auf ihrem linken Unterarm’. Es sollte den Beginn eines lebenslangen Aufrechnens markieren, ihr Leben gegen das des Vaters. Noch einmal begegnen sie sich. 

Die Prophezeiung ist falsch. Sie sinkt in seine Arme, „kostbare Sekunden“, die sie damit bezahlt, geschlagen zu werden bis sie ohnmächtig wird. Und immer wieder die Frage, warum sie sich nicht an die letzten Sätze des Vaters erinnert. Vielleicht wegen diese Zuviels an Wärme, an Liebe, so dass es leichter scheint, die Erinnerung daran auszulöschen, als könnte man daran verglühen. Sie bleibt ‚sein liebes kleines Mädchen’ – „Man ist es noch mit fünfzehn. Man ist es in jedem Alter.“

Luzide poetische Bilder wechseln mit Berichten über das Unsagbare in distanzierter Sprache von schneidender Präzision. Immer wieder unterbrochen von den Gedanken, warum die Erinnerung an diese letzten Worte, die wohl von Liebe und Hoffnung gekündet haben mussten, sie verlassen hat. Einmal mutmaßt sie 

... aber es war keine Menschlichkeit mehr in mir, ich hatte das kleine Mädchen in mir getötet, ich grub direkt neben den Gaskammern, jede meiner Bewegungen widersprach deinen Worten und beerdigte sie.

Allen erzählt sie von diesem Brief, aber auch das bringt die Erinnerung nicht zurück, sie bleibt dem Vergessen peisgegeben. Ihrem Vater wiederum klagt sie „... wir scheinen beide derselben Verlassenheit anheimzufallen, dem Fluch und dem Staub.“ Und zunehmend kristallisiert sich heraus, wie sehr der Vater ihr selbst gefehlt hat. Bedingt nur vermittelt sich Erfahrung, zumal die Erfahrung eines Konzentrationslagers, sie lässt die Betreffenden nicht selten stumm und einsam zurück. So heißt es an einer Stelle 

... wir hätten vielleicht nicht oft darüber gesprochen, doch die Ausdünstungen, die Bilder, die Gerüche und die Gewalt der Gefühle hätten uns wie Wellen erfasst, sogar in der Stille, und wir hätten die Erinnerungen durch zwei teilen können. 

Und je mehr sie sich diesen Verlust schreibend vor Augen führt, keimen im Zuge dessen so etwas wie Fünkchen von Hoffnung auf, hat sie im Konzentrationslager doch eines gelernt, nämlich ‚die Tage zu nehmen, wie sie kommen’. „Trotz allem gab es schöne Tage. Dir zu schreiben hat mir gutgetan.“ Auch wenn sie im Gespräch mit ihrem Vater keinen Trost findet, habe es doch ihre Beklemmung gemildert. Loridan-Ivens beendet ihren Brief, indem sie, im Gegensatz zu ihrer gleichwohl aus dem Lager zurückgekehrten Schwägerin, die dies bezweifelt, die bange Hoffnung ausspricht, einmal von sich sagen zu können, „ja, es hat sich gelohnt“, zurückgekommen zu sein.

Aber: Lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt Stefan Samtleben, Buchhandlung im Literaturhaus Hamburg 

Buchtipp des Monats Januar 2019

  ©  Erna R. Fanger                                                                                                      

„Zeugnis wider das Verschweigen“

Barbara Schirmacher: „Ein aufrechter Mensch. Mein Großvater Otto Globig.BoD, Norderstedt 2018.

„Mein Großvater war einer der kleinen Leute. Er führte ein anständiges, unauffälliges Leben, wie unzählige andere auch. Dennoch wurde er verurteilt ...“, so Barbara Schirmacher. Doch eigens für die Anständigen, die sich unter der Gewaltherrschaft Hitlers nicht wegduck­ten, wurde 1934 das so genannte Heimtückegesetz“ erlassen. Vornehmlich zur Abschreckung und Einschüch­terung sollte es dienen und war die Hand­habe gegen jedwedes kritische Wort. 

Selten ist es das gelingende Leben, das Menschen dazu bewegt, ‚zurFeder zu greifen’, in Wort und Schrift festzuhalten, was sonst dem Verschwinden preis gege­ben wäre, Fragen nachzugehen, die im Raum stehen, ohne je gestellt worden zu sein. Aus guten oder schlech­ten Grün­den. Und nicht selten ist es eine Art Lebensschmerz, der im Niederschreiben verhandelt wird. Ein Schmerz, der als Schatten eines diffusen Schweigenebels häufig nicht nur über der Existenz des Schreibenden hängt, sondern über Generationen hin­weg Familien zu bedrängen und beschweren ver­mag. 

Wie es Barbara Schirmacher in unbeirrbarer Klein­arbeit gelingt, dieses Schwei­gen über Jahrzehnte hinweg zu brechen, davon erzählt sie in der hier vorliegenden Spurensuche. Dabei schildert sie so eindringlich wie berührend ihren Kampf, dem Großvater auf die Spur zu kommen, der sich, einem befreundeten jüdischen Arzt die Treue hal­tend, den Nazis verweigert hat und damit in eine Spi­rale der Isolation geriet, die ihn und mit ihm seine Familie in den Abgrund riss. Ein Schicksal, das totgeschwiegen, dem Vergessen anheim gefallen wäre. Hätte nicht der Zufall der Enkelin den Anstoß gegeben, über Jahre hinweg so hartnäckig wie beharrlich jedem noch so kleinen Indiz nachzugehen, um die undurchdringlich anmutende Mauer, diesen Wider­stand aus Schuld und Scham und Schweigen, der die Familie von der Wahrheit um seine Person zu trennen schien, Stück für Stück aufzubrechen. Nach dem Motto von Ingeborg Bachmann, „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“*, ist es ihr in dem ergreifenden Dokument gelungen, den von den Nazis unrechtmäßig Verurteilten und Gedemütigten zu rehabilitieren. Über den Tod des Großvaters hinweg scheint sich dabei zwischen diesem und seiner Enkelin ein so inniges wie zärtliches Verhältnis zu ent­spinnen. 

Eine ergreifende Lektüre und zugleich Indiz, dass jede tiefere Wahrheit ans Licht dringen will. Nicht dass dies den Schmerz um das tragische Schicksal des Großvaters milderte, ist doch die Nähe, die seine Enkelin nach und nach im Zuge des Schrei­bens zu ihm herstellt, selbst für den Leser hautnah spür­bar. Was bleibt, ist die so überzeugende wie tröstli­che Botschaft: Über die Zeiten hinweg hält die Liebe der Wahrheit stand, unverbrüchlich und schön. 

*Rede Ingeborg Bachmanns zur Verleihung des Hörspielpreises  der 

 Kriegsblinden vom 17. März 1959 in Bonn

 

Aber: Lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!  

Ein Textauszug hierzu findet sich als aktueller Beitrag in unserer Poet's Gallery 

 Download aktueller Buchtipp als PDF im Archiv

 Siehe auch unseren  Sachbuchtipp Robert Habeck"Wer wir sein könnten"

Siehe zudem den Sachbuchtipp Andrea Wulf: "Alexander von Humboldt..."

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Buchtipp des Monats Dezember 2018 


©  Hartmut Fanger:                                                                          

Alles ist vergänglich, alles?

„Judith Schalansky: „Verzeichnis einiger Verluste“, Suhrkamp Verlag,Berlin 2018

Die spätestens seit dem überaus erfolgreichen Bildungsroman„Der Hals der Giraffe“ bekannte Autorin Judith Schalansky  hat sich in diesem von ihr selbst illustrierten, ästhetisch ansprechenden Band „Verzeichnis einiger Verluste“ zur Aufgabe gemacht, das zu thematisieren, was im Zuge der Geschichte mit all ihren Katastrophen verlustig gegangen oder allenfalls in fragmentarischen Überbleibseln dem Vergessen entronnen ist. In einer umfangreichen Recherche begibt sie sich auf die Spur einer Historie der Verluste. Sei es, wenn sie von der in Archiven dokumentierten Insel Thanaki berichtet, die längst untergegangen ist, oder über die wenigen Wörter und Zeilen von Sapphos Liebesliedern schreibt, die aufgrund der Unvollständigkeit geheimnisvoll, widersprüchlich und rätselhaft anmuten. Dabei führt sie zahlreiche Daten und Fakten ins Feld, so dass das Genre, in dem sich die unterschiedlichen zwölf Kapitel bewegen, zwischen Essay und Erzählung anzusiedeln ist. Der umfangreiche Anhang mit Personen-, Bild- und Quellenverzeichnis deutet überdies auf eine wissenschaftlicheVorgehensweise hin.  

Dabei wartet sie mit Sinn für überraschend entlegene historische Bezüge auf. Sei es, wenn sie in ihrer Vorbemerkung davon berichtet, dass in der selben Zeit, während sie noch an dem Buch arbeitete, die Raumsonde Cassini in der Atmosphäre des Saturn verglühte oder die Boeing 777 spurlos auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking verschwand und in Palmyra 2000 Jahre alte Tempel gesprengt wurden. Aufhorchen lassen wiederum die Ausführungen in ihrem Vorwort über die kleine Stadt im Norden in der Nähe des Meeres, liegt dort doch nicht wie üblich der Marktplatz im Mittelpunkt, sondern der Friedhof. Im Leben der Bewohner erhält somit der Tod zentral an Bedeutung. So fällt zum Beispiel der Blick einer Frau aus dem Fenster ihres Hauses beim Kochen auf das Grab ihres früh verstorbenen Sohnes. 

Ernüchternd mutet dann die Feststellung an: „Im Grunde ist jedes Ding immer schon Müll. Jedes Gebäude  immer schon Ruine und alles Schaffen nichts als Zerstörung ...“ und weiter: „Gewiss, der Untergang allen Lebens und Schaffens ist Bedingung seiner Existenz.“ Für Schalansky ist es nur ‚eine Frage der Zeit bis alles verschwunden ist, zerfallen und verrottet, vernichtet und zerstört’. „Zeugnisse der Vergangenheit“ sind „ ... allein Katastrophen zu verdanken“. Indiz hierfür sieht sie etwa in den in Pompeji gefundenen ‚gipsernen Abgüssen der beim Ausbruch des Vesuvs lebendig begrabenen Menschen und Tiere’ oder den ‚an Häuserwänden verbliebenen menschlichen Schattenrissen’, die sich während der Atomexplosion in Hiroshima eingebrannt hatten.  

Anrührend und erschütternd dementsprechend die jeweiligen Geschichten. So die einer Tigerin im alten Rom, die in der Arena zur Zeit von Kaiser Claudius getötet wird. Mit der vorangestellten Passage und dem damit einhergehenden Bewusstsein, dass der letzte Kaspische Tiger 1964 gesichtet wurde, erzeugt der Text eine besondere Wirkung, zugleich spannt sich ein Bogen über Jahrhunderte hinweg. Hautnah erfährt der Leser so das Gefühl unmittelbarer Betroffenheit. Nicht viel anders verhält es sich mit dem Gemälde von Caspar David Friedrich, das den am Rycktal grenzenden Hafen von Greifswald zeigt. Auch hier wird vorab informiert, was daraus geworden ist, nämlich, dass es 1931 bei einem Brand im Münchner Glaspalast zerstört wurde. Es folgt danach jedoch keine Bildbeschreibung, vielmehr wird stattdessen geschildert, wie ein Ich-Erzähler die Moorlandschaft des Rycktals durchwandert. Umso eindringlicher wird dem Leser der Verlust des Bildes und des damit verbundenen romantischen Lebensgefühls bewusst. 

Hervorzuheben ist nicht zuletzt der oben bereits angedeutete Abschnitt über die Liebeslyrik der Sappho. Wer macht sich schon Gedanken darüber, dass zu ihren Lebzeiten ‚Buddha und Konfuzius noch nicht geboren, die Idee der Demokratie und das Wort Philosophie noch nicht erdacht’ waren. Doch zeigen die Fragmente ihrer Gedichte bereits Ansätze moderner Lyrik, wo es insbesondere die Leerstellen sind, die zum Nachdenken anregen, Fantasie freisetzen. Hinlänglich bekannt, galt die in den Textstellen bekundete Liebe insbesondere Frauen. Witzig in diesem Zusammenhang die Beobachtung, dass laut Wörterbuch nach dem Wort >lesbar< gleich das Wort >lesbisch< folgt. 

Last but not least ein Buch, das faszinierende Geschichtsschreibung praktiziert. Anschaulich, plastisch, klug und gelehrt, dabei stets spannend, zieht es den Leser in den Bann. Zu Recht wurde Judith Schalansky dafür mit dem diesjährigen Wilhelm Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet. 

Aber: Lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Suhrkamp Verlag, Berlin!

Download aktueller Buchtipp im Archiv Judith Schalansky: "Verzeichnis einiger Verluste".

Siehe auch unseren Buchtipp Katherine Mansfield: "Fliegen, Tanzen, Wirbeln, Beben. Vignetten eines Frauenlebens", Tagebuch

Siehe auch unseren  Sachbuchtipp Robert Habeck: "Wer wir sein könnten". 

Siehe auch unseren Buchttipp für Jung & Alt "Ein Lied geht um die Welt“ 

©  Erna R. Fanger:                              

„Man entgeht der Herrlichkeit des Lebens nicht“

Katherine Mansfield: „Fliegen, Tanzen, Wirbeln, Beben. Vignetten eines Frauenlebens 1903-1922.Aus dem Englischen übersetzt von Irma Wehrli, mit einem Nachwort von Dörte Hansen und einem Essay von Virginia Woolf, herausgegeben von Horst Lauinger, Manesse Verlag, Berlin 2018.

Auf dem Gymnasium gehörte die neuseeländisch-britische Schriftstellerin Katherine Mansfield (1888-1923), deren Leben gerade mal 34 Jahre währte, zur Pflichtlektüre. Allerdings verstand sie es, Letzteres aufgrund der Strahlkraft ihrer an die 70 Kurzgeschichten, vergessen zu machen. Taucht ihr Name neben anderen, gleichwohl dem schulischen Kanon zugehörigen und schnell wieder verblassten Autoren auf, sprühen da Funken, und man hat Lust, sie wieder zu lesen. Da war doch was! Etwas, was sich deutlich von anderen Pflichtlektüren unterschied. 

Allen, denen es so oder ähnlich geht, ist mit diesem ästhetisch anspruchsvoll ausgestatteten Band in typischer Manier der Manesse Bibliothek mit Fadenheftung und Lesebändchen mehr als gedient. Der hier gewährte Blick in ihre Tagebücher –  für Mansfield unabdingbarer Dialog mit sich selbst – hinter die Kulissen ihrer Kurzgeschichten nimmt uns mit auf Höhenflüge und Abstürze der schreibend mit sich Ringenden. Doch ‚Abstürze’ konnte sich Katherine Mansfield im Zuge ihres leidenschaftlichen Strebens, in dem was ihr eigen ist, die Meisterschaft zu erreichen, nämlich Kurzgeschichten zu schreiben, im Grunde nicht leisten. Dazu währte ihr Leben zu kurz. Und in einem verborgenen Winkel ihrer Seele mochte sie es gewusst haben: Sie musste haushalten. Und so blieb ihr keine Wahl, als sich aus jeder Niederlage wie „Phoenix aus der Asche“ zu erheben. Und der Niederlagen gab es, allein schon in ihrem Privatleben, genug. Sei es in der spannungsreichen Beziehung zu ihrem Mann John Middleton Murry, Literaturkritiker und Essayist, sei es in der zwiespältigen Liaison mit der ihr bis zur Unterwürfigkeit ergebenen Freundin Ida Baker, alias L.M., Leslie Moore, seit Zeiten des Londoner Queen’s Colleges, wo sie sich 1903 kennengelernt hatten, auf deren Hilfe sie jedoch bei nachlassender Gesundheit zunehmend angewiesen war. 

Im Umfeld der Bloomsbury-Clique sich bewegend – benannt nach dem Londoner Stadtteil –, verkehrte sie mit Schriftstellern wie Virginia Woolf, Rupert Brooks, den Malern Roger Fry und Dora Carrington, aber auch Wissenschaftlern wie John Maynard Keynes und dem Ehemann Virginia Woolfs, Leonard Woolf, Verleger, und vielen mehr. Zugleich bot jene Gesellschaft einen nicht unerheblichen Fundus an eben dem Stoff, aus dem Geschichten sind, woraus Katherine Mansfield reichlich zu schöpfen wusste.

Mansfields Tagebuchnotizen lassen auf der einen Seite einen hochsensiblen, wachen Geist erkennen, dem nichts entgeht, was an unterschiedlichsten Stimmungen auf ihn einströmt. Zugleich zeugen ihre Statements von einer immensen inneren Freiheit und  Souveränität. Auf der anderen Seite ist ein ungeheurer Druck, ja Anspruch spürbar, brillant zu sein: „Glückliche Menschen sind niemals brillant. Dazu braucht es Reibung.“ Was ihr als Schriftstellerin durchaus gelungen ist. Virginia Woolf entlockt dies drei Tage nach Mansfields Tod das dem Tagebuch anvertraute Eingeständnis: „Ich war eifersüchtig auf ihre Kunst zu schreiben – die Einzige, auf die ich je eifersüchtig gewesen bin.“

Neben Entwürfen und Szenen für ihre Erzählungen sprühen die hier vorliegenden Tagebuchnotizen nur so vor Lebensweisheit, gründend in einer unbändigen Neugier, Fragen auf die existenziellen Herausforderungen auf die Spur zu kommen, sowie dem unbedingten Streben, die Fülle ihres Potenzials auszuschöpfen:

„Unabhängigkeit, Entschlossenheit, Zielstrebigkeit, Urteilsvermögen und Scharfsinn – das braucht es unbedingt (...) Und nochmals Willen – die Erkenntnis, dass Kunst im Wesentlichen Entwicklung des Selbst bedeutet. Das Wissen darum, dass ein Genius in jeder Seele schlummert und es ganz entscheidend auf jene Individualität ankommt, die unserem Wesen zugrunde liegt.“

In der ihr eigenen Radikalität appelliert sie immer wieder an sich selbst, ‚alles zu wagen’, sich nicht um anderer Leute Meinung zu kümmern: „Tu, was dir am schwersten fällt auf Erden: Handle selbst! Stelle dich der Wahrheit!“ Wie sie überhaupt versteht, sich selbst zu motivieren – heute würde man von effektivem Selbstmanagement sprechen. Dementsprechend ermahnt sie auch immer wieder sich selbst. Etwa Misserfolge nicht ernst zu nehmen, aufzuhören, uns vor ihnen zu furchten und über uns zu lachen. Und drohe es, uns den Boden unter den Füßen wegzuziehen, rät sie, ‚sich dem Leid nicht zu widersetzen, es anzunehmen’: 

„Lass dich überwältigen. Nimm es ganz und gar an. Mache es zu einem Bestandteil deines Lebens. Alles im Leben, was wir wirklich annehmen, verwandelt sich ... Das Leben ist nicht einfach. Trotz allem, was wir über das Mysterium des Lebens sagen, möchten wir es, wenn es hart auf hart kommt, als Kindermärchen nehmen.“

In den letzten Lebensjahren bis zu ihrem frühen Tod mit Tuberkulose kämpfend, hatte sie davon genug zu bewältigen. Und bis zum Schluss hat sie nicht aufgehört darum zu ringen, Zuversicht walten zu lassen. So lautet die letzte Tagebucheintragung vor ihrem Tod bei prekärer Gesundheit, wo sie von ihrer Erschöpfung schreibt und wie sie mit allem gerungen hat: „Alles ist gut.“ Ganz im Sinne ihrer ureigenen Haltung: „Es läuft alles auf eins hinaus: Man entgeht der Herrlichkeit des Lebens nicht. Fassen wir den Vorsatz, ewig zu leben. Und nicht mal das wäre lange genug.“

 Aber: Lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Manesse Verlag!

Download aktueller Buchtipp im Archiv Judith Schalansky: "Verzeichnis einiger Verluste".

Siehe auch unseren Buchtipp Katherine Mansfield: "Fliegen, Tanzen, Wirbeln, Beben. Vignetten eines Frauenlebens", Tagebuch

Siehe auch unseren  Sachbuchtipp Robert Habeck"Wer wir sein könnten". 

Siehe auch unseren Buchttipp für die Jüngsten "Ein Lied geht um die Welt“ 

Buchtipp des Monats November 2018

©  Erna R. Fanger   

 

Das Volk der Honigbiene – 

Ein Gefühl von Heimat

Helen Jukes: „Das Herz einer Honigbiene hat fünf Öffnungen. Aus dem Englischen von Sofia Blind. DuMont Buchverlag GmbH, Köln 2018.

Helen Jukes, Jahrgang 1984, studierte Psychologin und journalistisch im Bereich Natur unterwegs, hat mit diesem Buch und seinem originellen Titel ihr Debut vorgelegt. Die erzählte Zeit erstreckt sich exakt über ein Jahr, beginnend mit November, streng chronologisch nach Monaten aufgeteilt, die sich wiederum in sieben Kapitel gliedern. Dass es mit „1 Hintertür“ beginnt, durch die die Ich-Erzählerin in den Garten tritt, in dem sie fortan als Imkerin wirken soll, steht zugleich dafür, dass sie dazu ganz absichtslos, eben nicht zielgerichtet, kam. Die Selbstfindungs- und Entwicklungsgeschichte ist eine geglückte Mischung aus Autobiografie, naturgeschichtlicher Studie und Kulturgeschichte der Bienen, aber auch jeder Menge Mythen, die sich um die Honigbiene ranken. So erfährt man zum Beispiel so wunderbare Dinge, wie dass im Litauischen das Wort ‚Freund’ mit dem für ‚Biene’ verwandt ist. Oder dass in ganz Nordeuropa mit Bienenstöcken nicht gehandelt, diese vielmehr verschenkt oder als Leihgabe vergeben wurden, der Handel mit ihnen Unglück brächte. Gelungen nicht zuletzt die Kombination kompetenten Fachwissens mit persönlichem Erleben, angereichet mit detaillierten Informationen über das Handwerk des Imkerns. Früchte nicht zuletzt exzessiver Lektüre, an der uns die Ich-Erzählerin teilnehmen lässt. Aber auch philosophische Reflexionen, etwa über die ‚Ursprünge des Heims als „Seinszustand“’, machen den Gehalt dieses Buches aus.

Die Art Großstadtnomadin und Ich-Erzählerin, nach etlichen Umzügen und wechselnden Jobs mit unbefristeten Verträgen mit einer Freundin in einem Reihenendhaus in Oxford gestrandet, sitzt fest. Der Job, weshalb sie hierher gezogen ist, hat sich als Flopp erwiesen, ist stressig und erschöpfend. Aber während sie noch mit ihrem Schicksal hadert, drängen beim Durchstreifen des zum Endreihenhaus gehörigen kleinen verwilderten Gartens Erinnerungen ans Imkern in den Vordergrund. Ans Imkern mit Luke, dem Freund einer Freundin, der über ganz London Bienenstöcke verteilt hatte und dies Procedere indessen erfolgreich vermarktet. Und ohne einen Plan gefasst zu haben, macht sie schnell eine Stelle aus, die für einen solchen Bienenstock geeignet wäre. Dabei versteht sie es, uns Lesern die Magie, die offenbar vom Imkern ausgeht, nahezubringen. So, wenn Imker etwa davon sprechen, “es habe sie gepackt, es gehe ihnen unter die Haut– als wären die Bienen zur Besessenheit geworden und das Imkern zur Zwangshandlung.“ Ja, dass die Wahrnehmung von Farbe sich im Zuge dieser Tätigkeit verändere, dass Luke, seitdem er als Imker gearbeitet hätte, viel mehr Blautöne – von Bienen bevorzugte Farbe –  wahrnehme, auch außerhalb des Pflanzenreichs, wie etwa bei Servietten und anderen Gegenständen. 

Zu Weihnachten legen die Freunde zusammen und schenken Helen ein Bienenvolk, abzuholen im Frühling. Bis dahin muss der Bienenstock stehen. Das heißt, jede Menge recherchieren. Der Leser wird dabei zusehends in den Entscheidungsprozess involviert und erfährt so zahlreiche Details rund um die Honigbiene, wie zum Beispiel, dass sie ‚vor über 6000 Jahren zu unseren ersten Haustierrassen gehörte’, wobei man sie nie ganz domestizieren konnte, haben sie sich doch bis heute stets ihre Unabhängigkeit bewahrt.

Im März ist es endlich soweit, es ist wärmer geworden, Helen holt ihr Bienenvolk ab. Spannend die bangen Fragen, die sich im Zuge eines Rückfalls in den Winter stellen: Werden die Bienen es schaffen? Aber auch als es wieder wärmer wird, folgt eine Zeit der Ungewissheit. Werden die Bienen den Stock als ihr Zuhause annehmen? Indes wir von der Arbeiterin unter ihnen erfahren, dass sie zunächst ‚Putzkraft, dann Kindergärtnerin für die Larven in der Wabe ist, später dann zur Wärterin der Königin aufsteigt, darüber hinaus zuständig ist, den Bienenstock in stabiler Temperatur zu halten’. Doch die Angst vor dem Scheitern bleibt. Und mit Helen bangt der Leser. Zitterpartie von Woche zu Woche, wo der Bienenstock überprüft wird. Bis es sich endlich abzeichnet, dass das Bienenvolk ihn angenommen hat. 

Ihre unermüdliche Fürsorge hat sich am Ende gelohnt. Helens Bienen kommen durch die Schwarmsaison, das Volk ist zusammengeblieben, gedeiht zusehends. Die Krönung bildet die Honigernte – sieben Gläser kommen dabei heraus. Wobei eine Honigbiene in ihrem gesamten Leben circa ein zwölftel Liter Honig produziert! Die einzelne Biene erbringt also Honig ausschließlich als Teil einer so komplex wie effizient zusammenarbeitenden Gemeinschaft, wie dem Bienenvolk.

Frappierend die Diskrepanz zwischen dem offenkundig als sinnstiftend erlebten Imkern und dem wie ein dunkles Band sich durchziehenden Untergrund gesellschaftlicher Missstände, wie etwa die Nöte, einen menschenwürdigen Job zu finden, oder ökologische Fehlentwicklungen. Neben Helen selbst beklagt Freundin Kath, von vier „klasse“ Jobs erschöpft zu sein, das Gefühl, sich im Kreis zu drehen. Urlaub ist nicht drin. Ebenso wie EU-Umweltsünden zur Sprache kommen, wenn die Stadt aufgrund ihrer Artenvielfalt als guter Ort für die Bienenzucht erachtet wird, im Gegensatz zu Monokultur und Agrochemikalien auf dem Land mit Artensterben als Folge. Umso bedeutsamer das Fazit gegen Schluss: 

"Für mich hatte der Bienenstock damit zu tun, aus jenem Ort der Schwierigkeiten zu entfliehen; oder er hatte gar nichts mit Flucht zu tun, sondern mit dem Wachsen meiner eigenen, hart erkämpften Überzeugung, dass innerhalb dieser unvollkommenen Bandbreite etwas anderes möglich war – eine andere Art von Wahrnehmung, von Beziehung."

Aber: Lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem DuMont Buchverlag, Köln!

Download aktueller Buchtipp im Archiv Helen Jukes: "Das Volk der Honigbiene" - Ein Gefühl der Heimat!

Siehe auch unseren Buchtipp Gabriel Tallent: "Mein Ein und Alles". Roman

Siehe auch unseren  Sachbuchtipp Wolfram Eilenberger im Archiv

Siehe auch unseren Buchttipp für die Jüngstenr Der Mann, der eine Blume sein wollte“ 

unseren aktuellen Geschenkbuchhtipp  Ulf Annel 

Buchtipp des Monats Oktober 2018

© Hartmut Fanger schreibfertig.com: 

Ein Debüt-Roman der extraklasse. Aufregend, erschütternd und in atemberaubender Handlung bis zur letzten seite spannend!

 Gabriel Tallent: „Mein Ein und Alles“, Penguin Verlag München 2018, aus dem Amerikanischen von Stephan Kleiner  

Die US-amerikanischen Kritiken überschlagen sich nicht umsonst. Und es ist auch nicht von ungefähr, dass der Roman von Gabriel Tallent „Mein Ein und Alles“ nach Erscheinen wochenlang auf der Bestsellerliste der New York Times stand und schon jetzt für so renommierte Literaturpreise wie den Los Angeles Times Book Prize for First Fiction nominiert ist. Ein Roman der Extraklasse, der den Leser von Beginn an den Atem anhalten lässt. Seite für Seite ungemein spannend. Nahezu berauschend die Schilderungen der Landschaft, des Waldes, mit allem, was dazu gehört. Tallent verfügt über ein unglaubliches Naturverständnis, das hier in jedem der 31 Kapitel voll zur Geltung kommt. Zwingend die Sprache. Der gesamte von Stephan Kleiner übersetzte Roman ist im Präsens geschrieben, wodurch der Leser stets dicht dran ist am Geschehen.  

Dabei handelt es sich um die Geschichte der vierzehnjährigen Turtle alias Julia Alveston, von ihrem Vater Martin auch Krümel oder Luder genannt. Letztere Bezeichnung kommt nicht von ungefähr. Denn so hat der Vater es ihr eingeimpft. Ein Vater, der sie mit Liebesentzug erpresst, missbraucht, brutal misshandelt, vergewaltigt und ihr mit seinem eigenen wie ihrem Tod droht. Ebenso lehrt er sie den Umgang mit Schusswaffen, was ihm am Ende im Rahmen eines großen Showdowns zum Verhängnis werden soll.  

Turtle scheint völlig auf sich allein gestellt. Schulleitung und Lehrerin spüren zwar, dass etwas nicht in Ordnung ist, unternehmen jedoch kaum etwas. Ja es hat sogar den Anschein, dass sie dem brillanten Intellekt des Vaters nicht gewachsen sind. Allein die zwei Jungen, denen sie aus dem Wald hilft, nachdem sich diese verlaufen hatten, bringen Verständnis für sie auf. Einer von ihnen, Jacob, verliebt sich am Ende in sie. Doch die Liebe steht unter einem bösen Stern, solange Turtle bei Martin lebt. Dieser will sie um keinen Preis loslassen. Schließlich sei sie ‚sein Ein und Alles’, wie bereits der Titel verrät. 

Etappe für Etappe nimmt der Leser am Entwicklungsprozess von Turtle teil, lernt ihre Schwächen, vor allem aber ihre Stärke kennen. Ebenso nimmt er die Vernachlässigung des Mädchens und Brutalität des Vaters ihr gegenüber wahr. Als dieser sich am Tod des Großvaters, den Turtle geliebt hat, schuldig macht und dessen Habe verbrennt, will sie zunächst nur noch sterben. Am Ende jedoch wird klar, dass dies der entscheidende Wendepunkt in ihrem Leben ist, aus dem sie letztlich Kraft schöpft, um sich gegen den Vater zur Wehr zu setzen.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl. 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Pinguin Verlag 

 

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Siehe auch unseren Buchtipp Gabriel Tallent: "Mein Ein und Alles". Roman

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Siehe auch unseren Buchttipp für die Jüngstenr Der Mann, der eine Blume sein wollte“ 

unseren aktuellen Geschenkbuchhtipp  Ulf Annel 

Buchtipp des Monats September-Oktober 2018

© Erna R. Fanger  

Dekonstruktion einer Vatertochter 

Francesca Melandri: „Alle, außer mir“.Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2018

Melandri hat mit „Alle, außer mir“ einen bedeutsamen Roman über die unglückselige Verquickung eurpäischer Kolonialpolitik mit der heutigen Flüchtlingskrise vorgelegt und damit eine Perspektive auf die gegenwärtigen Probleme Europas eröffnet, die längst fällig war, im Übrigen gerne unterschlagen wird. Zugleich ist es ihr Verdienst, die Menschheitsgeschichte mit den Wechselfällen in den Geschichten der Individuen überzeugend zu verknüpfen. Erzählt wird von einer italienischen Familie. Das komplexe Werk entfaltet sich aus verschiedenen Erzählperspektiven. Vornehmlich aus der Sicht Ilarias, einer engagierten Lehrerin Mitte vierzig, und der ihres Vaters Attilio Profetis, aber auch diverse Nebenfiguren kommen darin zu Wort. Zugleich bedient sie sich verschiedener Zeitebenen, flicht Rückblenden ein. 

Dreh- und Angelpunkt ist, als vor ihrer Haustür ein Schwarzer auf sie wartet. Der behauptet, sie sei seine Tante, und zeigt ihr einen Pass, auf dem der Name ihres Vaters zu erkennen ist. Der Schwarze erweist sich schließlich als Enkel Attilio Profetis, der dessen Vater einst die Vaterschaft verweigert hatte und von dem keiner in der Familie je erfahren durfte.

Jetzt, in äußerster Not – sein Asylantrag abgelehnt, in seiner Heimat Äthiopien verfolgt, seinen Cousin hatte man zu Tode gefoltert – strandet er bei ihr, Ilaria. Mit seinem Pass in der Hand kann sie noch nicht ermessen, was das für Ihr Leben fortan bedeutet, allenfalls erahnen. Für sie fühlt es sich wie folgt an:  „schlicht so, dass dieser Ausweis (...) eine Leere in sie gerissen hat, wie etwas, das fehlt: die kurzfristige, aber totale Auslöschung jeder kausalen Verbindung zwischen Wahrnehmung und Gedankenwelt“, womit treffend der Prozess einer Art Dekonstruktion des Vaterbildes antizipiert wird, den diese Begegnung einleitet. Denn die Fragen, die daran schließen, öffnen Ilaria, die ihren indessen dementen Vater Attilio Profeti bewundert und geliebt hat, die Augen. Hat dieser sie doch glauben gemacht, er sei im Widerstand gewesen, habe also auf der richtigen Seite gestanden. Ilaria wiederum, gebildet, engagiert, politisch links und hehre ethisch-moralische Werte vertretend, ist entschiedene Gegnerin der politischen Rechten, die unter Berlusconi das Sagen hat, und schämt sich der Flüchtlingspolitik ihres Landes. Dass sie ausgerechnet mit einem Funktionär der Berlusconi-Partei eine erotische Liaison verbindet, passt ins Bild der vielschichtig angelegten Figuren Melandris. Desgleichen die von ihrem Vater im Zuge korrupter Geschäfte finanzierte Wohnung auf dem Esquilin. Dunkle Flecken auf der sauber anmutenden Oberfläche. 

Doch mit dieser Begegnung und den Fragen, die mit ihr aufgeworfen werden, erhält diese nach außen hin glatte Fassade nach und nach immer mehr Risse. Und je mehr die fragwürdige politische Vergangenheit ihres Vaters ans Licht dringt, dieser hinter seiner nach außen hin strahlenden Karriere sich 1935 an entscheidender Stelle in den Ostafrikakrieg unter Mussolini verstrickt erweist, desto mehr ist auch Ilaria angehalten, ihre eigene Position zu hinterfragen. 

An dieser Stelle lohnt es sich, einen Blick auf den italienischen Titel „Sangue giusto“ – „Gerechtes Blut“ zu werfen, das eben diesen Männern, die an diesem grausamen Krieg beteiligt waren, zynischerweise zugesprochen wurde. 

Der nun vor ihr stehende junge Schwarze, zugleich Verwandte, scheint wie eine in sich stimmige personifizierte Antwort auf die oben angedeutete historische Gemengelage, die Ilaria buchstäblich den Boden unter den Füßen wegzureißen droht. Der deutsche Titel „Alle, außer mir“ wiederum deutet auf die Mentalität Attilio Profetis hin, der diesen Spruch bereits als kleines Kind als Motto für sich auserkoren hatte, als man ihm eröffnete, dass alle Menschen sterben müssen. Woraufhin er festen Willens beschloss: „Alle, außer mir“. Attilio Profeti setzte sich in dieser Manier über so manches hinweg, was ihm durchaus erheblichen Erfolg beschied.

Vatertöchter, dies ist inzwischen hinlänglich bekannt, beziehen ihre Identität aus der Beziehung zu ihrem Vater, von dem sie sich geliebt fühlen, den sie bewundern und dem sie nacheifern. Der Vater steht, auch das gehört längst zum Allgemeingut der sogenannten Wissensgesellschaft, für die Bewältigung der Realität. Protagonistin Ilaria ist eine solche, die hier jedoch eine erhebliche Zäsur erfährt. Und in dem Maß, in dem das Bild des Vaters demontiert wird, ist auch sie sich ihrer eigenen Identität nicht mehr sicher, gerät ihr Selbstbild ins Wanken. Unmissverständlich dringt die Erkenntnis durch: In diesem über Generationen hin sich erstreckenden Prozess kolonialer Gewaltherrschaft haben sich alle daran Beteiligten schuldig gemacht. Und das Erbe, das er hinterlassen hat, wird uns in Europa noch lange beschäftigen. Wiederum ist es das Verdienst dieses Buches, eben diese Verstrickungen aufzudecken. Wobei weniger die Beziehung zwischen Täter und Opfer im Zentrum der Fragestellung steht, als vielmehr die Frage der Verantwortung, wo unser eigener Platz im fragilen Gleichgewicht zwischen Gut und Böse ist, und dass keiner davonkommt, sprich seine Hände in Unschuld waschen kann.

Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt Verlag Klaus Wagenbach!

Download aktueller Buchtipp im Archiv Francesca Melandri: "Alle außer mir". Roman

Siehe auch unseren Buchtipp Gabriel Tallent: "Mein Ein und Alles". Roman

Siehe auch unseren  Sachbuchtipp Wolfram Eilenberger im Archiv

Siehe auch unseren Buchttipp für die Jüngstenr Der Mann, der eine Blume sein wollte“ 

unseren aktuellen Lyrik-Buchtipp  Bokusui 

Buchtipp September - Oktober 2018
DEKONSTRUKTION EINER VATERTOCHTER
Francesca Melandri: „Alle, außer mir“. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2018
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Buchtipp des Monats August 2018

© Erna R. Fanger  

Beckett und die Wirklichkeit der Absurdität 

Jo Baker: „Ein Ire in Paris.Aus dem Englischen von Sabine Schwenk. Albrecht Knaus Verlag, München 2018

Nach ihrem gleich zum Bestseller avancierten Debut „Longbourn“  (2013), wo die aus Lancashire stammende Autorin Jo Baker – Absolventin der Oxford und der Queens University in Belfast – die Geschichte von Jane Austens „Pride & Prejudice“ aus der Sicht der Dienerschaft erzählt, hat sie mit „Ein Ire in Paris“ nun auch ihren zweiten Roman vorgelegt. Mehr noch als der deutsche Titel gibt sein englisches Pendant „A Country Road, A Tree“ (London 2016) ersten Aufschluss über das Vorhaben Bakers, uns Beckett während seiner Zeit im besetzten Frankreich während des Zweiten Weltkriegs, vornehmlich Paris, in Romanform nahezubringen. Handelt es sich dabei doch um die Regieanweisung zu dem Theaterstück, mit dem Samuel Beckett 1953 in Paris im Téâtre de Babylone, nach der langwierigen Prozedur, überhaupt einen Aufführungsort zu finden, schließlich den Durchbruch erzielt: „Warten auf Godot“, das zu Recht als ein Meilenstein der dramatischen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg gilt und ihn zum Mitbegründer des Absurden Theaters gemacht hat. Dabei geht es im Wesentlichen um den Dialog ad absurdum zwischen den beiden Landstreichern Estragon und Wladimir, bar jeder Funktion. Vielmehr dreht sich alles um das Warten, um die Langeweile, die es mit sich bringt, in Verweigerung jedweder Sinnhaftigkeit. Stattdessen wird hier, teils in ironischer Brechung, teils mit philosophischen Implikationen, jede Deutung verweigert. Die Landstraße als Schauplatz, mit einem einzigen Baum, öde, führt nirgendwohin oder ins Ungewisse. Ebenso wie die Figuren in ihrer Identität schwanken und auch der linearen Zeit keinerlei Bedeutung zukommt. Einzig das Warten auf Godot scheint die Figuren zu verbinden. Godot, von dem keiner weiß, ob er je kommt, geschweige denn, ob es ihn überhaupt gibt und wer darunter zu verstehen sei. Zugleich steht “Warten auf Godot“ exemplarisch für die produktivste Schaffensphase Becketts und seines vornehmlich dramatischen Werks. 

Das Verdienst Bakers ist es, dass sie den Leser in drei Teilen und insgesamt 22 Kapiteln bis ins Detail in die Zeit während des Zweiten Weltkriegs nach Frankreich entführt. Teil I, beginnend mit „das Ende“, bezeichnet Becketts regelrechte Flucht aus familiärer Enge der irischen Heimat Greystones unter dem Regiment der vereinnahmenden Mutter. Zugleich aber auch das Ende der kurzen Friedenszeit zwischen den beiden Weltkriegen. Bei einem Besuch dort von psychomatischen Krankheiten heimgesucht, seine Kreativität lahm gelegt, zieht es ihn trotz des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs zurück nach Paris zu seiner Geliebten und späteren Ehefrau, der Pianistin Suzanne Dumesnil. Und während sich in den ersten Kriegswochen unheilvoll bedrohliche Schatten über Europa legen, durchleben sie das Glück ihrer Liebe. Suzanne, die sich als Klavierlehrerin verdingt, mit feinem Gespür für die Balance zwischen Nähe und Distanz, verwöhnt ihn mit kleinen Aufmerksamkeiten und sorgt dafür, dass sein Aufenthalt behördlich anerkannt wird. Lässt ihm bei allem aber auch den Raum, den er benötigt, um schreiben zu können. 

Am Horizont erste Anzeichen des Verschwindens und Gejagtwerdens jüdischer Bürger, die vergeblich versuchen, sich gegenseitig Halt zu geben, die Atmosphäre in der gefeierten Metropole Europas gespannt: „Da ist ein Drang nach Gemeinschaft, aber auch der Sog der Angst. Wer möchte schon damit in Verbindung gebracht werden, dazugehören zu dieser Gemeinschaft von Ausgeschlossenen?“ Ungläubig registriert das Paar das bald schon nicht mehr zu übersehende nahende Unheil. Beckett sieht sich genötigt, der drohenden Katastrophe etwas entgegenzusetzen. Er schließt sich der Résistance an, übermittelt verschlüsselte Botschaften. Doch das Wirken im Untergrund gefährdet alle darin Verwickelten. Stets auf der Hut vor der Gestapo, immer wieder Verhaftungen im konspirativen Umfeld. Der Alltag, seit 1940 zunehmend bestimmt von Hunger, Armut, Angst und und Flucht. So verschlägt es Beckett zunächst nach Vichy, wo auch Joyce sich aufhalten sollte. Joyce, den er bewundert, unter dessen Einfluss er seine eigene Schriftstellerkarriere begann ebenso wie eben dieser Einfluss ihm später zum Verhängnis wurde. Die Begegnung mit ihm gerät zum Fiasko. Joyce in erbärmlichem Zustand, halb blind. Kaum in der Lage, auf den Landsmann einzugehen. Beckett, der seine britischen Schecks nicht einlösen kann, ist blank, erhofft sich von Joyce Unterstützung. Doch der geht ganz auf in seiner Verzweiflung über die Zumutungen des Lebens, sei es der Poitik, sei es im familiären Umkreis, will sich mit der Familie in die Schweiz absetzen. Er nennt ihm noch einen Namen, „Larbaud“, woran er sich wenden könne. Der kann helfen. Beckett ist erst mal gerettet. Es ist die letzte Begegnung zwischen den beiden Giganten gewesen. Wenige Monate danach ist Joyce tot. Den Sommer verbringen Samuel und Suzanne mit Marcel Duchamp, der vorhat nach New York zu übersiedeln, und seiner Lebensgefährtin Mary Reynolds, die jedoch vorzieht, in Frankreich zu bleiben. Später erfahren wir von Duchamp aus New York, dass er aufgehört hat zu arbeiten, nur noch Schach spielt, was ’durch ein kompliziertes Netz von Möglichkeiten zu einem Endspielführt, das sich immerzu zu Stille und Schweigen wandelt und zugleich vorhersehbar ist.’ „Endspiel“ gibt dann auch den Titel ab von Becketts 1957 in London uraufgeführtem Einakter, der, an die groteske Verstörung seiner Figuren gemahnend, zunächst auf Unverständnis und Ablehnung stößt und erst zehn Jahre später unter seiner eigenen Regie im Schillertheater in Berlin zu einem Publikumserfolg avancieren sollte.

Der folgende Winter in Paris ist hart, aber erträglich. Noch findet sich Brennmaterial in den Parks, mit dem der Kamin angezündet werden kann. Und immer wieder: Hunger. „’Ich habe eine Steckrübe gekauft’, ruft Suzanne. ‚Und wir haben noch zwei Möhren. Da mache ich später Püree draus’.“ Unmerklich schnürt die Not sie zusammen, zwängt sie in ein Leben, das keiner sich ausgesucht hätte und unter dem nicht zuletzt ihre Liebe buchstäblich in die Pflicht genommen wird, der ursprünglichen Freiheit ihrer Verbindung beraubt. 

Weit härter und brutaler sind die Sommer und Winter, die folgen. Getriebene des Schicksals, jeden Sinns beraubt, ihr Weg gesäumt von Leidensgenossen, Geschundenen, Gedemütigten. Unzählige verschwunden. Gequält. „Paris ist nicht mehr Paris.“ Jetzt ist der Krieg überall. Immer weitere Verhaftungen, darunter engste Freunde. Für nichts und wider nichts. ‚Der Huger eine gefährliche Waffe, durch die man sich selbst augeliefert ist’. Leben im „Fegefeuer“, dementsprechend auch der Titel von Teil 2. „Sein Leben reduziert sich auf essen und ausscheiden ... Es ist demütigend und macht ihn zum Tier.“ Überall lauert die Gestapo. Die Liebe aufgerieben. „Eine Berührung löst Frösteln aus. Ein harmloses Wort kann Anstoß erregen.“ Das Schreiben hat seinen Sinn verloren: „Nun starrt er auf die drei Wörter, die er geschrieben hat. Sie sind vollkommen lächerlich, das ganze Schreiben ist lächerlich. Ein Satz, jeder Satz ist absurd.“

All dies gibt die Folie ab zu Becketts Schaffen seit „Warten auf Godot“. Und das Kriegsende 1945 bezeichnet in Teil 3, „Beginn“, zugleich den Anfang der literarischen Produkion Becketts, mit der er sich einen Namen machen sollte. Auf so komplexe wie subtile Weise kommt dabei der Zivilisationsbruch zur Sprache, der auf den Menschen der westlichen Hemisphäre schwer lastet. Beginnend mit dem Ersten Weltkrieg, auf die Spitze und weit darüber hinausgetrieben mit dem Zweiten Weltkrieg. Ethisch und moralisch ist die Menschheit am Nullpunkt angekommen. Sämtliche Errungenschaften der Aufklärung bis dahin nicht nur infrage gestellt, sondern in ihren Grundfesten erschüttert. Der Mensch ist aus der Bahn geschleudert. Die Werte haben sich verkehrt und Becketts Schaffen seit seinem Durchbruch spiegelt dies wider, in all seiner so fragwürdigen wie fragmentarischen Wucht, dem darin zutage tretenden Widersinn, in seiner Absurdität und abgrundtiefen Zerrissenheit. 

Dies hat Jo Baker uns eindrucksvoll nahegebracht. Ihren Stil muss man mögen. Und nicht jedes Detail wäre hier nötig gewesen, um sich ein Bild von jenen Tagen machen zu können. Ebenso wenig wie die Wahl des durchweg atemlosen Präsens, jede Distanz zum Geschehen verhindernd, ausnahmslos glücklich scheint. Nichtsdestotrotz: In Erhellung des politisch-historischen Hintergrunds im Schaffen Becketts, das ihm 1969 nicht zuletzt den Nobelpreis für Literatur eingebracht hat, so lesens- wie empfehlenswert.

Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Albrecht Knaus Verlag!

 

Download aktueller Buchtipp im Archiv Jo Baker "Ein Ire in Paris" Roman

 Sachbuchtipp Wolfram Eilenberger im Archiv

Siehe auch unseren Buchttipp für die Jüngstenr Der Mann, der eine Blume sein wollte“ 

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