Dr. Erna R. Fanger und Hartmut Fanger MA

Seit über 25 Jahren erfolgreiche Dozenten für Kreatives und Literarisches Schreiben, Fernschule, Seminare, Lektorat

Sachbuchtipp des Monats  Dezember 2018 - Februar 2019

© Erna R. Fanger:

Politische Sprache auf dem Prüfstand

Robert Habeck  "Wer wir sein könnten. Warum unsere Demokratie eine offene und vielfältige Sprache braucht“, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018

Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten zu werden. Emmanuel Lévinas

In diesem jüngst erschienenen Werk geht Grünen-Chef Robert Habeck, zugleich Schriftsteller, dem Zusammenhang zwischen Sprache und Politik nach. Dabei macht er deutlich, dass in der Politik Sprache das eigentliche Handeln ist, und umreißt den Unterschied zwischen totalitärer und offener Sprache. Während Erstere vermeintliche Wahrheiten mit Absolutheitsanspruch behauptet, ringt Letztere um Wahrheit, im Wissen darum, dass es hierbei unterschiedliche Perspektiven zu berücksichtigen gibt. Ein Schlüssel liege „in der Reflexion unserer Sprache und in der Kritik unserer politischen Kommunikation“.

Sprache, so Habeck, ist nicht Abbild der Wirklichkeit, bringt sie vielmehr aktiv hervor. Plastisch illustriert er dies anhand des Konzepts der romantischen Liebe, die erst Einzug in die Gesellschaft hielt, nachdem sie in der Literatur Einzug gehalten hatte, wie etwa in Shakespeares „Romeo und Julia“ oder Goethes „Leiden des jungen Werthers“. 

Ebenso konstituiere die zunehmende Verrohung der Sprache Wirklichkeit. Nach stillschweigender Hinnahme der Maßnahmen Merkels, ohne dass dies entsprechende Debatten ausgelöst hätte, seien wir indessen in einer Zeit „politischen Brüllens und Niedermachens“ angelangt. Es würden Kränkungen zugefügt, statt Argumente ins Feld geführt, Beleidigungen avancierten zur probaten Rhetorik. Statt produktiver Streitkultur, bezichtige man sich gegenseitig, werte einander ab. Dabei verhärten sich Fronten, Rechthaberei mache sich breit, statt gemeinsam um Lösungen zu ringen. Aber auch Sprachlosigkeit, dort, wo es notwendig wäre, ein Machtwort zu sprechen, sei ein politisches Problem, „falsches Verständnis für das Gesagte“ verschiebe die Grenze des Sagbaren immer weiter. 

Wenn Sprache politisches Handeln nach sich zieht, welche Sprache bräuchten wir dann. Auf jeden Fall eine Sprache, die Alternativen zulässt, eine Sprache, die offen ist, in der eine Politik der Vielfalt und Verschiedenheit als Reichtum begriffen werde, worum sich zu ringen lohne. Dies ist zugleich eine Sprache, die Abstand vom Entweder-Oder zugunsten eines Sowohl-als-auch oder eines Einerseits-Andererseits-Prinzips nimmt. Ebenso wenig wie etwa der offenbar keinen Widerspruch duldende „Masterplan“, der suggeriert, die Probleme der Flüchtlingspolitik ‚im Griff’ zu haben, die adäquate Antwort auf die mit ihr einhergehenden komplexen Herausforderungen sein kann. Weiter hilft eher, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass es hier keine einfachen Antworten gibt, es vielmehr auf einen Versuch ankomme – was zugleich die Suche impliziert – ins Auge gefasste Lösungen zu erproben. Einer Haltung, dazu angetan, Kreativität freizusetzen und neue Horizonte zu erschließen. 

Überhaupt betont Habeck die Unvollkommenheit in der Politik – „Alle Politik ist Fragment“ –, mit der uns ja auch das Leben schlechthin konfrontiert, als Basis aller Entwicklung. Nichts ist perfekt, alles ist Stückwerk, was uns wiederum anhält, dies als Impuls zu verstehen, weiter daran zu arbeiten, um zu neuen Antworten zu gelangen. Eben dies mache Demokratie aus. Und er misst dabei der Kunst eine entscheidende Rolle zu, nämlich: „Eben nicht nur um zu hinterfragen, sondern um Fragen zu stellen, wo ‚wir’ hinwollen? Wer wir sein könnten.“

Aber auch die bewusste Verkehrung von Bedeutungsebenen zur Verschleierung  von Tatsachen, wie etwa in Orwells 1984 und bis heute immer wieder praktiziert, kommt zur Sprache. Bei Orwell heißt das Kriegsministerium „Ministery of Peace“, die AFD wiederum spreche vom Holocaust-Denkmal als einem „Denkmal der Schande im Herzen der Hauptstadt“. Entgegen vereinbarter Grundannahmen in der Bundesrepublik Deutschland. Zu denken geben muss, dass selbst ein bekanntermaßen eher sozialdemokratisch gesonnenes Medium wie die ZEIT im Tenor von CSU und AFD mit „Illegaler Shuttle-Service“ im Hinblick auf Flucht und Migration titelte. Auch wenn sich hinterher dafür entschuldigt wurde, ist es ein Alarmzeichen, wie sehr sich die politische Mitte nach rechts verschoben hat. Wobei dies nur ein Beispiel solcher „Umwertung aller Werte“ à la Nietzsche darstellt, das er dem Leser vor Augen führt. Ebenso versteht er es im Zuge dieser zugleich differenzierten Analyse politischen Sprechens, den Leser zunehmend zu sensibilisieren. So, wenn er überdies den Aspekt der Verdinglichung ins Feld führt. Etwa in der Rede eines Gauland, man könne sich nicht von der Flüchtlingskrise ‚überrollen lassen’, was in der Definition laut Duden „mit Kampffahrzeugen erobern, bezwingen“ heiße und sich mit der konkreten Notsituation von Geflüchteten allenfalls in zynischer Manier vermittelt: „Mit all diesen Sprachbildern werden Menschen entmenschlicht, entindividualisiert.“ Zugleich entlarvt er sie als „rhetorische Konzepte (...), um die Abhärtung gegen Mitleid voranzutreiben.“

Unmissverständlich daher sein Appell, angesichts der neuen Dimension der Auseinandersetzung zwischen offen völkisch-nationalistischer und liberaler, internationaler Politik, nicht müde zu werden, Erstere im Zweifelsfall als undemokratisch und menschenverachtend zu entlarven. Und zwar gerade in einer Zeit wie dieser, wo es seit der Liberalisierung der Wirtschaft, die die liberale Demokratie auszuhöhlen drohe, um extrem viel geht. „Politik ist der Streit um mögliche Welten.“ Und hier ist jeder gefordert, sich einzumischen, im Gespräch zu bleiben, auch mit dem politischen Gegner. Offen, unvoreingenommen, wach! 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verlag Kiepenheuer & Witsch!

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Sachbuchtipp des Monats 

August - September

© Erna R. Fanger

Lust an Erkenntnis zum Zweck befreiender Klarheit     

Wolfram Eilenberger: „Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 - 1929“, Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2018

 Wolfram Eilenberger, Jahrgang 1971, einst langjähriger Chefredakteur des „Philosophie Magazins“, heute Zeitkolumnist, Moderator von „Sternstunden der Philosophie“ im Schweizer Fernsehen, Mitglied der Programmleitung der „phil. cologne“, Fußballexperte und Autor lädt mit Ludwig Wittgenstein ein: zum Gebrauch nämlich ‚der natürlichen Sprache des Alltags’, um die Fragen zu erkunden, die wir an das Leben haben. Demnach gibt es keine rein philosophischen Probleme, was Wittgenstein „als das Ergebnis einer Verwirrung“ entlarvt. Dies gelte es, mit Beharrlichkeit und der dazu gebotenen Geduld zu klären und zu heilen, mit Blick auf all die Vielfalt im jeweils gegebenen Kontext. Wobei es darum geht, sich zunächst einmal ‚in Erinnerung zu rufen, wo welche Worte wirklich sinnvoll zu verwenden’ seien: „Philosophieren ist Erinnern zu einem Zweck“, so Ludwig Wittgenstein. Im Übrigen einer der von Eilenberger hier porträtierten Fabulous Four der Philosophiegeschichte, gefolgt von Ernst Cassirer, Martin Heidegger und Walter Benjamin. Das Verbindende bei all der Verschiedenheit der vier ‚Charakterdarsteller’ ihres Fachs sieht Eilenberger wiederum vornehmlich in der Sprache „als die Grundlage der menschlichen Lebensform“. Zugleich beschäftigt sie die Frage der Bedingungen, unter denen es überhaupt möglich sei, ‚uns über eine unmittelbar als sinnvoll erscheinende Welt auszutauschen’. Frage, mit der sie die Weichen in der Philosophie bis heute gestellt haben. So wird Wittgenstein als Mitbegründer der analytischen Philosophie in die Philosophiegeschichte eingehen, deren Anliegen es ist, die als sinnlos sich erwiesen habenden metaphysischen Fragestellungen aus dem philosophischen Diskurs fernzuhalten. Cassirer wiederum legt mit der grundlegenden, dem Menschen unterstellten Zeichenhaftigkeit den Grundstein für die heutigen Kulturwissenschaften. Im Gegenzug sieht Heidegger in der Kultur nicht den Sinn des Daseins, sondern Ablenkung vom ‚Eigentlichen’, nämlich sich als endliches Wesen von seiner grundlegenden Angst zu befreien. Frage, die am Ende in die Philosophie des Existenzialismus mündet. Benjamin schließlich, in seiner genialischen Originalität und seinem Denken in Paradoxien, gilt als Wegbereiter der Frankfurter Schule mit der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos. 

Ergänzt durch über 200 Anmerkungen, Angabe von Quellenmaterial, Personenverzeichnis, jeweiligem Werkregister samt Auswahlbibliographie und Bildnachweis, wird der Leser in acht chronologisch angelegten Kapiteln,  jeweils ein bis zwei Jahre umspannend, und einer Art Epilog unter dem Titel „Endliche“ in besagte Dekade entführt, erlebt diese nicht zuletzt aufgrund Eilenbergers mitreißender Erzählkunst, hautnah mit. 

Genial gleich der Prolog, wo sozusagen ‚das Pferd von hinten aufzäumt wird’ und Eilenberger die Vier jeweils am Ende der Dekade 1919 – 1929 in Erscheinung treten lässt: Ludwig Wittgenstein, Verfasser des als Art Geniestreich gehandelten „Tractatus logico-philosophicus“, zugleich verarmter Milliardärssohn, der aus Überzeugung darauf bestand, auf sein Erbe zu verzichten, um sich als Dorfschullehrer zu verdingen. 1929, indessen völlig mittellos, depressiv, kehrte er nach Cambridge zurück, wo er wie ein Gott empfangen wurde, jedoch weit davon entfernt, für ein Forschungsstipendium die formalen Kriterien zu erfüllen. Und es verdankt sich dem Großmut seiner Gönner, vornehmlich dem Einsatz Bertrand Russels, der sein eigenes beachtliches Werk in Bewunderung des Ausnahmetalents Wittgensteins hintanstellte und sich dafür einsetzte, dass er mittels des Tractatus einen akademischen Titel erlangte. Das Rigorosum geriet offenbar zum Fiasko. Er hingegen beendete es mit dem Statement: „Macht euch nichts draus, ich weiß, ihr werdet es nie verstehen.“ Nun, sein Forschungsstipendium hat man ihm bewilligt.

1929 war auch das Jahr, wo die „Gipfelstürmer“ Martin Heidegger und Ernst Cassirer im Rahmen der renommierten „Davoser Hochschultage“ aufeinandertrafen. Vertreter ihres Fachs, wie sie gegensätzlicher nicht hätten sein können. Als entscheidendes Medium für das Dasein des Menschen hält Heidegger die Sprache. Im Zentrum die Frage, wie der Mensch mit der grundlegenden Angst angesichts seiner Endlichkeit umgehe, angesichts seines Geworfenseins in eine Welt, in der er sich nun herausgefordert sieht, seine Möglichkeiten zu ergreifen. Heidegger, der offenkundige Machtmensch bäuerlicher Herkunft, durch sein epochales Werk „Sein und Zeit“ (1927) wie ein Komet aufgestiegen, zugleich kauzig und provinziell in seinem Auftreten. Als der Jüngere hat er jedoch die Studentenschaft hinter sich. Cassirer dagegen mit seiner „Philosophie der symbolischen Formen“ – 1929 erscheint der dritte und letzte Band – auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn. Spross einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie jüdischer Herkunft, beeindruckt er durch seine immense Belesenheit und das nahezu ‚übermenschlich erscheinende Erinnerungsvermögen’. In der akademischen Welt, wo er seit zehn Jahren in Hamburg einen Lehrstuhl innehat, überzeugt er durch kontinuierliches, erfolgreiches Streben. Dem Menschen wesentlich ist laut Cassirer dessen grundlegende Fähigkeit, Zeichen hervorzubringen, „symbolische Formen“  also, worunter er Sprachfähigkeit, etwa auch den Mythos, aber zugleich jedwede künstlerisch-kulturelle Ausdrucksform versteht. Der sogenannte Davoser Disput, den sich die beiden liefern, gilt im Rückblick als Wegscheide der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Richtung weisend bis heute. Und die Frage, „Was ist der Mensch“, zumal nach Entdeckung der Relativitätstheorie, dem Aufkommen Freuds, den Errungenschaften der Technik, die sich im Zuge des Ersten Weltkriegs in ihrer bislang nie gekannten Zerstörungsmacht entfaltet und das Selbstverständnis des Menschen zutiefst erschüttert hat, wird hier neu und umso dringlicher gestellt. In seiner ungemein bildhaften Sprache bringt Eilenberger sie beide in einem treffenden Bild süffisant auf den Punkt: ‚Heidegger die Hütte, Cassirer das Hotel’. Bedeutsam wiederum – gerät Cassirer unter Hitler zum Verfolgten, Heidegger hingegen zum überzeugten Nationalsozialisten.

Plastisch versteht Eilenberger es, den so genialen wie tief in sich zerrissenen, zunehmend isolierten Walter Benjamin nahezubringen, mit seinem „romantischen Hang zum Vorläufigen und Labyrinthischen“, zur Esoterik der jüdischen Kabbala: „Wenn es einen Intellektuellen gibt, in dessen biographischer Situation sich die Spannungen des Zeitalters exemplarisch spiegeln, dann ist es Walter Benjamin im Frühjahr 1929.“ Seinerzeit verkannt, wird Benjamins Beitrag zu den Davoser Hochschulgesprächen, „Der Ursprung des deutschen Trauerspiels“, abgelehnt. Erst seit jüngerer Zeit gilt das Werk, vornehmlich seine „Erkenntnistheoretische Vorrede“, als „Meilenstein der Philosophie und Literaturtheorie des 20. Jahrhunderts“. Nicht wie Heidegger an der Ausgesetztheit der Todesangst des Menschen sich abarbeitend, und schon gar nicht einen logischen Weltzusammenhang wie Cassirer vor Augen habend, setzt er auf das „Ideal eines den Augenblick feiernden Rausches und Exzesses als Moment der wahren Empfindung.“ Dementsprechend gestaltet sich nicht zuletzt in Benjamins Lebenspraxis auch die Antwort auf die Urfrage „Was ist der Mensch?“ und, daran knüpfend, „Wie soll ich leben?“ Nach erfolgreicher Promotion kann er sich nicht zu einer universitären Laufbahn entschließen, die er, laut Eilenberger zwiegespalten und davon abhängig, wie die Finanzen stehen, ebenso erhofft wie fürchtet. Am Ende optiert er dafür, sich als freier Kritiker zu verdingen. Zu allem hin überwirft er sich mit seinem Vater, der ihm den Geldhahn zudreht. Und obwohl es an Aufträgen nicht mangelt, ist er mit Frau und kleinem Sohn in ständiger finanzieller Not. Über seine Verhältnisse lebend, ist er in teuren Restaurants, Spielkasinos und Freudenhäusern zu Gast. Darüber hinaus sammelt er, einer Manie gleich, Kinderbücher, die er sich aus ganz Europa kommen lässt. Ebenso wie sich seine Zerrissenheit in seinen Denkbildern und theoretischen Annahmen widerspiegelt. Nach seiner ganz eigenen Erkenntnismethode gewinnt er Aufschluss über das Wesen der Dinge und Beziehungen aus dem Randständigen, am Rand der Gesellschaft erweist sich sozusagen ihre Wahrheit, und die Dinge sind ebenso auf sich selbst bezogen wie auf anderes. So haben wir es bei Benjamin mit Denkbildern einer stets in sich ‚widersprüchlichen Gleichzeitigkeit’ und „kontrastreichen, ewig dynamischen Erkenntniskonstellationen“ zu tun. Einer Vielstimmigkeit also, durchaus eher dazu angetan zu überfordern, wer sich darauf einlässt, als unbedingt und ohne weiteres der Wahrheitsfindung dienlich. Allein Benjamin selbst zerbricht an seinen eigenen Voraussetzungen, fängt unzählige hochkarätige Projekte an, die er nicht zu Ende bringt, will sich von seiner Frau wegen der Leidenschaft für eine lettische Theaterregisseurin scheiden lassen, die ihn jedoch vor die Tür gesetzt hat, um schließlich in der Psychiatrie zu landen. Von seinem späteren tragischen Ende, wo er sich unter der Verfolgung der Nazis das Leben nimmt, zu schweigen. 

Nicht zuletzt verdankt sich einmal mehr Eilenbergers markantem, bildhaftem Erzählstil, dass wir bei den großen Philosophen neben ihren Lehren, die sie auf ihre so einzigartige Weise vertreten haben, zugleich die dahinter stehende Persönlichkeit in frappierender Unmittelbarkeit erleben. Ein so mitreißendes wie lehrreiches Lesevergnügen.

Doch lesen Sie selbst. Lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Klett-Cotta-Verlag

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Sachbuchtipp Monat Mai 2018 

© Erna R. Fanger: 

Zwischen Kontrollwahn und Kommerz –  Medizin auf dem Prüfstand:       

 

Barbara Ehrenreich: „Wollen wir ewig Leben? Die Wellness-Epidemie, die Gewissheit des Todes und unsere Illusion von Kontrolle“, aus dem Englischen von Ursel Schäfer und Enrico Heinemann. Verlag Antje Kunstmann, München 2018

 

Dieses Buch polarisiert. Unerbittlich konfrontiert es den Leser mit der eigenen Endlichkeit und stellt Errungenschaften der modernen Vorsorge-Medizin samt Wellness-Kult – seit dem 21. Jahrhundert aus der Sicht der Autorin zu einer Art Kontrollinstrument über den Körper mutiert – radikal infrage. Ein Affront für alle, die darauf gebaut haben. Wasser wiederum auf die Mühlen derer, die dieser Entwicklung eher misstrauen und sich, nicht selten mit schlechtem Gewissen, dem in ihren Augen “Vorsorgeterror“ verweigern. Zu guter Letzt handelt es sich jedoch zugleich um eine veritable Kapitalismus-Kritik. Mit keiner Angst lässt sich so gut Geschäfte machen als mit der Angst vor dem Tod, die noch jeden in die Knie gezwungen hat. Hier locken Billionengeschäfte. Zumal angesichts der Flut an Methoden, Mittelchen und Heilversprechen, allesamt mehr oder weniger kostspielig. 

Ausgehend von der eigenen Erfahrung einer lebensbedrohlichen Erkrankung und der daraus für sie resultierenden Erkenntnis, dass unser Körper und Geist, und sei es durch noch so große Anstrengung, mitnichten unter Kontrolle zu bringen seien, diskutiert Ehrenreich, promovierte Biologin und Journalistin Jahrgang 1941, dies in zwölf Kapiteln. Beginnend mit der mit Verve vorgetragenen Revolte gegen Früherkennungsuntersuchungen, zitiert sie etwa den Arzt und Blogger John M. Mandrola: „Statt zu fürchten, dass eine Krankheit nicht entdeckt wird, sollten Patienten wie Ärzte lieber das Gesundheitswesen fürchten. Der beste Weg, medizinische Irrtürmer zu vermeiden, ist medizinische Behandlungen zu meiden.“ Und nicht ganz zu Unrecht prangert sie Profitgier als Grund für all die Screenings und Tests an. Insbesondere mit der indessen umstrittenen Mammographie geht sie ins Gericht und preist am Ende die Freiheit, die ohnehin begrenzte Lebenszeit, statt in meist überfüllten Wartezimmern zu verbringen, für Projekte eigener Interessen zu nutzen. Und nicht wenigen Frauen mag es Genugtuung verschaffen, wie sie gängige Untersuchungsmethoden, etwa in der weitgehend noch immer Männerdomäne Gynäkologie, als „Rituale der Demütigung“ entlarvt. Erheiternd wiederum, wenn sie magische Rituale indigener Stämme augenscheinlich rational getarnten, häufig mit Übergriffen einhergehenden heutiger „Medizinmänner“ in Weiß gegenüberstellt und das Verhältnis Arzt und Patient als „Ritual von Beherrschung und Unterwerfung“ entzaubert. 

Als entscheidendes Verdienst des Werks erweist sich jedoch, inwieweit Ehrenreich anhand einleuchtender Beispiele herauskristallisiert, welchen Einfluss der zunehmende ökonomische Druck auf immer breitere Teile der Bevölkerung nimmt und wiederum mit der expandierenden Sorge um die eigene Gesundheit sowie der aufkommenden Wellnessindustrie zusammenspielt. Desgleichen postuliert sie einen Zusammenhang zwischen zunehmender Verdrängung der Geisteswissenschaften im Zuge der 90er Jahre, einhergehend mit einem Heer verarmender Intellektueller – exemplarisch hierfür der Taxifahrer mit Doktortitel oder der auf die Tafel für Bedürftige angewiesene Akademiker – und den im gleichen Atemzug sich etablierenden Methoden zur Selbstoptimierung. Vom Fitness-Studio, wo man mit geringem Aufwand eine Menge Geld verdienen könne, über jede Menge neuer Methoden des New Age, sei es Rolfing, Yoga oder Meditation, um nur einige zu nennen. Und sie beobachtet die Abkehr vieler vom Studium der Sozialarbeit und Umweltfächern zugunsten von Betriebs- und Volkswirtschaft: „Wenn man schon nicht die Welt verändern und nicht einmal die eigene Karriere steuern konnte, so konnte man doch wenigstens den eigenen Körper kontrollieren ...“ Zugleich ist in jüngster Zeit ein unerwarteter Anstieg der Sterberate armer weißer Amerikaner zu verzeichnen, der laut Ehrenreich aber, ähnlich wie der Anstieg der Sterberate in den 90er Jahren nach dem Zusammenbruch der UdSSR, vordergründig weniger deren ungesundem Lebensstil als vielmehr dem Verlust grundlegender ökonomischer Absicherung und damit einhergehendem Druck geschuldet sei.

Indessen avancierten Indizien sportlicher Aktivitäten oder Fitness, wie Yogamatte oder Marken-Trikot, zum Statussymbol, angefeuert von entsprechenden Coaches. Rank und Schlanksein inbegriffen, gefolgt vom moralisch verordneten Nichtrauchen. Im 21.Jahrhundert nimmt zusehends die Selbstüberwachung ihren Lauf, die passende App liefert die Anweisungen und die Krankenkassen brauchen nur noch die Daten aufzugreifen und demensprechend ihre Tarife anzupassen.

Überhaupt erweist sich Ehrenreich als so kompetent wie souveräne Chronistin der zahlreich aufkommenden Zeitgeistphänomene, die sie einer erfrischenden Analyse unterzieht, dabei frech dem Tod ins Auge blickend. Vom Mythos ‚gesunden’ Alterns, über Achtsamkeitsbewegung, Ganzheitlichkeit und systemische Ansätze bis hin zur Rolle des Ichs, der Huldigung des Selbst, damit einhergehend Selbstfürsorge und Eigenliebe. Allesamt darauf ausgerichtet, Leib und Leben gesund zu erhalten. 

Hat sie doch ihr Leben gelebt, ohne sich – abgesehen vom selbst auferlegten Gang ins Fitness-Studio – dem Kontrollzwang der Medizin zu unterwerfen oder sich dem Diktat der Gesundheitsindustrie zu beugen. Vielmehr würde man ihr ‚Genuss ohne Reue’ auf die Fahnen schreiben wollen. Und da folgen wir ihr doch gerne.

Doch lesen Sie selbst. Lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verlag Antje Kunstmann! 

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Sachbuchtipp April 2018 

Von „Gackelfreude“ und „Pinkepank“

Ein Wörterbuch der besonderen Art 

© Hartmut Fanger 

Peter Graf (Hrsg.): „Ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten aus dem Grimmschen Wörterbuch“, Verlag Das kulturelle Gedächtnis GmbH, Berlin 2018

 

Das Grimmsche Wörterbuch, auch als „Der Grimm“ oder als das „Deutsche Wörterbuch“ bekannt, bildet die Grundlage Jahrhunderte langer Sprachforschung. Mit Belegstellen von Luther bis Goethe das erste seiner Art mit dem Ziel, der 1838 noch vorherrschenden Vielstaaterei etwas entgegenzusetzen. Peter Graf hat sich nun die Arbeit gemacht, die, wie schon der Titel verrät, schönsten und heute gänzlich unbekannten Wörter aus dem insgesamt 34.800 Seiten umfassenden Werk auf 362 Seiten ausfindig zu machen. Wobei er in der Auswahl keinen wissenschaftlichen Anspruch oder gar den auf Vollständigkeit erhebt. Herausgekommen ist dabei eines der liebevollsten, humorvollsten und vor allem poetischsten Sachbücher unserer Zeit, das vor „Lust am Text“ förmlich birst. Wie ihm auch anzumerken ist, dass sein Herausgeber Peter Graf die Arbeit daran nie als solche empfunden hat, sie sich eher wie Ferien anfühlte. Wobei der Charakter eines Wörterbuchs aufrechterhalten wurde, die jeweiligen Begriffe dem Alphabet nach geordnet sind. Von „ANDUSSELN“ bis „ZWICKZWACKEREI“, von „BACHSCHNATTERIG“ bis „WUNDERWIRKLICH“,  von DÄMELENDAMMELEN“ bis „STRAHLENSILBERFLITTER“. Jedes dieser Wörter, vielfach überdies onamatopoetisch anmutend, wird von den Gebrüdern Grimm und später daran tätigen Autoren mit Textstellen belegt und, wenn nötig, natürlich kommentiert und analysiert, was sich, wie die Wörter selbst, humorvoll liest. So zum Beispiel der Kommentar zu dem inzwischen vergessenen Wort „LILAPS“, worunter wir ,das Zitat „unser junger graf konrad hat einmal wieder schlimme streiche gemacht ... ein rechter lilaps und bannepampel“ finden. Oder wussten Sie, lieber Leser, was „FINKELFECH“, „IGELISCH“ und „MOPSNÄSICHT“ bedeuten? Lassen Sie sich überraschen! 

Zusätzlich besteht der Reiz darin, dass zwar vieles aus dem Volksmund, das meiste jedoch aus der Feder von Dichtern stammt. Gemeinsam gibt das Ganze einen mehr oder weniger vollständigen Eindruck des einstigen, zu unterschiedlichen Zeiten entstandenen Sprachgebrauchs wieder. 

Das Wörterbuch wurde nach dem Tod der Gebrüder Grimm fort und fort entwickelt bis es 1961 zu einem vorläufigen Abschluss fand. Peter Graf ist es zu verdanken, dass er darauf aufmerksam macht, dass auch zur Zeit des Nationalsozialismus daran gearbeitet wurde, was zu einem nicht zu übersehenden antisemitischen Einfluss führte, der – und das ist das eigentlich Skandalöse –  bis heute nicht behoben oder zumindest kommentiert worden ist. Weder in der gedruckten noch in der digitalisierten Fassung. Dementsprechende Begriffe werden in dem vorliegenden Band allerdings bewusst ausgelassen, was dem Projekt nur gutgetan hat.  

Neben dem Erkenntnisgewinn besitzt dieses außerordentliche Werk nicht zuletzt beachtlichen Unterhaltungswert. Wobei sein Herausgeber die Absicht, den Spieltrieb zu wecken, durchaus nicht verschweigt. Dazu gibt er uns Lesern den Tipp an die Hand, das Werk zum Rätselraten zu verwenden und herauszufinden, was etwa unter den einzelnen Wörtern wohl verstanden werden könnte, oder sich zu eigenen Wortschöpfungen anregen zu lassen. 

Nicht unerwähnt bleiben darf, last but not least, die ästhetisch ansprechendeGestaltung. Der mit einzelnen Buchstaben des Alphabets und Vignetten versehene Einband, Schrift und Graphik in Grün- und Blaudruck gehalten, geben einen treffenden Eindruck von der Entstehungszeit des  Wörterbuchs wieder. 

Alles in allem ein erlesenes Vergnügen, nicht nur für Sprachbesessene!

Doch lesen Sie selbst. Lesen Sie wohl!

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Sachbuchtipp April 2018
Von „Gackelfreude“ und „Pinkepinke“, Ein Wörterbuch der besonderen Art
Peter Graf (Hrsg.): „Ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten aus dem Grimmschen Wörterbuch“, Verlag Das kulturelle Gedächtnis GmbH, Berlin 2018
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Sachbuchtipp März 2018

 

Brückenbauer zwischen den Welten

© Hartmut Fanger  schreibfertig.com:

                                                                                                                                                                                                                                             

Navid Kermani: „Entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan“, Verlag C.H.Beck oHG, München 2018

Im Auftrag des „Spiegel“ reiste Navid Kermani durch für ‚Westler’ weitgehend unbekanntes Terrain. Daraus entstanden ist ein Tagebuch der besonderen Art. Spannend und mitreißend wie ein Roman, detailliert und kenntnisreich wie ein Bericht, originell, sachkundig und informativ wie ein Essay. So nah an den Ereignissen, wie es nur die Reportage vermag. Ein Buch, das all diese Genres in sich vereinigt, was nicht zuletzt seine bemerkenswerte stilistische Qualität ausmacht – lehrreich, unterhaltsam und durchweg packend. Dabei versteht es Kermani, uns die entlegensten Winkel nahezubringen. Und das weniger im touristischen Sinne als vielmehr im historisch-politischen wie kulturellen Kontext.

Eingerahmt von Textauszügen aus seinem Werk „Dein Name“, startet das Ganze in Schwerin. Von dort aus sucht er an 54 Tagen, denen jeweils ein Kapitel gewidmet ist, so aktuelle wie historische Brennpunkte auf: Ausschwitz, Krakau, Warschau, Kaunas, Vilnius, Minsk, Tschernobyl und Krasnapolle, Kiew, über das Schwarze Meer bis nach Odessa; weiter entlang der Krimküste, Grosny, Tiflis, Aserbaidschan, Baku, Eriwan, das Kaspische Meer, Teheran bis schließlich  Isfahan, wo die Eltern des deutschen, in Siegen geborenen Autors und seit 2015 Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels noch heute leben. Doch bis dahin ist der Weg weit. Und so gelangt er zunächst über Berlin nach Breslau, von dort dann nach Ausschwitz, wo ihm eine einschneidende Lektion erteilt wird. Als er ein Schild an die Brust geheftet bekommt, das ihn als Deutscher ausweist, fühlt er sich auf Anhieb schuldig. Waren es nicht Deutsche, die den Juden einen Judenstern an die Brust geheftet hatten? Und waren es nicht Deutsche, die tausend und abertausende Juden hier her und nur ein paar Kilometer weiter nach Birkenau verfrachtet hatten? Kermani beschönigt nicht und es scheint in sich nur stimmig, wenn er am Ende einer Jugendgruppe aus Israel begegnet und mit einigen von ihnen in ein versöhnliches Gespräch kommt. Dabei wird deutlich, wie entscheidend gerade für junge Menschen solch ein Besuch ist. So erklärt eine etwa Siebzehnjährige aus Israel, dass für sie vor Ausschwitz ‚der Holocaust lediglich eine Schullektüre’ gewesen sei, die sie ‚nicht mehr als Algebra interessiert hätte’. Doch dies sei nun für sie ‚real’ geworden und sie ‚begreife’, „was es bedeutet, Jüdin zu sein, Israelin zu sein“.

Es sind tiefgreifende Erfahrungen und Begegnungen, mit denen es Kermani auf 441 Seiten gelingt, uns immer weiter und tiefer in die Fremde zu locken. Und ungeachtet dessen, dass Völkermord an Völkermord, Krieg an Krieg sich reiht, Vernichtung und versuchte Ausrottung ganzer Völkerstämme die Geschichte der

östlichen Regionen prägen, zieht er uns in den Bann. Immer wieder ist von Unterdrückung, Vertreibung, Diktatur, Zerstörung, Verarmung und Militarisierung, von Mord und Totschlag die Rede. Und es ist nur der Schreibkunst des Autors zu verdanken, seiner Neugier und Offenheit, dass wir mehr und mehr erfahren, weiter und weiter in das von ihm vor Augen geführte Gebiet vordringen wollen. Und nicht zuletzt ist es natürlich auch der Bezug zu dem anderen, ehemals tiefer im Osten gelegenen Deutschland, den er wachruft, heute polnisches Gebiet. Repräsentiert etwa in mancher der Schriften von Günter Grass oder von Siegfried Lenz, die er angesichts der Masurischen Seenplatte namentlich hervorhebt. Wer kennt die Geschichtensammlung „So zärtlich war Suleyken“ nicht.

Und es sind vor allem Schriftsteller und Kulturschaffende, die uns im Gespräch mit Kermani das Leben vor Ort in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vor Augen führen. So zum Beispiel die Nobelpreisträgerin für Literatur Swetlana Alexijewitsch aus dem weißrussischen Minsk, bekannt geworden mit ihrem in russischer Sprache verfassten Buch „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“, die die Atomkatastrophe und deren radioaktive Folgen zum Gegenstand hat. Sie ist der Meinung, dass dies nur in den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion habe entstehen können, „als sich die alte Ordnung noch nicht restauriert hatte.“ Heute scheint es zusehends schwieriger, etwas publizieren zu wollen, wenn die Inhalte den Mächtigen nicht genehm sind. Als sie 2015 den Nobelpreis erhielt, wurde sie ‚vom Präsidenten der Verleumdung ihres Landes’ bezichtigt.

Angesichts der unzähligen Missstände, denen wir nahezu ununterbrochen, Seite für Seite, begegnen, lesen sich die zahlreichen Besuche Kermanis in Kirchen, Moscheen, Synagogen und Museen wie eine Art Inseln von Hoffnung und Trost. Hoffnung stellt für ihn außerdem ein friedvolles Europa dar. Ebenso wie Europa jenen Hoffnungsträger vieler von Russland abhängiger Staaten bildet.

Davon abgesehen, fällt bei nahezu jedem geschilderten, relativ harmlosen Spaziergang in den Metropolen des Ostens die mehr oder weniger starke Bindung an Putin ins Auge. So heißt zum Beispiel die ‚Prachtmeile’ in Grosny ‚selbstverständlich’ „Putin-Prospekt“. Jener Ort, an dem zur Zeit des Tschetschenien Krieges noch ein Hochhaus stand, in dessen Keller eine alte Frau hatte flüchten wollen und nicht hineingelassen wurde. Schließlich hatte sie das Weite gesucht. Kurz darauf wurde das Haus von einer Bombe getroffen und diejenigen, die sich in besagten Keller geflüchtet hatten, waren darin allesamt zu Tode gekommen. Nur die alte Frau hat überlebt. Heute stehen dort prunkvolle, ‚von außen hell erleuchte Gebäude, in deren Fenstern jedoch kein Licht brennt’, wie Kermani feststellt. Unbewohnt scheinen auch die meisten Wolkenkratzer zu sein, wobei sich die Frage nach Grosny als einem Potemkinsche Dorf aufdrängt.

Zu weiten Teilen zeichnet das Buch ein Bild von zahlreichen Ruinen und Massengräbern, tief verwurzeltem Hass. „Entlang den Gräben“ kann schließlich als ein Versuch angesehen werden, die Gräben zwischen Völkern und Staaten, zwischen den Menschen, zu überwinden, mögen sie noch so tief sein. Am Schluss knüpfen wir noch einmal an Kermanis Faszination heiliger Stätten und Moscheen an, die, wie oben bereits erwähnt, Trost und Hoffnung zu stiften vermögen. Und so ist es kein Zufall, dass er am Ende schildert, wie er seine Freunde aus Deutschland durch die Altstadt von Isfahan in die Scheich Lotfollah-Moschee führt. Der lange Blick in die Kuppel dort zeigt ihm, dass ‚es keine bessere Welt gibt’.  Ein wichtiges Buch, ein Buch, das Brücken baut zwischen Ost und West und so zur Verständigung beitragen mag.

Hartmut Fanger

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem C.H. Beck-Verlag!

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Sachbuchtipp März 2018
BRÜCKENBAUER ZWISCHEN DEN WELTEN
Navid Kermani: „Entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan“, Verlag C.H.Beck oHG, München 2018
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Der aktuelle Sachbuchtipp Januar - Februar 2018

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Zwei Ikonen in Musik und Politik

Liedermacher im Kampf für Freiheit, Gerechtigkeit  und Humanität. Zeitgeschehen in Biographie und Autobiographie                                                                                                                                        

Jens Rosteck: „Joan Baez. Porträt einer Unbeugsamen“, Osburg Verlag, Hamburg 2017

Wolf Biermann: „Warte nicht auf bessere Zeiten!“, Ullstein Verlag, Taschenbuch, Berlin 2017

 

Für beide Liedermacher und Interpreten war 2016 ein besonderes Jahr. Wolf Biermann feierte seinen 80., Joan Baez ihren 75. Geburtstag. Anlässlich der Jubiläen erschien 2017 im Osburg Verlag die Biographie „Joan Baez. Porträt einer Unbeugsamen“ und im gleichen Jahr im Ullstein Verlag die Taschenbuchausgabe der Autobiographie von Wolf Biermann „Warte nicht auf bessere Zeiten“. Was haben die beiden Musiker, möchte man meinen, so unterschiedliche Sterne des Folk- und Politsongs, miteinander zu tun. Bei eingehender Lektüre stellt sich schnell heraus: eine ganze Menge. So erzählt Jens Rosteck in seiner Biographie, wie Joan Baez im Mai 1966 nach Ost-Berlin kam und eines Nachmittags ‚an der Wohnungstür des regimekritischen Liedermachers läutet’, ihn schließlich an Stasi-Mitarbeitern vorbei mit in ihr Konzert im Staatskabarett „Distel“ schleust, dessen Zugang ihm sonst verwehrt geblieben wäre. Vor dem ausschließlich aus SED-Treuen bestehenden Publikum trägt sie auch ein eigens ihm gewidmetes Lied vor. Dabei versteht es Rosteck, die Episode so spannend wie einen Roman zu erzählen. Wolf Biermann steht dem in nichts nach. Und es ist Volker Weidermann vom „Spiegel“ nur zuzustimmen, der dessen Autobiographie als ’einen großen, einen überwältigenden Deutschlandroman’ bezeichnet. Packend, aus der Feder des einstigen, vom Regime gegängelten DDR-Liedermachers, wie Joan Baez den Türwächtern „wie eine Athena im Zorn“ damit drohte, nicht auftreten zu wollen, wenn er nicht mithineinkäme, und ihm ‚das Herz hoch zum Hals schlug’, als sie ausdrücklich „‚Oh freedom’, dedicatet to my friend Wolf Biermann“, intonierte. Natürlich wurde das einst fürs Fernsehen der DDR aufgezeichnete Konzert nicht gesendet. Über anderthalb Jahrzehnte später begegneten sich Baez und Biermann 1983 auf dem legendären Konzert „Künstler für den Frieden“ im Hamburger St.Pauli-Stadion, wo im strömenden Regen neben Joan Baez auch Harry Belafonte auftrat. 

 

Die Joan Baez-Autobiographie von Jens Rosteck zeichnet sich schon aufgrund der so umfangreich ausformulierten und detaillierten, sich über 30 Seiten erstreckenden Zeittafel am Ende aus. Von der Geburt eines ihrer Vorbilder, Woody Guthrie, im Jahre 1912, bis hin zur Aufnahme in die Rock and Roll Hall of Fame im April 2017 und darüber hinaus zu ihrer Ankündigung einer ‚knapp zweiwöchigen Veranstaltungsserie für das Pariser Olympia’ im Jahre 2018. Geburts- und Sterbedaten ihrer Mitstreiter sowie Daten politischer Ereignisse inbegriffen.   

 

Doch ist die Biographie nicht nur insofern allein schon eine kleine Sensation, als deren Verfasser Jens Rosteck akribisch auch noch kleinsten Regungen im äußeren wie inneren Leben der ‚streitbaren Nachtigall’, so Biermann, nachgeht. Vom streng christlich geprägten Elternhaus bis hin zur begnadeten Vollblutmusikerin, von der ersten Gitarre – einer Gibson – bis hin zur ersten Langspielplatte, von ihrer Beziehung zu den Eltern und derer beruflich begründeten Umtriebigkeit bis hin zum Appell der Sangeskollegin und Freundin Judy Collins an Joan Baez’ 75. Geburtstag: Sie solle für ihr Engagement den Friedensnobelpreis erhalten. Darüber hinaus illustriert von einer Vielzahl an Fotos. Joan Baez, die es zeitlebens verstand, mit ihren zarten Balladen und sozialkritischen Hymnen auch die härtesten Rockanhänger zu überzeugen. Eindrucksvoll vermittelt Rosteck in Rückblenden Konzerterlebnisse, die für jeden, der dabei war, unvergesslich bleiben würden. So zum Beispiel, als sich Joan Baez vor 60.000 Zuhörern mit ruhigen Liedern von Simon & Garfunkel, Bob Dylan und den Beatles auf einer Rock-Show 1978 in Ulm zu aller Überraschung gegenüber Namen wie Frank Zappa und Genesis behauptet. Bezeichnend nicht zuletzt ihr politisches Engagement, sich stets für die Armen und Schwachen, gegen Gewalt und Krieg einsetzend, ebenso wie für ungerecht Behandelte und Verfolgte. Über eine weite Lebenspanne hinweg engagagiert sie sich für Amnesty International, „...für ein besseres, menschenwürdigeres und gerechteres Dasein in Freiheit“. Ebenso wie sie sich gegen das einstige Apartheit-Regime in Südafrika ausspricht, sich im Kampf gegen Aids stark macht, die Rolle der USA in Nicaragua kritisiert oder demokratische Grundrechte in China einfordert, um nur einiges aus ihrem vielfältigen Wirken aufzuführen. Mit Mercedes Sosa steht sie angesichts der damaligen Diktatur in Argentinien auf der Bühne, in Europa mit Konstantin Wecker und Bettina Wegner. Sie trifft Polit-Größen wie Lech Walesa in Polen und Francois Mitterand in Frankreich, setzt sich im Wahlkampf maßgeblich für Barack Obama ein und ist eine so engagierte wie überzeugte Gegnerin von Donald Trump.   

 

Und natürlich gibt ein entscheidendes Kapitel ihre Beziehung zu Bob Dylan ab. Der spätere Literaturnobelpreisträger verglich ihre Stimme, so Rosteck,  einst mit der einer Sirene Homers, die ‚einen in den Bann schlägt’ und dafür sorgt, dass ‚man vergisst, wer man ist’. Ja, Baez und Dylan waren einmal ein Paar. Und dies wird schon aufgrund der Vielfalt an schöpferischer Energie in dieser Beziehung und der daraus resultierenden musikalischen Qualität in Erinnerung bleiben. Schließlich zählt Joan Baez als ‚Dylan-Interpretin der ersten Stunde’, die ‚den Beweis antrat, dass man Dylan-Songs auch schön und konzentriert singen kann’. Dylans „Forever Young“ und jenes „Tears of Rage“ mit seinen „alttestamentarischen und zugleich shakespearhaften Zügen“ belegen dies überzeugend. Und es scheint bezeichnend, dass sie ausgerechnet in dem Jahr, als Martin Luther King und Robert Kennedy jeweils einem Attentat zum Opfer fielen, der Prager Frühling seine Blüten trieb und die Pariser Mai-Unruhen begannen, ein ganzes Doppelalbum mit Dylan-Liedern aufnahm.

 

Von Bob Dylan findet sich hingegen in Biermanns Autobiographie wenig. Dabei hatte Letzterer 2003 ein ganzes Buch über den von ihm selbst übersetzten Song Dylans „Eleven Outlines Epitaphs“, sprich „Elf Entwürfe für meinen Grabspruch“ geschrieben, worin er nicht nur in aller Ausführlichkeit das Lied interpretiert, sondern den Inhalt auch mit seiner einstigen Situation in der ehemaligen DDR vergleicht. Darüber hinaus vertritt er darin die Meinung, dass Dylan den Literaturnobelpreis verdient hätte. In seiner Autobiographie erwähnt er Dylan ein Mal, als er dem durch das Gedicht „Howl!“ bekannten Beat-Poeten und Freund Dylans, Allen Ginsberg, begegnet, den er als „noch ichbesessener als ich“, O-Ton Biermann, beschreibt. Hervorgegangen daraus ist schließlich die „Ballade vom preußischen Ikarus“, die, so Biermann, im Hinblick auf seine Ausbürgerung einen Tag nach seinem 40. Geburtstag im Jahre 1976 „zu einer self fulfilling prophecy missriet“. Den Stasi-Akten konnte er später entnehmen, dass ‚bereits seit Honneckers Machtantritt die Überlegung, seit 1974 der feste Plan bestand, ihn bei einer propagandistisch günstigen Gelegenheit in den Westen zu entsorgen’. In Köln wurde dann das inzwischen legendäre viereinhalbstündige Konzert selbst zu einem denkwürdigen Abend und großen Erfolg. Packend, nicht minder humorvoll, liest sich, wie Biermann sich darauf vorbereitet, sein Programm im kleinen Kreis bei Günter Grass vorstellt, dabei gegen eine Erkältung anzukämpfen hat und schließlich während der Vorstellung, seiner Meinung nach, den ‚schmalen Pfad’ einer ‚solidarischen Kritik’ an der DDR beschreitet. Von der darauf folgenden Ausbürgerung erfuhr er dann am 16. November im Autoradio ... 

 

Mit der Ausbürgerung beginnt nicht nur ein weiteres großes Kapitel in Biermanns Leben, sondern, möchte man meinen, auch der Niedergang der einstigen DDR, was Biermann vermutlich eher verneinen würde. Denn die ‚in Feuilletons gelegentlich geäußerte Annahme, dass die Ausbürgerung der Anfang vom Ende der DDR’ sei, hält er schlichtweg für falsch: „Keine  DDR konnte kippen, weil sie irgendeinen jungen Mann mit Gitarre ins Deutsch-Deutsche Exil jagt“. Nichtsdestotrotz hat dies in der Öffentlichkeit Unruhe gestiftet. Solidaritätsbekundungen, insbesondere vieler Schriftsteller- und Musikerkollegen, und erbitterte Gegnerschaft sind die Folge. Zeitgeschehen, das längst schon wieder Geschichte geworden ist. Von seinem in Ausschwitz ermordeten Vater bis hin zum Tod seines Freundes Robert Havemann, von seiner jüdischen Taufe bis hin zu der Überzeugung, Kommunist zu sein. Von seiner Lebenspartnerin Eva-Maria Hagen bis hin zur langjährigen Ehe mit Pamela Biermann. Nicht zu vergessen: seine insgesamt zehn Kinder. Von seiner Absage an den Kommunismus bis hin zum Mauerfall. 

 

Und Biermann gibt zahlreiche Beispiele, Episoden zum Besten, liefert Daten und Fakten und eine dialektische Sicht der Dinge. Mit der Ausbürgerung des einst als überzeugter Kommunist in die DDR übersiedelten und nun vom System verstoßenen Liedermachers und Dichters schien es mit seiner Karriere vorbei zu sein. So zumindest glaubte es Biermann zunächst. Doch es kam anders. Legendäre Konzerte folgten. So am 1. Dezember 1989 in der Leipziger Messehalle oder zum 25. Jahrestag des Mauerfalls (2014) im Berliner Ensemble (BE). Er war prominenter Mitstreiter bei politischen Aktionen, etwa als Teilnehmer an einer Demonstration gegen Atomkraft in Brokdorf. Ebenso wenig wie es an illustren Begegnungen, wie etwa mit Jean-Paul Sartre in Paris, mangelte, von Mikis Theodorakis wiederum wird er nach Kreta eingeladen, wo er den Wahlkampf zur Präsidentschaft von Francois Mitterand in Frankreich vorbereitet. Helmut Schmidt trifft er in der Zeit-Redaktion am Speersort in Hamburg. Und er begegnete noch unzähligen weiteren berühmtberüchtigten Kollegen und Kolleginnen in West und Ost.

Spannend dann die Einsicht in die Stasi-Akten, die Aufarbeitung der DDR-Diktatur und deren Unterdrückungsmechanismen, die ‚bittere Enttäuschungen, aber auch hinreißende Ent-Täuschungen’ mit sich brachten.

 

Wolf Biermann, ein Mann mit Ecken und Kanten, an dem sich die Gemüter bisweilen erhitzen mögen, vor allem aber ein Mann nicht nur des gesungenen, sondern auch des geschriebenen Wortes. Schon deshalb ist seine Autobiographie lesenswert. Hinzu kommen die zahlreichen vorzüglichen Gedichte und Liedertexte, wie zum Beispiel  „Und als wir ans Ufer kamen“ oder „Ermutigung“, sowie eine Vielzahl von privaten wie offiziellen Fotos.

Beide Bücher sind von Zeitgeist getränkt, beinhalten das Ringen bemerkenswerter Künstlerpersönlichkeiten nach Anerkennung, Freiheit, Gerechtigkeit und  Humanität und sind so unterhaltsam wie schon von der Historie her auch lehrreich.

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Hartmut Fanger

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Sachbuchtipp Januar 2018
ZWEI IKONEN IN MUSIK UND POLITIK
LIEDERMACHER IM KAMPF FÜR FREIHEIT, GERECHTIGKEIT UND HUMANITÄT. ZEITGESCHEHEN IN BIOGRAPHIE UND AUTOBIOGRAPHIE
Jens Rosteck: „Joan Baez. Porträt einer Unbeugsamen“, Osburg Verlag, Hamburg 2017
Wolf Biermann: „Warte nicht auf bessere Zeiten!“, Ullstein Verlag, Taschenbuch, Berlin 2017
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Der aktuelle Sachbuchtipp Dezember 2017

© Erna R. Fanger  schreibfertig.com 

Alle Wege sind offen,

und was gefunden wird, ist unbekannt.

Es ist ein Wagnis,

ein heiliges Abenteuer.

Pablo Picasso

 

Plädoyer für die Chancen in einer

sich wandelnden Welt

                                                                                                                                                                                                                                             

Ranga Yogeshwar: „Nächste Ausfahrt Zukunft. Geschichten aus einer Welt im Wandel“. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017

Was zum Leidwesen der Bürger bislang in der Politik eher am Rande behandelt, dafür umso mehr als latente Bedrohung wahrgenommen wird, die Angst macht, fächert Yogeshwar hier im Detail auf: vom Umbruch im Zuge der digitalen Revolution, einhergehend mit der Vernichtung von Arbeitsplätzen, der Vernetzung immer größerer Datenmengen, Massenüberwachung und dem Schwinden der Privatsphäre, über die Konsequenzen des Internets im Bereich Medien und Bildung, bis zu dem Feld der Gentechnik und Ernährung, Gesundheitswesen, Energiewende, Industrie. Exemplarisch hier die Autoindustrie, deren Krise sich bereits abzuzeichnen beginnt und sich im Zuge von zunehmendem Car-Sharing und Umweltbewusstsein verschärfen könnte. All dies unter den Vorzeichen der so stetigen wie stetig sich beschleunigenden Fortentwicklung und Ausdifferenzierung autonomer Maschinen und intelligenter Algorithmen, die unumgänglich ethisch-moralische, aber auch juristische Belange neu zu definieren erfordern, überdies eine erschreckende Eigendynamik entfalten, wo der Mensch Gefahr läuft, seine Autonomie einzubüßen. Zugleich sprechen wir hier von Innovationen, die sich im Zuge des Endes der Kausalität zugunsten von Korrelation wechselseitig beeinflussen, was das rasante Tempo, in dem sich die Prozesse im 21. Jahrhundert vollziehen, zusätzlich steigert und damit einhergehend die Gefahr, sie nicht mehr steuern zu können. Doch während mancher, der sich mit dem Thema dieses rasanten, in sich komplexen Wandels auseinandersetzt, uns mit ausweglos anmutenden Schreckensszenarien konfrontiert, gelingt es Yogeshwar hier, uns die Risiken, aber auch – und das ist das Verdienst seines Buches – vor allem die Chancen, die er in sich birgt, nahezubringen. Und zwar unaufgeregt, besonnen, mit leichter Feder und im Plauderton, versteht er es doch, seine so breit gefächerten wie fundierten Kenntnisse so in „Geschichten“ zu packen, dass die darin transportierten komplexen wissenschaftlichen Erkenntnisse und Zusammenhänge auch für den interessierten Laien leicht zugänglich, ja durchaus von Unterhaltungswert, da spannend geschrieben, sind.

Yogeshwar, als Naturwissenschaftler und Physiker begnadetes Ausnahmetalent, stellt dabei Wissenschaft grundlegend zugleich auch infrage, erachtet er doch das Geheimnis des Lebens als größer als rationale Erkenntnis. Viele der hier geschilderten Szenarien hat er hautnah miterlebt. So war er etwa mehrmals zu Forschungszwecken und Dreharbeiten in Tschernobyl, ebenso wie er Fukushima besucht hat, dort Zeuge der dramatischen Versuche wurde, die allumfassenden Schäden einzudämmen, Normalität und Alltag wieder in Gang zu bringen. Beide Brennpunkte im wahrsten Sinne des Wortes haben ihm einmal mehr Atomkraft als Irrweg bestätigt. Ebenso wie sich in seinen Augen die Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche als Irrweg ausnimmt. So etwa im Gesundheitsbereich oder in der Kultur. Was dort geleistet wird, lässt sich nicht in kommerziellem Nutzen bemessen. Vielmehr bedürfen diese Bereiche der besonderen Unterstützung aller Mitglieder der Gesellschaft.

Yogeshwar verweist auf die ungleiche globale Verteilung des Reichtums ebenso wie auf die Wurzeln besagten Übels, die unschwer in der Rolle Europas und der USA auszumachen sind, die im Zuge des Kolonialismus Jahrhunderte lang indigene Völker „massakrierten“, versklavten und sich deren Rohstoffe bemächtigten, Letzteres bis heute, etwa im Kongo. An dieser Stelle darf auch die weltweite Produktion von Gütern in Billiglohnländern nicht unerwähnt bleiben. Und all dies im Gestus der Überlegenheit der weißen Rasse, was gleichwohl bis heute fortwirkt und nicht zuletzt in der Flüchtlingspolitik seinen Niederschlag findet. So entlarvt er etwa, ist wie so oft von „Nordafrikanern“ die Rede, die Anonymisierung im Zuge solcher Reduktion auf die ethnische Zugehörigkeit als „Merkmal kolonialen Denkens“. Doch auch wenn Yogeshwar immer wieder den Finger in die Wunde legt, soll dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Weltlage verifizierter statistischer Daten zufolge nicht, wie es den Anschein hat, immer katastrophaler würde, sondern das Leben insgesamt für alle Menschen auf dem Globus in den letzten circa 30 Jahren zunehmend besser geworden ist, überzeugend dokumentiert auf der Internetseite „Our World in Data“. Allein die Veränderung der Rolle der Frau etwa, Stärkung ihrer Rechte und weltweit zunehmende Sensibilisierung für Gewalt gegen Frauen belegen dies. Aber auch die soziale und rechtliche Anerkennung von Transsexualität, der Schwulen und Lesben, jüngst gipfelnd im Ja zur Homoehe im Bundestag.

Die auf uns zukommenden Veränderungen mögen gravierend sein, und sie betreffen alle, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Die Ausführungen Yogeshwars hierzu sind zugleich als Kompass lesbar, zeigt er doch die sich andeutenden Richtungen facettenreich auf. Unmissverständlich weisen sie auf bislang unbekanntes Terrain. Es liegt an uns, eben dies zu erkunden und mutig neue Wege zu erschließen, dabei die Chancen für ein gerechteres, menschlicheres Miteinander für alle aufzuspüren und zu nutzen.

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verlag Kiepenheuer und Witsch!

Sachbuchtipp Dezember 2017
"Plädoyer für die Chancen in einer sich wandelnden Welt"
Ranga Yogeshwar: „Nächste Ausfahrt Zukunft. Geschichten aus einer Welt im Wandel“. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017
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Der aktuelle Sachbuchtipp November 2017

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Die Heimatlosigkeit eines Konservativen                                                                                                                                                                                 

Ulrich Greiner: „Heimatlos. Bekenntnisse eines Konservativen“. Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 2017    

Das Wort „Heimat“ – inzwischen in aller Munde – wird von Politikern aller Couleur diskutiert. Von ganz links bis rechts außen. So reiht sich auch das neue Buch des ehemaligen Chefs des Zeit-Feuilletons nahtlos in das Thema. Dabei beklagt er vor allem den Verlust einer politischen Heimat, die er als einstiger SPD- und Grünen-Wähler angesichts der Entwicklungen in den letzten Jahren nicht mehr sieht. Als Konservativer vertritt er die Meinung, dass die große Koalition von CDU und SPD unter Angela Merkel zu linksmittig, die FDP zu angepasst, die AFD zu rechts und vor allem ‚zu völkisch und braun’ sei. Unter Vorbehalt könne ein Konservativer allenfalls, wenn überhaupt, die Grünen ‚als Menschheitsretter und Weltverbesserer’ in Betracht ziehen. Die CSU wiederum, allzu rechts, könne er nicht  wählen. Ähnlich geht es dem Autor mit den Leitmedien, von den tonangebenden Zeitungen bis hin zu öffentlich-rechtlichen Anstalten, denen er „Anpassungsmoralismus“ vorwirft. 

Dabei greift er inhaltlich all das auf, was die Gemüter spätestens seit der Flüchtlingskrise und Pegida erregt, und holt zu einem Rundumschlag aus.  Von der berühmten Äußerung der Kanzlerin, „Wir schaffen das“, die zu einer unkontrollierten Einwanderung von Flüchtlingen geführt habe, bis hin zu dem Unwort „Lügenpresse“, dem er als Zeitungsmann sogar nicht einmal ganz abgeneigt zu sein scheint. Und er reflektiert die Bewertung der politischen Begriffe von links und rechts, wobei aus seiner Sicht die rechte Position eher benachteiligt sei. Dabei tut sich für ihn die Frage auf, was in der neueren Geschichte schlimmer gewesen sein mag, die Verbrechen des Nationalsozialismus oder die des Stalinismus. Darüber hinaus sieht er in dem zunehmenden Sprachgebrauch des Englischen seitens der Eliten die Gefahr, dass dadurch ‚die Kluft zum Staatsvolk unüberbrückbar wird’. Doch nicht nur das. Er beschäftigt sich auch mit der Homo-Ehe, die er ablehnt, diskutiert Befürwortung und Ablehnung der Sterbehilfe wie er ferner seine Ablehnung von Praktiken biotechnischer Reproduktion deutlich macht. Darüber hinaus kommen Glaubensfragen zur Sprache. So, wenn er zum Beispiel davon ‚überzeugt’ ist, dass „... die Differenz zwischen Orient und Okzident  noch immer, und leider immer stärker, ihre Wirkung entfaltet“. Die Äußerungen zur Islamkritik und über „Das Wunder des Christentums“ lesen sich hier besonders spannend. Denn Ulrich Greiner ist nicht nur bekennender Konservativer, sondern auch bekennender Christ. Zweifellos ein streitbares Buch, in dem sich zum einen Befürworter bestätigt sehen, zum anderen klare Gegner herausbilden werden.

Unverkennbar ist sein geisteswissenschaftlicher Ansatz. Der relativ schmale Band sprudelt nur so von Zitaten literarischer und philosophischer Größen, wie zum Beispiel Goethe und Schiller, Gottfried Benn, George Orwell, Heinrich Böll, Immanuel Kant, Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Niklas Luhmann, um nur einige zu nennen. Dabei versäumt der Autor nicht, darauf hinzuweisen, in welch ehrbarer Reihe er sich mit manch anderen namhaften, als konservativ geltenden Intellektuellen weiß, wie  beispielsweise Rüdiger Safranski, Sibylle Lewitscharoff, Martin Mosebach oder Peter Sloterdijk.

Mögen die Ansichten des Lesers noch so entgegengesetzt sein, bestechen an dieser Auseinandersetzung mit der aktuellen gesellschaftspolitischen Wetterlage der so unaufgeregte wie aufrichtige Tenor ebenso wie das immense Wissen eines Homme de lettres, aus dem sie sich speist. Überdies lesenswert ist das Buch aufgrund des wunderbar leichtfüßigen, dabei nicht minder kunstvollen Sprachstils eines Mannes, der sich zeitlebens nahezu ausschließlich im Rahmen von Journalismus und Feuilleton schriftstellerisch bewegt und so wunderbare Bücher wie den „Leseverführer“ geschrieben hat.

Umso mehr mag man bedauern, dass hier bewahrt werden soll, was sich allenfalls augenscheinlich bewährt hat. Indessen der Benjaminsche „Engel der Geschichte“ unvermindert Trümmer, Grauen und Leid sich anhäufen sieht und wir doch wissen, dass längst nicht mehr politische Entscheidungen den Lauf der Welt bestimmen, sondern Machtinteressen multinationaler Konzerne, die in transnationalen Abkommen mit dem alleinigen Ziel der Gewinnmaximierung durchgesetzt werden. Über die Köpfe von Politikern und Staaten hinweg. Nicht zu beklagen, vielmehr von der Menschheitsfamilie erst noch einzulösen wäre, den Planeten zu einem Ort zu machen, der ihr in ihrer Gesamtheit Heimat böte. 

 © Hartmut Fanger

 Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag!

Sachbuchtipp November 2017
Ulrich Greiner: „Heimatlos. Bekenntnisse eines Konservativen“. Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 2017.
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Der aktuelle Sachbuchtipp September-Oktober 2017

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Zwischen Autonomie und Ambivalenz: Ringen um die Freiheit

                                                                                                                                                                                                                                             

 

Beate Rössler: „Autonomie. Ein Versuch über das gelungene Leben“, Suhrkamp Verlag Berlin 2017.

 

 

Als ob Wählen, als ob Entscheiden, als ob Nein-Sagen einfach Fähigkeiten wären, die man lernen könnte wie Schnürsenkelbinden oder Fahrradfahren. Die Dinge stießen einem zu. Wenn man Glück hatte, bekam man eine Schulbildung. Wenn man Glück hatte, wurde man nicht von dem Typen

missbraucht, der das Fußballteam leitete. Wenn man sehr viel Glück hatte, gelangte man

irgendwann an einen Punkt, an dem man sagen konnte: Ich werde Buchhaltung

studieren ... Ich würde gerne auf dem Land wohnen ... Ich möchte den

Rest meines Lebens mit dir verbringen. Aus Mark Haddon: „The Gun

 

Zwischen Autonomie und Ambivalenz: Ringen um die Freiheit

                                                                                                                                                                                                                                             

Beate Rössler: „Autonomie. Ein Versuch über das gelungene Leben“, Suhrkamp Verlag Berlin 2017.

Seit Kant Grundthema der Philosophie und in westlichen Gesellschaften normativ, scheint der Begriff der Autonomie längst seinen festen Stellenwert behauptet zu haben und eine grundlegende Größe darzustellen. Bei näherer Betrachtung erweist sich allerdings, so klar umrissen, wie es scheint, manifestiert er sich in der Lebenspraxis des Einzelnen nicht. Sprich es gibt eine Menge Aspekte, die der Autonomie im Alltag entgegenstehen. So sind nicht selten überhöhte Ansprüche mit dem Begriff verbunden, die keiner in Gänze erfüllen kann. Sind wir doch als Gemeinschaftswesen miteinander verbunden, woraus sich zwangsläufig wechselseitige Abhängigkeiten konstituieren.

Die Spannung zwischen dem Selbstverständnis eines autonom ausgerichteten, selbstgestalteten Lebens und den Hindernissen, die dabei zutage treten können, lotet Beate Rössler, Professorin für Philosophie an der Universität Amsterdam, in neun Kapiteln von jeweils vier bis sechs Unterkapiteln auf 400 Seiten so kenntnis- wie facettenreich und differenziert aus. Im Zuge dessen gelingt ihr das Kunststück, die Stringenz ihres fundiert wissenschaftlichen Diskurses durch zahlreiche literarische Beispiele, in denen die Figuren mit mehr oder weniger Erfolg um Autonomie ringen, so nahezubringe, dass auch dem interessierten Laien ein lebendiger Zugang zu der Auseinandersetzung mit dem Thema und entsprechend Einblick gewährt wird. Auch wenn – es sei an dieser Stelle nicht unterschlagen – die philosophischen Debatten über Autonomie, an denen sich Rössler hier abarbeitet, nicht unbedingt für jedermann zugängig sind, sondern immer wieder geduldiger Nacharbeit bedürfen, ist man nicht bereit, bisweilen darüber hinwegzulesen.  

Dessen ungeachtet gewinnen wir Einsicht von der Definition des Begriffs bis zum Zusammenhang zwischen Autonomie und der Frage nach dem Sinn des Lebens. Von der Überlegung, wie sich Autonomie zwischen Selbsterkenntnis und Selbsttäuschung etablieren kann, oder wie sie etwa in der Selbstthematisierung vom Tagebuch bis zum Blog in Erscheinung tritt. Zugleich, inwieweit Autonomie im Hinblick auf die von der Furie des Verschwindens bedrohte Privatsphäre im virtuellen Raum nicht Gefahr läuft, sich selbst zu verleugnen. Ebenso geht Rössler der Frage nach, ob die Autonomie als Wahl zwingend das gute Leben nach sich ziehe, stellt dabei aber auch zugleich die Bedingungen einer solchen autonomen Wahl infrage. Und wie verhält es sich mit der  Autonomie im privaten, häuslichen Bereich, in Beziehungen. Wie in der demokratischen Gesellschaft. Aber auch die sozialen Bedingungen von Autonomie werden durchbuchstabiert, wie z. B. Grenzfälle zwischen Autonomie und Unterdrückung. So etwa im religiösen Kontext einer Muslima, die sich frei dafür entscheidet, ihren Glauben zu leben, auch wenn sie dafür – aus Perspektive der Vertreter westlich-demokratisch geprägter Gesellschaften – Autonomie einbüßt und sich dem Dogma der Vollverschleierung  ebenso beugt wie dem des Gehorsams gegenüber ihrem Mann. Allein schon anhand dieses Beispiels wird deutlich, inwieweit der Begriff der Autonomie nicht zuletzt im Hinblick auf kulturelle, soziale und politische Voraussetzungen relativiert und differenziert werden muss.

Das Verdienst von Rösslers Autonomie-Konzeption ist ihre Distanz zu radikalen Konzepten, die allenfalls Theorien, nicht aber dem Alltag standhalten. Demnach läuft sie auch nicht Gefahr, die Bedingungen für Autonomie festzuschreiben. Vielmehr entwirft sie Autonomie als Prozess, in dem eigenständige Entscheidungen sowohl möglich sind, als man dabei zugleich jedoch auch Abstriche machen muss, um die eigene Position zu ringen hat. Im Gegensatz zu radikalen Entweder-oder-Positionen, in denen den Bedingungen von Autonomie weniger Rechnung getragen wird. Rössler gelangt schließlich zu dem Fazit, ‚alle grundsätzlichen Angriffe auf die Möglichkeit und Wirklichkeit von Autonomie zwar aus dem Weg geräumt zu haben’, ohne jedoch vor den mit dem Thema verbundenen Spannungen und Widerständen zurückgewichen zu sein. Des Weiteren räumt sie ein, dass unser normatives Verständnis des Begriffs nie unter durchgängig idealen Bedingungen realisiert werden, sprich immer nur annähernd erfüllt werden kann, dementsprechend nicht ohne Relativierung auskommt. Personen können immer nur bedingt, mehr oder weniger autonom handeln, stets abhängig vom sozialen, politischen oder biografischen Kontext. Damit grenzt sie sich bewusst ab von radikaleren Positionen, wie etwa von Harry Frankfurt vertreten. Sieht sie Autonomie doch immer schon situiert im gesellschaftlichen Kontext, worin die Verletzlichkeit der Akteure bedingt ist. Weshalb sie auch in Zweifel stellt, inwieweit einer Person Autonomie abzusprechen sei. Desgleichen postuliert sie einen Zusammenhang zwischen einem autonomen und einem sinnvollen Leben. Von einem sinnvollen Leben kann man nach Rösslers Definition nur dann sprechen, wenn wir es als unser eigenes Leben betrachten, das wir nach Maßgabe unseres Erkenntnis- und Bewusstseinsstands gewählt haben. Ein Leben, für das wir einzustehen bereit sind. Im Zweifelsfall entgegen allen Widrigkeiten, die unseren Alltag prägen, wie Ambivalenz, Entfremdung, Zerrissenheit. Rössler exemplifiziert dies anhand Siri Huvstedts Protagonistin Harriet Burden in „Die gleißende Welt“ (2015), wo die Unvereinbarkeit von Wünschen und Möglichkeiten durchgespielt wird. Dies erfordert laut Rössler einen gelassenen Umgang mit den Ambivalenzen, die unser Leben prägen, was uns nicht selten abverlangt, verschiedene Identitäten einzunehmen und zu leben. Mehr noch bedinge dies Autonomie geradezu grundlegend. Widersprüche dieser Art schmälern nicht grundsätzlich Autonomie, sondern konstituieren sie vielmehr insofern, als Autonomie durchaus keine Garantie darstellt, diese ohne jede Einschränkung leben zu können, sondern immer nur gemeinsam mit anderen.

Aber: Lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

© Erna R. Fanger

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Suhrkamp Verlag!

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Sachbuchtipp September-Oktober 2017
"Zwischen Autonomie und Ambivalenz: Ringen um die Freiheit".
Beate Rössler: „Autonomie. Ein Versuch über das gelungene Leben“, Suhrkamp Verlag Berlin 2017.
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Der aktuelle Sachbuchtipp Juli/August 2017

© Erna R. Fanger

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Glücksschmiede unter die Lupe genommen

                                                                                                                                                                                                                                             

Nicolas Dierks: „Luft nach oben. Philosophische Strategien für ein besseres Leben“, Reihe rowohlt POLARIS, Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 2017.

Leicht kommt es uns in den Sinn, noch schneller über die Lippen, das derzeit Nonplusultra der Lebenskunst – das Hier und Jetzt. Axiome dieser Art weiß Nicolas Dierks, promovierter, an der Leuphana Universität in Lüneburg lehrender Philosoph, gekonnt zu hinterfragen. So konterkariert er besagtes Diktum z.B. sinnfällig zur trostlos anmutenden Perspektive eines Demenzkranken, für den dies die einzige Option ist, womit Dierks besagte Strategie schnell wieder entzaubert. Der Leser hält inne und ihm dünkt einmal mehr: Es kommt immer drauf an; die Fragen, die uns das Leben aufbürdet, sind vielschichtig und erfordern entsprechend differenzierte Antworten. Bei diesem Prozess des Sondierens hilft Dierks uns auf die Sprünge. „Das Leben im Hier und Jetzt ist nicht einfach und ursprünglich, sondern komplex und fortgeschritten“, erfordert es doch einen stets neu zu ermessenden Umgang mit dem eigenen Zeithorizont. Um diesen adäquat auszuschöpfen, kommen wir nicht umhin, zwischen Hier und Jetzt, Vergangenheit und Zukunft zu pendeln. Was die mit dem Hier und Jetzt verbundenen Vorteile nicht schmälern soll: nämlich was uns beschwert, jederzeit hinter uns zu lassen „und in den Strom des Lebens zurückzukehren, dort, wo alles fließt“ und wir wieder zur Ruhe kommen.

Letzten Endes geht es darum herauszufinden, wer wir sind. Dazu gibt uns Dierks, basierend auf Wittgensteins „Philosophischen Untersuchungen“, ein solides Instrumentarium zur Hand: „»Wissen« meint, die Fähigkeit, sich nach Tatsachen zu richten“ – so Dierks „Arbeitsdefinition“. Wobei er einräumt, dass es unmöglich sei, im Übrigen auch  nicht nötig, ‚jemals alle Tatsachen, die auf uns zutreffen, zu kennen’. Spannend wird es, wenn der Autor in dem Abschnitt „Wie Willenskraft unsere Selbsterkenntnis sabotiert“ die Tücken des menschlichen Willens entlarvt. Deutlich gemacht anhand der Thesen im Buch des Wiener Psychiaters, zugleich Begründers der Logo-Therapie, Viktor Frankl,  „... und trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ (1946). Frankl propagiert darin eine »proaktive« Haltung gegenüber dem Leben, worunter zu verstehen sei, weniger (reaktiv) die Ursachen für das eigene Schicksal zu erforschen, als vielmehr (proaktiv) die Verantwortung für die eigene Zukunft zu übernehmen. So tiefgreifend wie überzeugend und hilfreich der Ansatz, ist er jedoch leicht zu verfehlen, tragen wir nicht auch der Tatsache Rechnung, dass ‚unser Handeln in der Welt nicht allein aus willentlicher Aktivität besteht’.

So facettenreich wie erhellend wird im Folgenden infrage gestellt, was wir  über das Leben zu wissen glauben, stets untermauert durch die Erkenntnisse der großen Philosophen, etwa eines Aristoteles’, Marc Aurels, Descartes’, Kants oder Hegels:

-       ‚Wissen wir, was wir tun, wenn wir tun, was wir wollen, oder müssen wir       dahin kommen, zu wollen, was man tun muss?’

-       ‚Was im Leben ist uns wichtig, was leitet sich daraus für unseren Alltag ab? Nehmen wir, was wir als unhinterfragbar wichtig erkannt haben, wichtig genug und setzen uns mit allem, was in unserer Macht steht, dafür ein? Tun wir dafür das Richtige, und woran erkennen wir, dass es das Richtige ist?’

     Wobei Fragen dieser Art weniger gestellt werden, um klar beantwortet zu werden. Vielmehr ist ihre Funktion, uns Impulse zu geben, darüber tiefer nachzudenken und zu Einsichten zu gelangen, die weiter greifen. So etwa auch zu hinterfragen,

-       ob Freiheit die Fähigkeit zur Autonomie ist, unser Leben nach unseren  eigenen Vorstellungen zu gestalten. Und inwieweit es dabei unsere Gewohnheiten sind, die uns hier nicht selten einen Strich durch die Rechnung machen, ‚indem was wir tun müssen und dann tatsächlich tun, auseinanderklafft, wir dann nicht im Einklang mit uns selbst sind’.

-     -  Und wie steht es mit unserer inneren Freiheit angesichts eines unausweichlichen Schicksals? Wo ist demgegenüber Akzeptanz gefordert, an welchem Punkt müssen wir alles daran setzen und mit der Kraft unseres Willens zur Veränderung einer unliebsamen Situation ansetzen? Und was, wenn wir zu innerer Freiheit, innerem Frieden, zur Weisheit in uns vorgedrungen, feststellen müssen, dass wir verletzlich sind und bleiben, um den Schmerz, den die menschliche Existenz bereit hält, nicht herumkommen?

-     -  Oder geht mit hohem Lebensstandard zwingend entsprechende Lebensqualität einher, fallen Reichtum und Glück zwingend zusammen?

Dierks offeriert und erläutert schließlich vier Fähigkeiten, die ein gelingendes Leben, also Lebensqualität, ausmachen, und betont einmal mehr: „Unser Leben hängt ab von den Fragen, die wir stellen.“ Damit wir die richtigen Fragen zu stellen vermögen, gibt er uns einen Fragenkatalog an die Hand. Ebenso Übungen, zu produktiven Fragen zu gelangen. Wir bekommen vier Strategien von ihm geliefert, neue Gewohnheiten zu verankern, obendrein, zu guter Letzt – ein Rückfall-Management. Alles im Griff?

© Erna R. Fanger

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag!

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