Buchtipp des Monats November 2021

 

© Erna R. Fanger 

Von der Wahrheit, die ist

 

 Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns                                                                  Franz Kafka

Hanne Ørstavik: ti amo, Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 2021; aus dem Skandinavischen ins Deutsche übertragen von Andreas Donat.

Von der Wahrheit, die ist, und der Liebe, die ist, handelt dieses Buch. Vom Leben, das Schreibende mit jeder Zeile zu erkunden aufgerufen sind. Denn Schreiben heißt, sich in einer gegenläufigen Bewegung all der Vielschichtigkeit und Ambivalenzen anzunehmen, die die Wahrheit eines jeden ausmachen und unter den Anforderungen des Alltags bis zur Unkenntlichkeit entstellt sind.

 

Erzählt wird die autofiktionale Geschichte der Ich-Erzählerin von der Liebe ihres Lebens, deretwegen sie ihre skandinavische Heimat verlassen hat und zu ihrem Mann, einem Mailänder Verleger, gezogen ist. Die beiden sind unzertrennlich und glücklich in Zweisamkeit. Doch kaum ein paar Jahre verheiratet, erkrankt er unheilbar. Fortan wird die Ich-Erzählerin nicht nur Zeugin des allmählichen Entschwindens des über alles Geliebten, sondern auch gewahr, dass sie unterschiedliche Wahrheiten leben. Denn während sie als Schriftstellerin immer dem Grundsatz der eigenen Wahrhaftigkeit treu zu bleiben sich auferlegt hat, stellt ihr sterbender Mann sie vor die Tatsache, dass er sich weigert, die Möglichkeit des eignen Todes in Augenschein zu nehmen, und beteuert, stets bei ihr zu sein, was immer geschehe. Und was sich nach außen hin einzig als Katastrophe ausnimmt, erweist sich schließlich aus der Innenschau als Transformationsprozess, in dem sich die Ich-Erzählerin, mal verzweifelt, dann wieder mit zärtlicher Beharrlichkeit der Begleitung ihres Mannes mit all der ihr zu Gebote stehenden Lebenskraft widmet. Akribisch erkundet sie dabei die gemeinsame Wegstrecke nach entsprechenden Indizien – alles hänge mit allem zusammen. Dabei stößt sie auf den im Zuge der Verlagsübernahme auf der Strecke gebliebenen Wunsch ihres Mannes, Maler zu werden, den wieder aufzunehmen ihm nicht mehr gelingen sollte. Aber auch eine gewisse Zurückhaltung beim Sex fügt sich mit einem Mal ins Bild, wie sich überhaupt im Zuge der Krankheit das gegenseitige Begehren auf Fürsorge und eine unabdingbare, teils verzweifelte Zärtlichkeit fokussiert. Und während vermeintliche Gewissheiten, die dem Leben seinen scheinbaren Halt geben, zusehends zu zerbröseln drohen, gleitet das Paar zwischen Hoffen und Bangen, Zusammenbrüchen, Arztbesuchen und regem kulturellem Leben in stetiger gegenseitiger Beteuerung ihrer Liebe – ti amo – auf den bevorstehenden Tod des einen zu. Im gesamten Diskurs der Liebenden fällt kein Name, sondern ist stets von einem Ich und einem Du die Rede, bis A. ins Spiel kommt. Mit A. wiederum bricht mitten hinein in das ergreifende Finale eine andere Liebe, einer Liebe, die nicht sein darf und dafür umso heftiger entbrennt. Auf einer viertägigen Lesereise in Mexiko von dem sie begleitenden Host in Empfang genommen, wird die Protagonistin schlagartig dessen so mitreißender wie zwingender Vitalität und Lebenskraft gewahr. Die wenigen Stunden zwischen zahlreichen Terminen, die den beiden bleiben, haben etwas unwirklich Entrücktes, der Zeitlichkeit Enthobenes, Magisches, flüchtig zugleich und von leuchtender Intensität. Den Brief, den ihr A. zum Abschied übergibt, kündigt sie gleich an, nicht zu beantworten. Sie wird zurückkehren zu ihrem Mann, wird bei ihm bleiben, ihm beistehen. Und auch wenn der Abstand zu ihm bei ihrer Rückkehr durch diese Begegnung ein anderer ist, ändert dies doch nichts daran, dass sie ihm unverbrüchlich zugewandt bleibt, den Weg bis zum Ende mit ihm geht. Wie auch dieser sein Versprechen hält, präsent ist, über seinen Tod hinaus. Neben Thanatos bricht sich desgleichen Eros unerbittlich Bahn, ohne dass es jedoch zwischen A. und der Ich-Erzählerin zu einer intimen Begegnung käme.

 

Sprachlich so präzise wie in zärtlichem Tenor, dabei stets die Diskretion wahrend, prallen hier unerhörte Wahrheiten aufeinander, überlagern sich und verschmelzen schließlich zu einer heterogenen Einheit, ohne dass dabei die Würde eines der dabei Beteiligten angetastet würde. Es ist das ergreifende Bekenntnis der Ich-Erzählerin, sich radikal zur Wahrhaftigkeit zu verpflichten, ohne was ihr hier zustößt zu bewerten. Dabei wird nichts von der emotionalen Wucht, die diese Lektüre birgt, benannt, als sie vielmehr die dafür durchlässige Leser:in trifft. Und wenn das eingangs zitierte Kafka-Wort auf ein Buch zutrifft, dann auf Hanne Ørstaviks ti amo.

 

Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

 Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 2021                                           Archiv

 

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