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Buchtipp des Monats Februar 2019
© Erna R. Fanger
„Vom Überleben mit List und Büchern“
Mary Ann Shaffer, Annie Barrows: „Deine Juliet“, ins Deutsche übertragen von Margarete Längsfeld und Matina Tichy.btb, Verlagsgruppe Randomhouse, München 2015.
Selten, dass Grauen, wie der Zweite Weltkrieg es über Europa gebracht hat, und Lachen so nah beieinander liegen wie in dieser Hymne auf die Macht der Literatur, der Gemeinschaft stiftenden Funktion des Lesens.
Bei „Deine Juliet“, handelt es sich um den einzigen Roman – genau genommen Brief-Roman – der Buchhändlerin und Bibliothekarin Mary Ann Shaffer, dessen Erfolg sie nicht mehr erlebt und den sie nur mit Hilfe ihrer Nichte, der Kinderbuchautorin Annie Barrwos, zu Ende gebracht hat. Das Ganze spielt 1946. Und alles beginnt damit, dass Juliet, ihres Zeichens Journalistin und während des Zweiten Weltkriegs in London erfolgreiche Kolumnistin, einen Brief von einem gewissen Dawsey Adams erhält, einem Bauern von der Kanalinsel Guernsey, der antiquarisch ein Buch erworben hat, das einst ihr gehörte. Daraus entspinnt sich ein reger Briefwechsel, im Zuge dessen Juliet erfährt, dass es sich bei Dawsey Adams um den Kopf einer literarischen Gesellschaft handelt, die sich im Zweiten Weltkriegs auf der Insel unter deutscher Besatzung gegründet hat und sich unter dem verheißungsvollen Namen „Guernseyer Freunde von Dichtung und Kartoffelschalenauflauf“ einmal wöchentlich zusammenfindet. Um die Gründung der Gesellschaft, deren Mitglieder zuvor teils nie ein Buch in der Hand hielten, ranken sich wiederum unglaubliche, skurrile, witzige, so tief traurige, tragische wie hoch dramatische, ja grausame Geschichten und Schicksale, nicht zuletzt Liebesgeschichten. Juliet, geradezu entzückt davon, beschließt über die Gesellschaft unter deutscher Besatzung ein Buch zu schreiben und erhält im Zuge dieser Mission von deren Mitgliedern Briefe. Sei es über ihre Lektürevorlieben, sei es über ihr Leben. Zwischen Juliet und den Guernseyer Inselbewohnern entpinnt sich so nach und nach ein tragfähiges Netz an Beziehungen. Nicht zuletzt hat Dawsey Adams es ihr angetan, so dass sie beschließt, sich endlich selbst nach Guernsey aufzumachen, um diese Gesellschaft, deren Mitglieder ihr indessen ans Herz gewachsen sind, zu besuchen.
Der Kern der Message dieses immensen Lesevergnügens ist: Literatur, Liebe zu Lektüren, vermag Leben zu retten, nicht nur im übertragenen Sinn. Zugleich mag ihr die Funktion zukommen, Traumata zu heilen. Und die gibt es seit den finsteren Zeiten des Zweiten Weltkriegs mehr als genug. Die Wunden sitzen tief, das Grauen, wird die Erinnerung daran heraufbeschworen, ist omnipräsent und droht die Betreffenden zu verschlingen. Wäre da nicht die heilende Kraft des Lesens. So etwa bei John Booker. Als Halbjude eine Zeit lang in Neuengamme und Bergen-Belsen interniert, kann er über diese Zeit nicht mehr sprechen, ohne zu zittern. Er liest nur einen Autor: Seneca. Klammert sich an dessen Lebensphilosopie. Spielt außerdem Theater und ist überzeugt, dass er ohne Sencea und die Guernseyer Gesellschaft für Dichtung und Kartoffelschalenauflauf der Trunksucht anheim gefallen wäre. Wie es überhaupt an tragischen Geschichten nicht mangelt. Etwa die aussichtslose Liebe zwischen der unerschrockenen Elizabeth, die eigentliche, obschon unfreiwillige Gründerin der Lesegesellschaft und zentrale Figur, und einem deutschen Arzt, der am Ende sein Leben einbüßt. Die Internierung Elizabeths in einem Konzentrationslager, aus dem sie wider Erwarten nicht zurückkehrt, indessen ihre kleine Tochter in der Obhut der gesamten Guernseyer Dorfgemeinschaft aufwächst. Mehr sei nicht verraten.
Aber: Lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
© Erna R. Fanger:
„Man entgeht der Herrlichkeit des Lebens nicht“
Katherine Mansfield: „Fliegen, Tanzen, Wirbeln, Beben. Vignetten eines Frauenlebens 1903-1922“.Aus dem Englischen übersetzt von Irma Wehrli, mit einem Nachwort von Dörte Hansen und einem Essay von Virginia Woolf, herausgegeben von Horst Lauinger, Manesse Verlag, Berlin 2018.
Auf dem Gymnasium gehörte die neuseeländisch-britische Schriftstellerin Katherine Mansfield (1888-1923), deren Leben gerade mal 34 Jahre währte, zur Pflichtlektüre. Allerdings verstand sie es, Letzteres aufgrund der Strahlkraft ihrer an die 70 Kurzgeschichten, vergessen zu machen. Taucht ihr Name neben anderen, gleichwohl dem schulischen Kanon zugehörigen und schnell wieder verblassten Autoren auf, sprühen da Funken, und man hat Lust, sie wieder zu lesen. Da war doch was! Etwas, was sich deutlich von anderen Pflichtlektüren unterschied.
Allen, denen es so oder ähnlich geht, ist mit diesem ästhetisch anspruchsvoll ausgestatteten Band in typischer Manier der Manesse Bibliothek mit Fadenheftung und Lesebändchen mehr als gedient. Der hier gewährte Blick in ihre Tagebücher – für Mansfield unabdingbarer Dialog mit sich selbst – hinter die Kulissen ihrer Kurzgeschichten nimmt uns mit auf Höhenflüge und Abstürze der schreibend mit sich Ringenden. Doch ‚Abstürze’ konnte sich Katherine Mansfield im Zuge ihres leidenschaftlichen Strebens, in dem was ihr eigen ist, die Meisterschaft zu erreichen, nämlich Kurzgeschichten zu schreiben, im Grunde nicht leisten. Dazu währte ihr Leben zu kurz. Und in einem verborgenen Winkel ihrer Seele mochte sie es gewusst haben: Sie musste haushalten. Und so blieb ihr keine Wahl, als sich aus jeder Niederlage wie „Phoenix aus der Asche“ zu erheben. Und der Niederlagen gab es, allein schon in ihrem Privatleben, genug. Sei es in der spannungsreichen Beziehung zu ihrem Mann John Middleton Murry, Literaturkritiker und Essayist, sei es in der zwiespältigen Liaison mit der ihr bis zur Unterwürfigkeit ergebenen Freundin Ida Baker, alias L.M., Leslie Moore, seit Zeiten des Londoner Queen’s Colleges, wo sie sich 1903 kennengelernt hatten, auf deren Hilfe sie jedoch bei nachlassender Gesundheit zunehmend angewiesen war.
Im Umfeld der Bloomsbury-Clique sich bewegend – benannt nach dem Londoner Stadtteil –, verkehrte sie mit Schriftstellern wie Virginia Woolf, Rupert Brooks, den Malern Roger Fry und Dora Carrington, aber auch Wissenschaftlern wie John Maynard Keynes und dem Ehemann Virginia Woolfs, Leonard Woolf, Verleger, und vielen mehr. Zugleich bot jene Gesellschaft einen nicht unerheblichen Fundus an eben dem Stoff, aus dem Geschichten sind, woraus Katherine Mansfield reichlich zu schöpfen wusste.
Mansfields Tagebuchnotizen lassen auf der einen Seite einen hochsensiblen, wachen Geist erkennen, dem nichts entgeht, was an unterschiedlichsten Stimmungen auf ihn einströmt. Zugleich zeugen ihre Statements von einer immensen inneren Freiheit und Souveränität. Auf der anderen Seite ist ein ungeheurer Druck, ja Anspruch spürbar, brillant zu sein: „Glückliche Menschen sind niemals brillant. Dazu braucht es Reibung.“ Was ihr als Schriftstellerin durchaus gelungen ist. Virginia Woolf entlockt dies drei Tage nach Mansfields Tod das dem Tagebuch anvertraute Eingeständnis: „Ich war eifersüchtig auf ihre Kunst zu schreiben – die Einzige, auf die ich je eifersüchtig gewesen bin.“
Neben Entwürfen und Szenen für ihre Erzählungen sprühen die hier vorliegenden Tagebuchnotizen nur so vor Lebensweisheit, gründend in einer unbändigen Neugier, Fragen auf die existenziellen Herausforderungen auf die Spur zu kommen, sowie dem unbedingten Streben, die Fülle ihres Potenzials auszuschöpfen:
„Unabhängigkeit, Entschlossenheit, Zielstrebigkeit, Urteilsvermögen und Scharfsinn – das braucht es unbedingt (...) Und nochmals Willen – die Erkenntnis, dass Kunst im Wesentlichen Entwicklung des Selbst bedeutet. Das Wissen darum, dass ein Genius in jeder Seele schlummert und es ganz entscheidend auf jene Individualität ankommt, die unserem Wesen zugrunde liegt.“
In der ihr eigenen Radikalität appelliert sie immer wieder an sich selbst, ‚alles zu wagen’, sich nicht um anderer Leute Meinung zu kümmern: „Tu, was dir am schwersten fällt auf Erden: Handle selbst! Stelle dich der Wahrheit!“ Wie sie überhaupt versteht, sich selbst zu motivieren – heute würde man von effektivem Selbstmanagement sprechen. Dementsprechend ermahnt sie auch immer wieder sich selbst. Etwa Misserfolge nicht ernst zu nehmen, aufzuhören, uns vor ihnen zu furchten und über uns zu lachen. Und drohe es, uns den Boden unter den Füßen wegzuziehen, rät sie, ‚sich dem Leid nicht zu widersetzen, es anzunehmen’:
„Lass dich überwältigen. Nimm es ganz und gar an. Mache es zu einem Bestandteil deines Lebens. Alles im Leben, was wir wirklich annehmen, verwandelt sich ... Das Leben ist nicht einfach. Trotz allem, was wir über das Mysterium des Lebens sagen, möchten wir es, wenn es hart auf hart kommt, als Kindermärchen nehmen.“
In den letzten Lebensjahren bis zu ihrem frühen Tod mit Tuberkulose kämpfend, hatte sie davon genug zu bewältigen. Und bis zum Schluss hat sie nicht aufgehört darum zu ringen, Zuversicht walten zu lassen. So lautet die letzte Tagebucheintragung vor ihrem Tod bei prekärer Gesundheit, wo sie von ihrer Erschöpfung schreibt und wie sie mit allem gerungen hat: „Alles ist gut.“ Ganz im Sinne ihrer ureigenen Haltung: „Es läuft alles auf eins hinaus: Man entgeht der Herrlichkeit des Lebens nicht. Fassen wir den Vorsatz, ewig zu leben. Und nicht mal das wäre lange genug.“
Aber: Lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Manesse Verlag!
Download aktueller Buchtipp im Archiv Judith Schalansky: "Verzeichnis einiger Verluste".
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© Hartmut Fanger schreibfertig.com:
Ein Debüt-Roman der extraklasse. Aufregend, erschütternd und in atemberaubender Handlung bis zur letzten seite spannend!
Gabriel Tallent: „Mein Ein und Alles“, Penguin Verlag München 2018, aus dem Amerikanischen von Stephan Kleiner
Die US-amerikanischen Kritiken überschlagen sich nicht umsonst. Und es ist auch nicht von ungefähr, dass der Roman von Gabriel Tallent „Mein Ein und Alles“ nach Erscheinen wochenlang auf der Bestsellerliste der New York Times stand und schon jetzt für so renommierte Literaturpreise wie den Los Angeles Times Book Prize for First Fiction nominiert ist. Ein Roman der Extraklasse, der den Leser von Beginn an den Atem anhalten lässt. Seite für Seite ungemein spannend. Nahezu berauschend die Schilderungen der Landschaft, des Waldes, mit allem, was dazu gehört. Tallent verfügt über ein unglaubliches Naturverständnis, das hier in jedem der 31 Kapitel voll zur Geltung kommt. Zwingend die Sprache. Der gesamte von Stephan Kleiner übersetzte Roman ist im Präsens geschrieben, wodurch der Leser stets dicht dran ist am Geschehen.
Dabei handelt es sich um die Geschichte der vierzehnjährigen Turtle alias Julia Alveston, von ihrem Vater Martin auch Krümel oder Luder genannt. Letztere Bezeichnung kommt nicht von ungefähr. Denn so hat der Vater es ihr eingeimpft. Ein Vater, der sie mit Liebesentzug erpresst, missbraucht, brutal misshandelt, vergewaltigt und ihr mit seinem eigenen wie ihrem Tod droht. Ebenso lehrt er sie den Umgang mit Schusswaffen, was ihm am Ende im Rahmen eines großen Showdowns zum Verhängnis werden soll.
Turtle scheint völlig auf sich allein gestellt. Schulleitung und Lehrerin spüren zwar, dass etwas nicht in Ordnung ist, unternehmen jedoch kaum etwas. Ja es hat sogar den Anschein, dass sie dem brillanten Intellekt des Vaters nicht gewachsen sind. Allein die zwei Jungen, denen sie aus dem Wald hilft, nachdem sich diese verlaufen hatten, bringen Verständnis für sie auf. Einer von ihnen, Jacob, verliebt sich am Ende in sie. Doch die Liebe steht unter einem bösen Stern, solange Turtle bei Martin lebt. Dieser will sie um keinen Preis loslassen. Schließlich sei sie ‚sein Ein und Alles’, wie bereits der Titel verrät.
Etappe für Etappe nimmt der Leser am Entwicklungsprozess von Turtle teil, lernt ihre Schwächen, vor allem aber ihre Stärke kennen. Ebenso nimmt er die Vernachlässigung des Mädchens und Brutalität des Vaters ihr gegenüber wahr. Als dieser sich am Tod des Großvaters, den Turtle geliebt hat, schuldig macht und dessen Habe verbrennt, will sie zunächst nur noch sterben. Am Ende jedoch wird klar, dass dies der entscheidende Wendepunkt in ihrem Leben ist, aus dem sie letztlich Kraft schöpft, um sich gegen den Vater zur Wehr zu setzen.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl.
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Pinguin Verlag
Erscheinungstermin: 24. September 2018
Gabriel Talent live in Deutschland:
Dienstag, 24. Sept, Montag, 24. Sept. | Heidelberg | DAI Deutsch-Amerikanisches Institut, 20 Uhr, Moderation: Margarete v. Schwarzkopf, dt. Stimme: Jakob Köllhofer
Dienstag, 25. Sept. | Berlin | Geistesblüten, 19 Uhr, Moderation: Denis Scheck, dt. Stimme: Luise Heyer, Veranstalter: Geistesblüten am Walter-Benjamin-Platz 2
Mittwoch, 26. Sept.| Hamburg | Literaturhaus, 19.30 Uhr, Moderation: Denis Scheck, dt. Stimme: Anna Thalbach
Donnerstag. 27. Sept. | Hannover | Pelikan TintenTurm, 19.30 Uhr, Moderation: Margarete von Schwarzkopf, dt. Stimme: Anna Thalbach,Veranstalter: Buchhandlung Leuenhagen & Paris
Datei mit unserem Buchtipp Gabriel Tallent zum Herunterladen im Archiv
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und unseren aktuellen Sachbiuchtipp Wolfram Eilenberger
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unseren Lyrik-Buchtipi Bokusui
und FuturJETZT: Michael Steinbrecher und Günther Rager
© Hartmut Fanger schreibfertig.com:
Nicht nur für Beatles-Fans
David Foenkinos: „Lennon“. Aus dem Französischen von Christian Kolb. Deutsche Verlags-Anstalt. DVA, München 2018
Wer die 60er und 70er Jahre verstehen will, der kommt an den Beatles schon zwangsläufig nicht vorbei, nicht an deren Musik und Lebensphilosophie, ebensowenig wie an den Schlagzeilen. Zweifellos waren die Fab Four aus Liverpool weltweit populär. Und der Protagonist war ihr Bandleader John Lennon. Es kommt deshalb auch nicht von ungefähr, dass der gegenwärtige Popstar unter den französischen Autoren, David Foenkinos, einen Roman über die Ikone verfasst hat, der Dank seiner präzisen und umfangreichen Recherche nahezu wie eine Biografie anmutet. Das Ganze mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen. Für Fangemeinde, Popwelt und Literaturinteressierte ein Grund zur Freude. Im Übrigen liest sich der Roman ausgesprochen gut und vermittelt das außergewöhnliche Leben Lennons aus der Ich-Perspektive, was besonders nah an die Hauptfigur heranführt.
David Foenkinos John Lennon. Fast kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als wäre der Autor eine Symbiose mit dem Gegenstand seines Interesses eingegangen. Authentisch, originell und treffend werden im Rahmen von 18 Sitzungen einer Psychoanalyse, zugleich Kapitel, Höhen und Tiefen im Leben John Lennons ausgelotet. Frappierend, wenn der Leser bisweilen das Gefühl nicht los wird, als würde John Lennon ihn von der Couch aus direkt ansprechen, und so unmittelbar aus dessen Leben erfährt. John Lennon reflektiert: von der Kindheit des Protagonisten bis hin zum Beginn der Beatles, von den ersten großen Erfolgen bis hin zu Yoko Ono, vom „Bombenlärm“ des Zweiten Weltkriegs bis hin zu „Give Peace a Chance“, vom ‚ersten Joint’ mit Bob Dylan bis hin zur Heroinsucht. Ein langer Monolog, der jedoch mit keiner Zeile langatmig wird. Im Gegenteil. Mitreißend, von Lennons Umgang mit dem Ruhm, seinem Verhältnis zu Paul McCartney zu erfahren, von seinem Protest gegen den Vietnamkrieg und seinem Kampf darum, während der Zeit Richard Nixons in Amerka bleiben zu dürfen. Zahlreiche nicht weniger berühmte Zeitgenossen treten in Erscheinung oder werden zumindest erwähnt. Sei es George Harrison, Ringo Starr, Mick Jagger, Frank Sinatra, Allen Ginsberg oder Fred Astaire. Nicht zu vergessen, Maharishi-Jogi.
Und es wundert dann auch nicht, wenn Foenkinos im Nachwort bekennt, dass John Lennon ‚ein Teil seines Lebens sei, seine Musik ihn überhall hin begleite und er ihn wahnsinnig bewundere’. Dies ist dem mit Herzblut geschriebenen Roman sehr wohl anzumerken und gewiss zugleich auch sein Stärke. Überraschend, dass Foenkinos erst 1974 geboren ist, er also einen Großteil von Lennons Leben erst im Nachhinein hatte kennenlernen können. Zu allem hin bestand die Schwierigkeit, dass nach Foenkinos ’Lennon seine Biografie selbst wohl mehrmals umgeschrieben hat’. Umso beachtlicher die Leistung. Foenkinos ist mit „Lennon“ ein großer Wurf gelungen.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt der Deutschen Verlags-Anstalt DVA!
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Siehe auch unseren Buchtipp Sinclair Lewis
Siehe auch unseren Buchtipp für unsere Jüngstenr
unseren Lyrik-Buchtipi Bokusui
und unseren aktuellen Sachbiuchtipp Wolfram Eilenberger
und FuturJETZT: Michael Steinbrecher und Günther Rager
© Erna R. Fanger
Der dunkle „Gang der Metaphern“
Haruki Murakami: „Die Ermordung des Commendatore II. Eine Metapher wandelt sich“, DuMont Buchverlag Köln 2018, aus dem Japanischen von Ursula Gräfe.
Warum der mit Spannung erwartete Band II von „Die Ermordung des Commendatore“ unbedingt lesenswert ist! Und das, obwohl er das Versprechen von Band I, seitens der Kritik nahezu einhellig hochgelobt, nicht ganz zu halten vermochte. Sind es dort bereits etliche Nebenhandlungen, kommt in Band II noch so manch weitere hinzu. Und nicht immer erschließt sich dann in der Gesamtschau zum einen deren Funktion, zum anderen ergeben sich dadurch gelegentlich auch Längen. Das im ersten Band so rasante Spannungsniveau wiederum weicht im zweiten teils langatmigen Passagen. Sei es, wenn immer wieder das Alltagsgeschäft, etwa bei der Zubereitung einer Mahlzeit oder der Vorgang des Essens selbst, allzu breiten Raum einnehmen, sei es, wenn so manche Begebenheit, und sei sie noch so nichtig, ausformuliert oder gar Klischees wie „Zeit ist Geld“ bemüht werden. Ganz zu schweigen von den befremdenden Betrachtungen über den weiblichen Busen oder mancher Sexszene, die eher von Altherrenfantasien als Erotik geprägt ist, was vornehmlich von der weiblichen Kritik teils harsch und nicht zu Unrecht kommentiert wurde. Ebenso wie man sich über manch angestrengt und verzwungen wirkenden Vergleich nur wundern kann.
Aber bei aller Kritik vernimmt man zugleich Stimmen, die Murakami gerade im Hinblick auf dieses als Trilogie angelegte Werk als des Nobelpreises würdig befinden. Und die Tragweite dessen, was das Faszinosum Murakamis ausmacht, ist auch hier, obschon nicht unanfechtbar, so doch mitnichten zu leugnen. Und es mag nicht zuletzt darin bestehen, dass er mit einem Wissen operiert, das, gewissen Strömungen der Quantenphysik zuzuordnen, kaum hinlänglich erforscht und von den etablierten Wissenschaften bislang eher hintangestellt wird. Demnach könnte es sein, dass wir Teil einer multidimensionalen Existenz sind und neben der Realität der materiellen Welt die der Welt des Geistes genauso real ist. Östlicher Weisheit oder westlicher Mystik entsprechend, die über ähnliche Konzepte als Grundlage ihrer Lehre verfügen. Eben dies scheint auch auf die Helden Murakamis zuzutreffen, bei dem etwa die Figuren auf dem Gemälde des Tomohiko Amadaals verkörperte Ideen und Metaphern zutage und mit dem Ich-Erzähler in Kontakt treten. Sphären des Sichtbaren und des Unsichtbaren kreuzen sich ebenso wie die jenseitige Welt der Toten mit der diesseitigen der Lebenden. Wobei bestimmte Figurenkonstellationen in verschiedenen Analogien in Erscheinung treten. So etwa, wenn den Ich-Erzähler seine Frau Yuzu von Beginn an an seine zwölfjährig an einem Herzleiden verstorbene jüngere Schwester erinnert, mit der ihn ein inniges Verhältnis verbunden hat. Ebenso entwickelt sich zwischen ihm und der 13-jährigen Marie Aikiwada, die er im Auftrag Menshikis porträtiert, im Laufe der Sitzungen eine gleichwohl damit korrespondierende Vertrautheit. Dieser weitere Auftrag Menshikis bildet im zweiten Teil dann auch den Schwerpunkt der Handlung, entsprechend dem Porträt, das der Erzähler im ersten Teil von diesem angefertigt hat. Wie überhaupt nicht nur das Figurenensemble untereinander durchweg von unsichtbaren Fäden zusammengehalten scheint, sondern überdies die einzelnen Figuren selbst von teils rätselhaft differenzierter Vielschichtigkeit sind, wodurch sie den Leser in den Bann ziehen. In all ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit wiederum sind Handlungsweise und Charaktere offenbar von Einflüssen motiviert, die ihm verborgen bleiben. Dies verleiht der Lektüre, neben den gekonnt eingebrachten Momenten des Fantastischen, streckenweise eine unterirdisch anmutende Erotik.
Das zentrale Spannungsmoment bildet dann das Verschwinden Maries, womit die fantastischen Elemente vollends die Oberhand gewinnen. Hat der Erzähler doch, um Marie zurückzugewinnen, auf Anweisung des Commendatore etliche Opfer zu bringen. So gerät er in endlos dunkle Gänge und unwegsames Gelände der Unterwelt, um schließlich über mysteriöse Umwege nach einer Ohnmacht in der Grabkammer des Commendatore wieder zu sich zu kommen, wo Menshiki ihn entdeckt und ihm heraushilft. Marie, erfährt er, sei wieder aufgetaucht, womit seine Mission erfüllt ist.
Last but not least sei auf eine bemerkenswert erotische, überaus bedeutsame Sexszene verwiesen, wo eben jene unsichtbaren Kräfte wirken, die Murakami seinen Figuren so gerne angedeihen lässt. Die erlebt der Erzähler mit seiner Frau allerdings lediglich im Traum, obwohl sie tief und fest schläft. Es kommt zu einer innigen sexuellen Begegnung. Als Yuzu ihm später im realen Leben, hoch schwanger, eröffnet, dass sie den Mann, von dem das Kind stamme, nicht heiraten werde, und sich nach und nach abzeichnet, dass sie bereit wäre, wieder zu ihm zurückzukehren, rechnet er nach und kommt zu dem Schluss, dass das Kind genau zum Zeitpunkt dieses Traumes, was er seinen Aufzeichnungen entnimmt, hätte gezeugt sein können. Als es – ein Mädchen, geboren ist, tritt er fraglos die Vaterschaft an. Aus seinen Erlebnissen in der Unterwelt offenbar gestärkt hervorgegangen, bekennt er schließlich: „... meine kleine Tochter Muro war ein Geschenk, das sie* mir zum Zeichen ihrer besonderen Gunst gewährt hatten.“
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl.
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Dumont-Verlag!
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Siehe auch unseren Buchtipp Arthur Isarin
Siehe auch unseren Buchtipp für Jung & Alt Keri Smith
Siehe auch unseren Buchtipp für Junge Leser Duncan Beeile
unseren Lyrik-Buchtipi Michael Krüger
und unseren aktuellen Sachbiuchtipp Peter Graf: Grimmsches Wörterbuch
Eine Idee mimmt Gestalt an
© Erna R. Fanger
Haruki Murakami: „Die Ermordung des Commendatore I. Eine Idee erscheint“, DuMont Buchverlag Köln 2018, aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
Nachdem seine Frau ihn völlig überraschend wegen eines anderen Mannes verlassen hat, nimmt der Ich-Erzähler, seines Zeichens Kunstmaler, die Gelegenheit wahr, die ihm der Zufall beschert, und zieht in das Haus eines ehemaligen Studienkollegen. Dessen Vater, Tomohiko Amada, einst ein berühmter Maler und inzwischen dement, hat auf dem Dachboden ein mysteriöses Bild deponiert, dessen Titel diesem Werk auch voransteht „Die Ermordung des Commendatore“, Band I des auf zwei Folgen angelegten Romans. Besagtes Bild, aber auch das Schicksal seines Erschaffers, der zwischen 1936 und 1938, also zur Zeit des Anschlusses Österreichs an Nazideutschland, in Wien weilte, bildet fortan Dreh- und Angelpunkt des Romans, in dem sich Episoden an Episoden ranken, ‚alles Geschichten, die mit vielleicht beginnen und enden’. Zugleich Anlass, das Leben des Protagonisten in eine vollkommen unvorhersehbare Richtung zu lenken. Wobei der Titel – fällt dem Protagonisten nach langem Rätseln darüber ein – sich vermutlich auf eine Szene im „Don Giovanni“ bezöge, wo gleichwohl ein Commendatore ermordet wird. Damit steht er exemplarisch für die für Murakami typische Verflechtung asiatischer mit westlicher Kultur. Aber dies ist nur eine von mannigfaltigen Referenzen aus der ganzen Bandbreite, aus der dieser von Lust an Erkenntnis getriebene Autor schöpft und womit er dem Leser, mit dem er diesen Erfahrungsschatz teilt, auf so diskrete wie zugleich intime Weise nahe kommt. Eben dies macht wohl auch einen Großteil des exklusiven Leseerlebnisses aus, das er uns hier offeriert. Des Weiteren ist es die verblüffende Selbstverständlichkeit, mit der er all das beredt zur Sprache bringt, was sich zunächst einmal der Wahrnehmung entzieht. Und es gibt wenige Autoren, die eine Souveränität wie Murakami darin entwickeln, auch noch den verborgensten Vernetzungen des unterirdischen Wurzelgeflechts unseres Bewusstseins nachzuspüren, diese aufzugreifen und sie, gekonnt durch sie hindurchmäandernd, so zur Sprache zu bringen, dass er den Leser sofort in den Bann zieht. Denn was wir nicht nicht unmittelbar (be)greifen können, bindet unweigerlich unsere Aufmerksamkeit und weiß uns, gedanklich zu beschäftigen.
Hat der Ich-Erzähler bislang sein Brot mit routinemäßiger Porträtmalerei verdient, ist er dessen nun überdrüssig geworden und unterrichtet in einer Volkshochschule, wo er auch die eine oder andere sexuelle Beziehung zu seinen Studentinnen unterhält. Ausgerechnet jetzt vermittelt man ihm jedoch ein Angebot für ein Porträt, so hoch dotiert und in undurchsichtiger Weise als zwingend sich erweisend, dass er es kaum abschlagen kann. Dem Auftraggeber wiederum lässt Murakami eine Aura des Geheimnisvollen angedeihen, die den Leser in ständige Erwartungshaltung versetzt, die zu erfüllen er sowohl verweigert als er ihr bisweilen jedoch auch wieder nachkommt, einem Vexierbild gleich, womit er obendrein den Leser in Schach hält.
Soweit die äußere Folie des Erzählens, die jedoch vergleichsweise dünn anmutet, zieht man die von Selbstzweifeln, Zweifeln an der Kunst, Zweifeln an der eigenen Wahrnehmung und von Zweifeln am Leben überhaupt geprägten Reflexionen in Betracht, die das ganze Buch im wahrsten Sinne des Wortes ‚durchfurchen’ und einen nicht geringen Teil der Lektüre, wo es vornehmlich um Selbstfindung geht, einnehmen.
Daneben handelt es sich um eine veritable Spukgeschichte von höchstem Spannungsniveau insofern, als Murikami hier meisterlich fantastische Elemente einzuflechten weiß, im Zuge dessen die Lektüre einen mächtigen Sog entwickelt, dem man sich kaum entziehen kann. Wobei er die Kunst beherrscht, nicht ohne Raffinesse die Grenzen zwischen rationalem und fantastischem Diskurs zu verwischen, Letzteren irritierend wirklichkeitsnah in Erscheinung treten zu lassen, gewürzt mit feingewiegtem Humor. So, wenn die Figur des Commendatore, sichtbar nur für den Ich-Erzähler, leibhaftig in Gestalt eines kleinen Männchens aus dem Bild tritt und, auf seinem Sofa oder in einem Regal sich positionierend, in eigenwilliger, teils altklug, dann wieder ausgesprochen witziger Manier dessen Gedanken und Überlegungen kommentiert oder in der Rolle des Weisen en passant tiefschürfende Erkenntnisse, an Schopenhauer gemahnend, preisgibt, wie etwa „Die Welt ist Vorstellung, das ist die Wahrheit. Vorstellung ist Wahrheit und Wahrheit Vorstellung (...) Das Beste ist es, diese Vorstellung einfach mit einem Zug zu schlucken, wie sie ist.“
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl.
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Dumont-Verlag!
Datei zum Herunterladen im Archiv
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Siehe auch unseren Buchtipp für Jung & Alt Keri Smith
Siehe auch unseren Buchtipp für Junge Leser Duncan Beeile
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