Nobelpreis für Literatur 2023 an Jon Fosse

Anlässlich der Verleihung des Literatur-Nobelpreises im Oktober 2023 an Jon Fosse haben wir unseren Buchtipp vom März 2022 reaktivierti.

Buchtipp des Monats März-April 2022

© erf 

Die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und  Zukunft ist nur ein hartnäckiger Eindruck. Albert Einstein

Von innen heraus erzählt

Jon Fosse: Ich ist ein anderer. Heptalogie III-V*  Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022

In Ich ist ein anderer erzählt der vielfach ausgezeichnete Theaterautor und Romancier Jon Fosse in Anverwandlung des rimbaudschen Diktums von der Möglichkeit seines Ich-Erzählers Asle, zugleich er selbst sowie ein anderer zu sein. Aber die Identität des Ich-Erzählers schwankt nicht nur zwischen ihm und seinem Alter-Ego, das wie er Maler ist, jedoch im Gegensatz zu ihm erfolglos und dem Alkohol verfallen. Ein gefährdetes Alter-Ego, um das er sich kümmern, dem er beistehen muss. Schwankend ist gleichwohl die Identität des Asle der fiktiven Gegenwart und des Asle in der Erinnerung an das Kind und den Jugendlichen, wo er von sich in der dritten Person erzählt. Nicht zuletzt legt der Name seiner verstorbenen Frau Asel nahe, dass auch sie als Spiegelfigur angelegt ist, indem nur das L, statt hinter dem E, vor dem E platziert werden müsste, und ihr Name und der des Ich-Erzählers wären identisch. Sie ist es auch gewesen, die ihn veranlasst hat, zum Katholizismus zu konvertieren. Letzteres triff im Übrigen nicht nur auf den Ich-Erzähler zu, sondern auch auf den Autor selbst. Und so, wie sich unablässig Identitäten, Subjekt- und Objektebenen verschieben, sich gegenseitig aufzuheben scheinen und dann unverhofft die Richtung wechseln, überlagern sich gleichwohl die unterschiedlichen Zeitebenen. Fiktive Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft fließen übergangslos ineinander, bilden ein bewegtes Kontinuum jenseits der Chronologie der Ereignisse. Daraus erwächst ein Erzählstrom, in dem sich überdies die norwegische Landschaft mit einschreibt, in der der Ich-Erzähler aufgewachsen ist. Weitläufig, spärlich besiedelt – grandiose Kulisse einer mächtigen, verschneiten Bergwelt. Gleichwohl scheint wiederum den Erzähl-Rhythmus – nicht weniger mächtig im Kommen und Gehen seines Wellengangs – das Meer vorzugeben. Raum- und Zeitkontinuum fließen so unablässig ineinander. Die Chronologie der Zeit entbehrt jedweden Ziels, scheint somit aufgehoben. Ereignisse, Betrachtungen erfolgen scheinbar zusammenhanglos nebeneinander, versehen mit Rückgriffen auf Vergangenes, alles auf derselben semantischen Ebene. Desgleichen changieren die sichtbare und die unsichtbare Welt sowie das Diesseits mit seinen realen Figuren, mit denen der Ich-Erzähler in Verbindung steht, wie der Nachbar und Bauer Åsleik oder Galerist Beyer, der regelmäßig seine Bilder ausstellt, und das Jenseits, wo der Ich-Erzähler, umgeben von Engeln,  mit seiner verstorbenen Frau im Gespräch ist, die er schmerzlich vermisst. Der Leser wiederum gerät so in den Sog einer Dynamik beredter Stille, in der spürbar die norwegische Landschaft den Erzählfluss mitbestimmt.

Jon Fosse erzählt radikal von innen her, wo eine Vielfalt an Sphären sich beständig kreuzen, sich berühren, um wieder auseinanderzudriften. Wirklichkeit kreiert sich beständig neu, um wieder verworfen zu werden. Die äußere Welt mit ihren politischen und gesellschaftlichen Aporien scheint von diesem radikalen Innenraum des Erzählens mit seinen Wiederholungsstrukturen und gezielt eingesetzten Redundanzen ausgeblendet. Grell im Focus hingegen einzig und allein das Individuum in seiner Vulnerabilität angesichts des Dramas des Menschseins zwischen Geburt und Tod, Schicksal, dem es ohnmächtig ausgeliefert scheint. Der Ich-Erzähler ein alternder Mann, seelisch angeschlagen im Zuge des Verlusts seiner Frau und so konfrontiert mit einer fragilen Existenz, mit der er nicht zurechtkommt. Ein Mensch in seiner Pein, in seiner Not. Ein Mensch in seiner Angst. Nach Heilung fahndend und Heil findend in der Zuflucht zur Religion, in der Zuflucht zum Gebet, woran er zwar zweifelt, was ihm letzten Endes jedoch hilft.

Alles in allem eine komplexe Reflexion über Zeit und Raum, Sein und Identität, Religion, Heil und Heilung. Ein Buch über das Getrenntsein des Menschen von Gott und seine Bestrebungen, über das Medium der Kunst wieder zu einer Einheit mit ihn zu gelangen, ein fortlaufender Erzählfluss ohne Punkt ...

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

*Etwas irritierend, besteht die Heptalogie zwar aus sieben Teilen, die jedoch auf drei Bände verteilt sind,  wovon der vorliegende der zweite mit Teil III-V besagter Heptalogie ist.

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag, Hamburg                                                  

                                                                                  Archiv Närz-April 2022

 

 

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