Buchtipp August - September 2021

© Hartmut Fanger                                 Atlantropa oder Die Sehnsucht nach Frieden in der Welt

Matthias Lohre: „Der kühnste Plan seit Menschengedenken“, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021

Ein Glück, dass aus den unverlangt eingesandten Manuskripten gerade das Debut des Journalisten Matthias Lohre der Lektorin Annette Wassermann in die Hände fiel.Nun dürfen auch wir in 41 Kapiteln und auf 480 Seiten den ‚kühnsten Plan seit Menschengedenken’ mitverfolgen.   

Der Roman spielt vornehmlich in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts.  Erzählt wird die wahre Geschichte des Architekten Herman Sörgel und dessen Frau Irene. Herman Sörgel entwickelt einen kühnen Plan. Er will das Mittelmeer mit Hilfe gewaltiger Staudämme anheben und trockenlegen, um dort stattdessen für fruchtbares Land und ein friedvolles Miteinander zu sorgen. Atlantropa bezeichnet er schließlich seinen Traum, da Europa im Zuge dessen mit den Küstenregionen Afrikas zusammenwüchse. An Authentizität gewinnt das Ganze, indem den jeweiligen Kapiteln historische Dokumente u.a. in Form von Zeitungsberichten, Zitaten aus Briefen und Romanen vorangestellt werden.  

Dabei findet die Handlung insbesondere vor der Kulisse eines krisengeschüttelten Deutschlands im Umkreis der schwächelnden Weimarer Republik mit zunehmender Kriegsgefahr, Massenarbeitslosigkeit, Judenverfolgung und erstarkten Braunhemden statt. Bereits zu Beginn sind dementsprechend erste Einflüsse der Nationalsozialisten vernehmbar. Ein Klima, das die Protagonisten immer mehr zu spüren bekommen, zumal Irene Sörgel Halbjüdin ist. Doch die Träume der Protagonisten sind groß. Mit Vorträgen und Ausstellungen setzen sie alles daran, die Mächtigen im Lande von ihrem Plan zu überzeugen. In dem Moment, als sich schließlich auch die Nationalsozialisten für das Projekt begeistern, kommt es für den Protagonisten allerdings zum Konflikt. Hermann Sörgel sieht sich gezwungen, sich zwischen der Realisierung seines Traums und der Liebe zu Irene zu entscheiden. Meisterhaft versteht es Lohre, fiktive Erzählsequenzen mit stichhaltigen historischen Fakten zu einem großen Ganzen zu verweben. 

Packend liest sich der abenteuerlich anmutende Weg Sörgels – allen Widerständen zum Trotz –, dem Umfeld eine derartige Utopie nahebringen zu wollen, dafür zu werben, Kontakte zu knüpfen, Politik und Presse für sich zu gewinnen, sich selbst vor dem Ertrinken im  Mittelmeer zu bewahren. Und es sind vor allem  die kleinen, so plastischen wie spannenden Szenen, die den Leser bis zum Schluss bei der Stange halten. Beeindruckend zum Beispiel der Moment, wo das Mittelmeermodell für die Ausstellung ein Leck aufweist und Sörgel zusammen mit dem Reichsarbeitsminister Adam Steigerwald versucht zu retten, was zu retten ist.  

Mit besagtem historisch verbürgtem Hintergrund ein Roman, der angesichts der weltweiten Klimakrise mit entsprechender Fluchtbewegung zusätzlich an Aktualität und Brisanz gewinnt. Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!                                             Archiv

Mit Dank für das Rezensionsexemplar an den Verlag Klaus Wagenbach. 

Buchtipp Juli - August 2021

© Erna R. Fanger: Heimisch in Erinnerungen

 

Helga Schubert: Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten, dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München 2021

„So konnte ich alle Kälte überleben. Jeden Tag. Bis heute“ Leseprobe, lautet der letzte Satz des ersten Kapitels in dem 300 Seiten zählenden Buch von Helga Schuberts Leben in 29 Geschichten. Der Satz beschreibt präzise, was wir heute als Resilienz bezeichnen, also psychische Widerstandskraft gegen die niederschmetternden Härten des Lebens. Was es dazu bedarf, wird in besagtem Kapitel selbst deutlich. Es ist die Erinnerung an die wunderbaren langen Sommerferien bei der Großmutter, in der Hängematte zwischen zwei Apfelbäumen, den Duft nach warmem Streuselkuchen in der Nase. Diese Großmutter ist es auch, von der sie sich geliebt fühlt, im Gegensatz zur ablehnenden Mutter, die für das kleine Mädchen wenig übrighat. Der Vater ist im Krieg gefallen. Der erste Satz wiederum ist Programm: „Mein idealer Ort ist die Erinnerung“Leseprobe. Und entscheidende Erinnerungen finden sich auch gegen Schluss des Buches wieder, wo sich die Autorin, vier Jahre nach dem Tod der Mutter, erinnert, wofür sie ihr, über den Dank am Sterbebett hinaus, dass sie ihr das Leben geschenkt habe, des Weiteren dankbar sei. Und da kommt überraschend viel zusammen – etwa nach dem Motto Erich Kästners „Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit“. Dies bildet die Klammer der hier erzählten Geschichten aus dem Leben Helga Schuberts in der ehemaligen DDR, die gleichsam ein Stück Zeitgeschichte transportieren. Und doch dreht sich letzten Endes alles immer wieder um das schwierige Verhältnis zur Mutter, die immerhin 101 Jahre alt geworden ist, ihrer Tochter somit eine lange Zeitspanne gewährt hat, sich daran abzuarbeiten. Dem kommt Helga Schubert, um Identität ringend, nahe, indem sie zum Beispiel Strategien entwickelt, ‚die Schatten hinter sich zu lassen‘. So notiert sie sich Sätze aus Lektüren, Zeilen von Gedichten oder Liedanfänge, die sie durch Zeiten der Mutlosigkeit und der Trauer tragen. Und „Warum schreiben“ – Kapitel, in dem sie, ausgehend von ihrer Liebe zum Altweibersommer, wo sie ‚endlich ausatmen kann, wie beim Schreiben‘, spielend leicht Zugang zu dem Thema findet und fragt, was Menschen veranlasse, eine Zeit lang alles hinter sich zu lassen, Freunde, Familie, Kollegen, um sich völlig von der Welt zurückzuziehen, in dem Vertrauen, dass sich im Zuge dessen eine Geschichte in ihm verdichte. „Woher kommt der Mut, diese schmale, wankende Brücke zu den Menschen, die am andern Ufer lärmen, zu bauen, diese Brücke ohne Geländer zu betreten und hoch über dem Abgrund zu balancieren, ganz allein?“ Leseprobe Wer schreibt, muss genau hinsehen, dem Erschrecken standhalten angesichts der Abgründe, an denen entlang sich menschliche Existenz hangelt, seien es die eigenen, seien es die der anderen. „Nichts ist klar so oder so, erfahre ich beim Schreiben oder spätestens beim Lesen.“ Leseprobe

Wie Erinnerung sich vollzieht, in Fetzen und Fragmenten, offenbart sich auf kaum mehr als zwei Seiten im zweiten Kapitel, „Vom Leben innen“, wo neben Orte der Erinnerung, etwa an das Pathos der Mutter beim Singen an der Seite von Blauhemden der FDJ beim Weltjugendtreffen, Belange von Alltagsbewältigung platziert werden, wie ‚daran zu denken, beim Autofahren Gas zu geben, einen Wagen zu lenken‘. Dass davon, nicht wie in der Vorstellung, ganz unmittelbar ‚etwas abhänge‘. Zugleich reichen wenige Pinselstriche aus, die Einsamkeit der Fünfzehnjährigen nahezubringen, die, der Mutter von ihrem „Gefühl der Unwirklichkeit“ erzählend, von dieser der Schizophrenie verdächtigt wird. Über den Selbstmord eines Mitschülers tröstet sie sich mit Klavierspielen hinweg. Ein Jahr lang hatte die Mutter ihr den Unterricht bei einer Pianistin bezahlt, dies, nachdem diese ihr Talent bescheinigte, jedoch wieder eingestellt. 

Immer wieder zieht sich die Erinnerungsspur an die erfahrenen Verletzungen seitens der Mutter durch ihre Geschichten. Und war dies für die bemerkenswerte Professorin, Literaturwissenschaftlerin und Modetheoretikerin Barbara Vinken in Scobels Büchertalk ein entschiedenes No Go, sei dem entgegengehalten, dass es keine Seltenheit ist, dass mit fortschreitendem Alter oft lange unten gehaltene Erinnerungen an empfundenes Unrecht noch einmal an die Oberfläche gespült werden und bearbeitet werden wollen. Bestenfalls, um am Ende seinen Frieden damit zu machen. Und Letzteres ist Helga Schubert mit diesem Kleinod – einem ganzen Leben in lauter kurzen Geschichten – mit Bravour gelungen.

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!                                               Archiv

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem dtv Verlag, München 2021

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