Buchtipp des Monats Juli/August 2025

© Hartmut Fanger

Musik zum Leben – Ein Meer der Hoffnung

 

Benjamin Myers: „Strandgut“, DuMont Buchverlag GmbH & Co. Köln 2025, aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence

 

Benjamin Myers liebt seine Figuren, wie bereits in seinem Bestseller „Offene See“, einem Coming-of Age-Roman aus dem Jahr 2020*. Darin geht es um den indessen gealterten Schriftsteller und Ich-Erzähler Robert, der als Jugendlicher zur See aufbricht und im Zuge dessen bei der anarchistischen Verlegerin Dulcie hängen bleibt, die ihm die Welt der Kunst und der Bücher eröffnet, was ihn schließlich dazu bringt, Schriftsteller zu werden.

Um Kunst geht es auch in seinem neuesten Roman. Doch ist es diesmal die Musik, sprich der Soul des siebzigjährigen Protagonisten Bucky, der den künstlerischen Funken überspringen lässt. Dabei ist seine Zeit als Musiker eigentlich längst vorbei, ist er in seinem Herkunftsland USA doch bereits vergessen. Hingegen finden seine einstigen Songs, in jungen Jahren geschrieben, in good old England noch immer begeisterte Anhänger, ohne dass er selbst davon weiß. Erst Jahrzehnte später, aufgrund einer Einladung, bei dem großen Festival in Scarborough aufzutreten, erhält er davon Kenntnis. Trotz widriger Umstände nimmt er die Reise nach England auf sich und lernt dort in der Figur Dinah einen glühenden Fan kennen, was in seinem Leben zu einem Wendepunkt führt, ihm neue Kraft und so etwas wie Hoffnung schenkt. 

Beide Figuren haben eine bewegte Geschichte hinter sich und es wahrlich nicht leicht gehabt. Der aufgrund seiner verschlissenen, höllisch schmerzenden Hüften tablettensüchtige Bucky trägt noch schwer am Verlust seiner Frau Maybell. Dinah, taffe Kassiererin eines Supermarktes, lebt in prekären Verhältnissen. Ihren leicht zurückgebliebenen Ehemann erträgt sie kaum. Vom Sohn, dessen Liebe einer Frau aus dem Internet gilt, die eher an KI gemahnt und vermutlich als Mensch nicht existent ist, hat sie sich völlig entfremdet. Zutiefst anrührend und mit großer Empathie erzählt Myers von der Begegnung, deckt die seelischen Verletzungen beider einfühlsam auf – ohne dem Leser seinen leisen Humor vorzuenthalten. 

Doch es ist nicht nur die fein ausgesponnene Geschichte, es sind nicht nur die in all ihren Facetten empfindsam dargestellten besonderen Charaktere oder die so authentisch wie originellen Dialoge, die den Leser von Beginn an in den Bann ziehen, nicht zuletzt ist es darüber hinaus das marode, nichtsdestotrotz faszinierende Ambiente mit seinem morbiden Charme, was den Leser bei der Stange hält. So das Hotel „Majestic“, in dem Bucky untergebracht ist, mit seinem den Jahreszeiten nachempfundenen vier Erkertürmen, den jahresgemäß angelegten zwölf Stockwerken und angeblich 365 Zimmern, das wahrlich schon bessere Tage erlebt hat. Und natürlich ist es obendrein die Küste und das Meer. All das spult wie ein Film vor dem geistigen Auge des Lesers ab, versetzt ihn in eine andere Welt. Und wie der Protagonist, der einen so neuen wie uralten Kontinent für sich entdeckt, staunt auch der Leser:

„England, das alte England ... das raue, ruppige Yorkshire. Und es war anders. Es hatte einen reicheren, volleren Geschmack, und man spürte es unter sich, sah es in den Gesichtern der Leute. Vielleicht lag es daran, dass es eine Insel war, ein kleiner Fels, der sich jederzeit und aus jeder Richtung angreifen ließ, was es zu einem Land edler Wilder oder vielleicht wilder Edler machte. Auf jeden Fall zu etwas Sonderbarem, Altem.“ Leseprobe

 

Schnell bieten sich, schon aufgrund der Herkunft des Protagonisten, Vergleiche an:

„Er dachte kurz … an Amerika, seinen Lärm und seinen Geruch. Er dachte an die Waffen, die Einkaufszentren, die Schulmassaker, die Cops und die wütenden Talkshow-Moderatoren .., im Vergleich war England vielleicht doch nicht so verrückt. Exzentrisch, ja, ein Fiebertraum, eine verstaubte Insel, die einen neuen Anstrich gebrauchen könnte ...“ Leseprobe

 

Man muss nicht anglophil sein, um diesen Roman zu lieben. Von Beginn an fesselt er den Leser mit der so mitreißend wie kurzweiligen Handlung, über viele Seiten hinweg angereichert von jeder Menge Passagen über Musik. Die Leidenschaft für den Soul ist es, die Bucky und Dinah rettet, es sind Rhythmus und Tanz, die sie vor der rauen Wirklichkeit schützen, sie letzten Endes am Leben erhalten.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

*Von uns rezensiert und im Archiv von schreibfertig.com nachzulesen.

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem DuMont Buchverlag, Köln 

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