© Hartmut Fanger 

1958: hinter der Fassade eines in sich zerrissenen Deutschlands

 

Carlo Levi: Die doppelte Nacht. Eine Deutschlandreise im

Jahr 1958, Verlag C.H.Beck GmbH & Co, KG, München 2024 – 5. Auflage 2025.Aus dem Italienischen von Martin Hallmannsecker,mit einem Nachwort von Bernd Roeck

 

Von Goethes Faust, zweiter Teil, ausgehend, dem der Titel in Anlehnung an den dort verwendeten Begriff „Doppelnacht“ entliehen ist, startete Levi (1902-1975) vor 67 Jahren, 13 Jahre

nach dem Zweiten Weltkrieg, eine Reise durch Deutschland. Einem größeren Publikum bekannt wurde der italienische Autor jüdischer Herkunft mit der zum Klassiker avancierten literarischen Dokumentation Christus kam nur bis Eboli (Gleichnamiger Film unter der Regie von Francesco Rosi, 1979). Nicht nur Homme de Lettres, war Levi außer Schriftsteller auch noch Maler und Arzt. Im Übrigen wirkte er im Widerstand gegen Mussolini, wurde im Zuge dessen zwischenzeitlich eingesperrt und auch aufs Land verbannt.

 

Wie er in „Die doppelte Nacht“ wiederum die Atmosphäre des Wirtschaftswunders und deutsche Mentalität nach dem Zweiten Weltkrieg in seinen subtilen Ausdifferenzierungen beobachtet und entsprechend nahebringt, ist sprachlich meisterhaft. Darunter nicht zuletzt die allesamt unter den Tisch gekehrten Schattenseiten. Dabei liegt der besondere Reiz in der von Levi bewusst gewählten wertfreien Perspektive –‚alles offen‘, als ‚hätte die Zeit Erinnerungen mit sich fortgerissen.‘ Zugleich an die unvoreingenommene Art gemahnend, wie Kinder die Welt wahrnehmen. „Und unsere Augen und unser Geist können, frei von Leidenschaft und auch von den tödlichen und unerschütterlichen Überresten der Leidenschaften, von den alten Fragen, wie auf etwas Neues blicken.“ Leseprobe  

 

So spannend wie unterhaltsam und aufschlussreich Levis Blick auf die großen, vom Wiederaufbau geprägten Städte, die bei aller Modernität und Überangebot an Lebensmitteln und sonstigen Konsumgütern im Westen angesichts der zahlreichen Ruinen zugleich eine spürbare Leere hinterlassen. Von München aus zunächst nach Augsburg, dann über Ulm nach Stuttgart. Von dort aus nach Berlin. Kurze Zwischenstationen Dachau und Tübingen. Die kleineren Städte hingegen sind aus seiner Sicht „in Bezug auf das, was sie einmal waren, tot: zertrümmert von den Bomben, neu und unkenntlich wiederaufgebaut oder geschickt gefälscht.“ Leseprobe Eine Ausnahme Schwäbisch Hall, Kleinstadt „die praktisch vollständig unversehrt geblieben und deren Steine noch die alten sind, nicht bloß Nachbildungen eines guten Wiederaufbauwillens“. Leseprobe

 

Die Aufzeichnungen Levis von Berlin leben wesentlich vom Kontrast zwischen Ost und West. Auf der einen Seite ‚Üppigkeit und Glitzerwelt, auf der anderen Rückständigkeit und Natürlichkeit‘. Levi wiederum erkennt darin ‚zwei Seiten einer Münze‘. Gemeinsam ist ihnen ‚hier wie dort das Exzessive, Erzwungene und Künstliche‘. Eine Vorführung, mehr Schaufenster als Realität, ein beharrliches Zurschaustellen von Sicherheit, die jedoch  auf eine große Leere gebaut ist, als wären die Häuser auf der gefrorenen Oberfläche eines Sees errichtet worden, die die Frühlingssonne auf einen Schlag schmelzen und einbrechen lassen könnte. Leseprobe.

 

Frappierend, von welcher Reichweite, ja Brisanz sein Bericht ist. So, wenn er von einer seiner nächtlichen Begegnungen bemerkt: „Alle ... geben sich menschlich, aber es sind noch immer dieselben wie früher. Meine Brüder waren fürchterliche Nazis: Heute sind sie immer noch Nazis“ Leseprobe Und das, wo nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa samt den USA zunehmend rechtspopulistische Strömungen Fahrt aufnehmen.

 

Aufschlussreich das ausgezeichnete Nachwort von Bernd Roeck, aus dem zu entnehmen ist, dass Deutschland für Levi das Land sei, das Mephisto für Faust ins Leben gerufen habe. Streitbare These, die dahingestellt sei. Davon abgesehen, ein Buch, das die Folgen bis heute der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs in der Tiefe ausleuchtet. Insofern ein Buch zur rechten Zeit, wo uns der Schrei nach Wiederaufrüstung nur allzu laut in den Ohren gellt. Ein Buch, das uns das „Nie wieder Krieg“ nach 1945 in Erinnerung bringen mag – fürs Geschichtsbewusstsein nahezu unerlässlich.

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem  Beck-Verlag, München! 

 

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