Lyrik-Buchtipp des Monats Oktober - November 2023

© Hartmut Fanger

Wieder stehst du im Minenfeld ...“ Ocean Voung

Ein Gewebe aus Traum, Alptraum, Fantasie und Krieg und Tod

Ocean Vuong: Zeit ist eine Mutter, Hanser Verlag, München 2023. Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag

 

Nach seinem Erfolgsroman "Auf Erden sind wir kurz grandios", in dem die Folgen des Vietnamkrieges bis in die Gegenwart hinein behandelt werden, folgt nun mit "Zeit ist eine Mutter" der inzwischen zweite Lyrik-Band des 1988 in Ho-Chi-Minh-Stadt geborenen vietnamesisch-US-amerikanischen Autors, der für sein literarisches Schaffen mehrfach ausgezeichnet wurde. So erhielt er 2017 zum Beispiel den begehrten T.S. Eliot Prize.

 

Der Gedichtband "Zeit ist eine Mutter" liest sich nun weitgehend surrealistisch. Ein Gewebe aus Traum, Alptraum, Fantasie und Krieg und Tod, wobei die Realität allerdings gleichwohl zum Zuge kommt, obschon eher fragmentarisch in Erscheinung tretend. So zum Beispiel in "Der Stier", worin ein ‚mundloses’ Lyrisches-Ich nach diesem greift und feststellen muss, dass es sich hier um „ein Tor in Gestalt/eines Tieres“ handelt. Ebenso erinnert die Wahrnehmung der Mutter in "Theorie vom Schnee" an einen Traum, in dem das Lyrische Ich nur ihren Umriss erkennt, sie darum bittet, ‚nicht zu verschwinden’, sie vielmehr ’bewahren will’ und mit ihr zusammen ‚einen Engel formt’, was dann wie ‚von einem Blizzard verwüstet’ ausschaut. Bereits hier klingt mit dem Tod der Mutter ein Themenschwerpunkt an. Und auch der Krieg kommt vor, wenn zuvor von „Im Fernsehen brennt noch ein Land“ die Rede ist. Konkretisiert und ausführlich dann in dem Prosagedicht "Künstlerroman" thematisiert.

Darüber hinaus werden wir in dem Band mit all den Spielarten moderner Lyrik konfrontiert. Der Autor kennt sich aus, sei mit Entelechie, Momentaufnahme oder Metapher. So etwa, wenn an einer Stelle vom „Nacktbaden unterm Guillotinenhimmel“ zu lesen ist, oder in "Die letzte Ballkönigin der Antarktis", dass das lyrische Subjekt „kein Schriftsteller sei, sondern ein Unterwasserhahn“ ...

 

Gegen Ende mag der Leser das Buch ruhig einmal mit geschlossenen Augen in die Hand nehmen, es aufschlagen und blind mit einem Finger auf eine darin enthaltene Zeile tippen. Er wird feststellen, dass man oftmals auf einen Vers gelangt, der überrascht, nachdenklich stimmt, schockiert oder provoziert. Zum Beispiel in "Old Glory": „Das Mädel ist ne Granate. Es war Vietnam“.

 

Die Empfehlung eines solch spielerisch, dem Zufall überlassenen Zugangs mag der Tatsache geschuldet sein, dass ein Großteil der Gedichte kaum einen Zusammenhang erkennen lassen, die Themen nicht in Sinnabschnitten gebündelt sind, vielmehr einem Kaleidoskop gleich ihre ganz eigenen Bilderwelten entfalten.

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl.
                                                                                                      

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Hanser Verlag ,München 

                                                                                                                                   Archiv

Lyrik-Buchtipp des Monats Oktober - November 2022

© erf               

"Ich bin im Herbst subtil und schreib in ganzen Sätzen" Ilma Rakusa

Mit Rhythmus & Wortklang – Lyrische Pandemie-Chronik

Ilma Rakusa: Kein Tag ohne. Gedichte

Literaturverlag Droschl, Graz 2022

Kein Tag ohne lautet nicht nur der Titel des jüngsten Gedichtbands Ilma Rakusas, einer fast anderthalbjährigen lyrischen Bilanz der Zeit der Pandemie von Oktober 2020 bis Februar 2022, vielmehr verbirgt sich dahinter zugleich ein Programm. Programm zur Selbstfürsorge, nicht zuletzt Selbstdisziplinierung, in Zeiten, die unsere gesamte Gesellschaft vor Herausforderungen bislang nicht gekannten Ausmaßes gestellt hat. Da gewährt die selbstgestellte Aufgabe Halt und Trost. Die Reisen im Außen verlagern sich ins Innere, und der Blick auf die kleinen, unscheinbaren Dinge setzt einen ungeahnten Reichtum an Impressionen frei. So etwa das Hören der Vögel in dem Gedicht „Anfang ohne Andrang“, entstanden zum Jahresbeginn am 1. Januar 2021, „... so früh schon üben sie / ihren Angesang / ein frohes Tremolieren ... du tust was du musst / verliebt verspielt doloroso / und oben wacht ein Gott“.

 

Im Gestus des Tagebuchschreibens gehalten, steht das persönliche

Erleben besagter Ausnahmezeit im Fokus. Daraus erwachsen ist ein intimes Zeitdokument, dessen erheblicher Stellenwert, zumal für Folgegenerationen, sich erst mit gebührendem Abstand erweisen mag. Doch so viel steht jetzt schon fest, Rakusa wird Nachgeborenen, etwa ihrem Enkel, auf den sie immer wieder Bezug nimmt, ein so sinnlich intoniertes wie sinnreiches Zeugnis hinterlassen haben, das einen wahrhaftigeren Zugang zur hier dokumentierten Wirklichkeit gewähren mag als manch faktisch geprägter Bericht: „Erst die Poesie, erst die Erfindung der Dichter, kann eine tiefere Schicht, eine Art von Wahrheit sichtbar machen“ (JWerner Herzog: Jeder für sich und Gott gegen alle, Hanser Verlag, München 2022)

 

Aber nicht nur die Pandemie versetzt die Welt in Aufruhr. In Belarus werden demokratische Bestrebungen vom Staatsapparat Lukaschenkos brutal niedergeschlagen, was Rakusa, mit slowenisch-ungarischen Wurzeln, aufgewachsen in Budapest, Ljubljana und Triest, zugleich Osteuropa-Expertin und Weltbürgerin, ebenso wenig unberührt lässt wie die Niederschlagung jeglicher emanzipativer Bestrebungen in Afghanistan im Zuge der erneuten Machtübernahme seitens der Taliban. So heißt es in „Mohn winzige rote Sonne“: „Logo für Zartheit mal Glut / anderswo kreist böses Blut / (Drama Belarus und gewürgte Zeugen) / wie viel Nacht ist in unsern Nacken / wie viel Tiefschwarz am Horizont ...“ In „Vögelchen zwitschern ins Résumé“ wiederum: „A wie Ahr wie Afghanistan / auch mein Apfelbaum gab den Geist auf / und das Ach war da wie die Arbeit ...“ Wie auch im Zuge von Corona Gewalt und Terror weitergehen – dementsprechend in „Pandemie Anschläge in Wien“ zu vernehmen: „... /es hagelt Schmerz / aus allen Nachrichtenkanälen / ...“

Legt das tägliche Festhalten der Chronik der Ereignisse im Gedicht nahe, die Tagespolitik miteinzubeziehen, erweist sich die Lyrik Rakusas doch da am eindrücklichsten, wo sie den Fokus auf davon unabhängige Phänomene legt wie Naturerfahrung und etwa die Wintersonnenwende reflektiert. So in „Wenn es am kürzesten ist“ / „wird es länger / das Licht / filigran um Grade der / Zuversicht / Tage Nächte Nächte Tage / kein Mond / ...“ Aber auch in dem hermetischen „Wenn sich die Toten zurückholen ließen“ zieht sie den Leser in den Bann: „Esther Mario Ales / in diesen Abend / in diese Dunkelheit / aber hell / mit ihren Stimmen und Träumen / wie Vögel / einer singt, einer schweigt ...“ Zu bezaubern versteht Rakusa immer dann, wenn genaue Beobachtungsgabe auf zartfühlenden Empfindungsreichtum trifft. So etwa in „Mit dem Ahorn Freundschaft schließen“, wenn „ ... der Singsang der Äste / Blätterwerk Blüten Früchte / und die Vertikale zwischen / Wurzel und Wind ...“ ins Bild rücken, oder mit spielerischem Reim in gekonntem Rhythmus, so in „Wir schütteln die Bäume“: „mein Enkel und ich / wir reiten auf Besen / wir zählen die Pilze / wir sind ein Gedicht / wir laufen und lachen / mit schiefem Gesicht ...“

Und obschon wir im Zuge der Lektüre noch einmal eine dunkle Zeit durchwandern, kontrastieren hierzu umso sinnfälliger die vielfältigen lichten Momente gekonnter Sprachkunst und Finesse, was wiederum Trost vermittelt, ja, bisweilen für Heiterkeit sorgt.

 

Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Literaturverlag Droschl                                                                                                 Archiv

© Hartmut Fanger

Experimentelle Gedichte              nicht nur für Liebhaber

 

Ulrike Draesner: „hell & hörig“, Penguin Verlag, München 2022

Rechtzeitig zu Ulrike Draesners 60. Geburtstag erscheint im Penguin Verlag nun der Band „hell & hörig“ mit Gedichten aus 25 Jahren, von 1994 bis 2020. Darunter viel Unveröffentlichtes.

Kommt man auf ihre Autorenseite, so springt uns sofort ein Schlüsselsatz zu ihrem lyrischen Werk ins Auge: »Ich schreibe, um hörbar zu machen, in Sprache zu übersetzen, was gemeinhin nicht gesprochen wird, nicht sprechbar scheint«. Das heißt zum einen, das Unsichtbare zur Sprache zu bringen, zielt zugleich aber auch auf das akustische Erleben von Gedichten ab, auf Klangfarbe, Intonation und Rhythmik. Nicht zuletzt sei an dieser Stelle daran erinnert, dass noch zu Goethezeiten Gedichte selbstverständlich laut gelesen wurden. Doch ist der damals vorherrschende Reim im Zuge der literatur- und sprachgeschichtlichen Entwicklung bis in die achtziger Jahre des zwan­zigsten Jahrhunderts indessen dem freien Vers gewichen, was sich auch im lyrischen Kosmos Draesners widerspiegelt. Selbst die ursprünglich im Englischen klassisch gereimten Verse Shakespeares übersetzt sie in freier Versform, was wiederum, neu und anders, Rhythmus und Wortklang in den Vordergrund treten lässt. Allenfalls wenn sie mit Liedtexten der Beatles experimentiert, taucht die alte Reimform wieder auf. Weniger handelt es sich hier jedoch um Übersetzungen im herkömmlichen Sinn als vielmehr Hörassoziationen. So mutiert etwa „Yellow Submarine“ zu „Gelbe Suppmarie“,  „Norwegian Wood“ zu „Quietschen Holz“. Dabei geht es vornehmlich um das akustische Erleben, kommt es, neben Rhythmen und Takt, auf besagte Klangfarben an.

Der auf über 260 Seiten und in 11 Kapiteln verdichtete Band erweist sich zugleich als vorzügliche Schulung poetischer Kreativität. Virtuos arrangiert der spielerische Umgang mit Sprache, lehrreich und unterhaltsam zugleich. Für den passionierten Lyrik- und Sprachliebhaber ein Highlight. Aber auch sprach- und literaturwissenschaftliche Erwägungen fließen hier ein. Wie etwa, dass Sprache laut Wilhelm von Humboldt als ’produktive, welterschließende Kraft’ ins Spiel gebracht wird oder „Gedichte“ als eine Form von  „Denken des Körpers im Zustand der Sprache“ definiert werden. 

Mit der ganzen Spannweite ihrer in Dichtung geformten Ausdruckskraft wartet Draesner auf in diesem Band. Sei es, wenn sie sich dem nature writing widmet, kapitelweise Wald, Pflanzen und Tiere ins Zentrum ihres lyrischen Werks rückt, sei es, wenn sie den Fokus auf zwischenmenschliche Beziehungen lenkt, sich über Seiten hinweg mit einer sich distanzierenden Mutter auseinandersetzt. Berührend  gleichwohl die Klage über ein fehlgeborenes Kind.

Ungewöhnliche Wortkombinationen und Zusammenhänge zeichnen ihre Lyrik aus, zwingen den Leser, sich mit der Materie zu beschäftigen, ein Gedicht nacheinander zwei- oder dreimal zu lesen. Gewinn für alle, die Freude an Sprache, am kunstvollen Umgang mit dem Medium Wort, an Sprachmusikalität und Ausdruck haben. Mit Fug und Recht hat sich die vielfach mit Literaturpreisen ausgezeichnete Autorin mit dieser Gesamtschau ihres lyrischen Œvres als Meisterin ihres Fachs erwiesen.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Penguin Verlag , München                                                                            Archiv

© Hartmut Fanger

Kunst der kurzen Form                                                                                                     

Ulla Hahn: „stille trommeln“Penguin-Verlag, München 2021

Wer die Gedichtbände vom Ulla Hahn kennt, wie zum Beispiel „Freudenfeuer“; „Herz über Kopf“ oder  „So offen die Welt“, weiß, dass ihre Texte durchweg von sensiblen Beobachtungen geprägt sind, sprachlich nuancenreich, dabei so knapp wie vielstimmig. Es bedarf für die Autorin nur weniger Worte, um Fantasie im Leser freizusetzen, für Kopfkino zu sorgen. Der Band  „stille trommeln“ stellt ein weiteres Kleinod in der Kunst der kurzen Form, der Kunst des Aus – und Weglassens dar. Präsentiert wird eine Auswahl von ‚neuen Gedichten aus zwanzig Jahren', wie der Untertitel verrät. Gedichte, die teils im Zuge ihrer vier großen autobiographischen Romane entstanden sind, teils ‚im Keller des Bruders auf der Rückseite von Matrizen mit Kuli dahingekritzelt wiedergefunden’ wurden, wie aus ihrem Nachwort hervorgeht. Gedichte, die die Autorin zurück zu ihren Anfängen führen, „zu den Wörtern an der Quelle, zu Wörtern, die frei sind, ungebunden, sich keinen Regeln fügen müssen, außer den selbst gestellten“. Leseprobe Unschwer zu erkennen der Bezug zur Dichtung Hölderlins, wenn es weiter heißt: „Denn in Gedichten schaffen sich die Wörter eigene Welten nach eigenen Sätzen“, die „ins Offene“ münden, „in Silbe, Rhythmus, Klang. Jedes Gedicht hat seine eigene Melodien ... ist eine stille trommel“. Leseprobe Und dieses ‚stille trommeln’ zieht sich wie ein roter Faden durch die Lektüre. So zum Beispiel, wenn es an einer Stelle „Lies die Stille/sie ist die Schrift/deiner Seele/Zwischen den Zeilen/in die mitunter/ein Blütenblatt tropft/oder eine Gaskugel funkelt/alias Stern“ heißt. In nur wenigen Worten begegnet uns darin zugleich ein ganzer Kosmos. Ebenso, wenn wir von der „Milchstraße“ lesen, von „hohem Bogen/Sonne mit Flecken und Stürmen/ Vulkane der Venus/beringter Saturn unser blauer Planet“ Leseprobeoder eine Überschrift „Zungen im All“ lautet.  

Die Entstehung eines Gedichtes, Alter und Tod, die Vergänglichkeit der Zeit und die Jahreszeiten sind überdies die großen Themen, auf wenigen Zeilen komprimiert. Ambivalent, mit Skepsis ohne Pathos und falschen Trost verhandelt sie die letzten Dinge, wenn es in „Vertrauen“ am Schluss „du wirst/nur einen Tag älter als gestern sein/nur einen Tag näher am letzten“ lautet oder in „Ablauf“                 „ ... nur stilles Feuer und Freuden/Meine Hände in deinen/ Abschiedsschimmer Abendrot“. Aber auch das Quäntchen schräger Humor, das existenzieller Tiefe die Schwere nimmt, fehlt hier nicht. So in „Wem das Stündlein schlägt“, wo dem „... kein Leben nach dem Tod“ mit „... von wegen!/Mit dir bin ich längst nicht fertig!“ entgegnet wird.  

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl.                               Archiv

Unser herzlicher Dank für das Rezensionsexemplar gilt dem Penguin-Verlag!

Lyrik-Buchtipp September - Oktober 2020

© Erna R. Fanger

Liebesbilanz in Versen

Barbara Schirmacher: „Lieben gelernt noch einmal von vorn“, Verlag BoD, Hamburg 2020

„Lieben gelernt noch einmal von vorn“, lesbar als poetische Heldenreise in zwölf Stationen, zeugt von Mut und Verzweiflung, von Aufbruch und Angst ebenso wie von der zärtlichen Wucht der Liebe. Spontan gemahnt der Titel an das bekannte Søren Kierkegaardsche Diktum: „Verstehen kann man das Leben rückwärts. Leben muss man es aber vorwärts.“ Denn erst im Rückwärtsmodus, hinterher, erweist sich, inwieweit wir im Zuge solcher Art Bewährungsprobe vorangekommen oder gescheitert sind. Ob uns am Ende Glück beschieden war oder die Schatten überhand nahmen. Und immer wieder betreten wir Neuland, in dem die alten Parameter ihre Gültigkeit verloren haben und das wir neu zu erkunden genötigt sind. Damit verknüpft die Frage, was davon wir hätten steuern können, was wiederum waren wir angehalten, hinzunehmen und durchzustehen. Vor uns in lyrisch-poetischer Verdichtung aufgefächert ein ganzes Leben, Liebesleben. 

Im Sinne einer Definition von Erotik als grundlegend vitalisierender Kraft, die alle Dimensionen menschlichen Seins gleichermaßen durchdringt, zieht sich dieser Tenor durch sämtliche der hier versammelten Gedichte und verleiht ihnen ihre elektrisierende Energie. Eine Schwingung des Begehrens in gebührender Distanz zum Begehrten –  dem lebendigen authentischen Leben schlechthin, um das hier gerungen wird. 

Dementsprechend verweist bereits jeweils der Titel besagter Stationen darauf: von „Stürz endlich mich in deinen Kuss“, über „Selbst Leichtlebigkeit will ihr Brot“, „Zwischen Baum und Borke“, „Der Trauer Raum“, „Auch ich zerteile den Wind“ bis zum nüchtern-ironischen „Der Tropf Die Kanüle Dein Wille“ – um nur einige exemplarisch zu nennen. Ebenso vielfältig wie vielstimmig miteinander verwoben, Perlen durchwirkt – schwebend. Desgleichen miteinander verzahnt und verkeilt, düster und beschwerlich, aber auch Geheimnis evozierend. Gemäß der Bandbreite menschlicher Existenz, hier so facetten- wie nuancenreich ins Bild gerückt. Ein Gewinn überdies die fantasievoll darauf abgestimmten, sensiblen Illustrationen Marion Molters und damit auch gestalterisch ein bemerkenswerter Band. 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!                         Archiv

Lyrik-Buchtipi Mai 2020

© Erna R. Fanger  

Poetisierung des Politischen

Sarah Kirsch: „Freie Verse. 99 Gedichte“. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Moritz Kirsch, Manesse-Verlag, München 2020 

Eher hätte Moritz Kirsch, Sohn der preisgekrönten Dichterin Sarah Kirsch (*1935, † 2013), beim Sortieren ihres Nachlasses damit gerechnet, auf dem Dachboden weitere Aquarelle zu finden, als er überraschend auf einen beachtlichen Karton stößt. Darauf handschriftlich vermerkt: „Uralt-Manuskripte S.K.“ Eine kleine Sensation, in diesem Band nun neben bereits bekannten Texten unter dem Kapitel „Neunzehn neue Gedichte“ versammelt.

Doch wie damit umgehen. Nun, Sarah Kirsch hat es ihm leicht gemacht. Hatte sie doch alles kommentiert, teils eindeutig mit „aussortiert“, manches mit Fragezeichen versehen, sodass er seinem Auftrag in ihrem Sinne nachkommen konnte.

Hat man die häufig um Naturerscheinungen kreisenden Gedichte Sarah Kirschs seitens des Literaturbetriebs nicht selten des Unpolitischen bezichtigt, betont er seinerseits, dass dies bei ihr nie der Fall gewesen sei. Und natürlich geht es dabei nicht um tagespolitische Kommentare. Aber zum eigenen Lebenskontext muss jede DichterIn eine Haltung an den Tag legen, in der das Politische im weiteren Sinne nicht auszuklammern ist. Und wenn in einem ihrer frühen Gedichte wie gleich im ersten des Bandes, „Fahrt II“, die Rede ist von „Aber lieber fahre ich Eisenbahn/Durch mein kleines wärmendes Land/In allen Jahreszeiten: der Winter“ Leseprobe, geraten einem unschwer bei ‚das kleine wärmende Land’ die sprichwörtliche gegenseitige Hilfsbereitschaft und Solidarität in der ehemaligen DDR in den Blick, wenn es galt, den einen oder anderen Mangel zu überbrücken. Oder wir mögen die Zeile ‚In allen Jahreszeiten: der Winter’ leicht als Metapher für die Erstarrung der Politik in Bürokratismus und Planwirtschaft lesen. 

Vertieft man sich des Weiteren in den Band, steht außer Frage, dass für Sarah Kirsch das Erleben unseres Alltags per se das Politische impliziert und insofern in jedes ihrer Gedichte oder freien Verse einfließt. Und gerade harmlos anmutende Zeilen wie „Nachmittags nehme ich ein Buch in die Hand/Nachmittags lege ich ein Buch aus der Hand/“ Leseprobein „Schwarze Bohnen“ schlagen jäh um, wenn es im dritten Vers heißt „Nachmittags fällt mir ein es gibt Krieg“ Leseprobe, den das Lyrische Ich ‚wie jedweden Krieg, vergisst, Kaffee mahlt’ und der Schluss lautet „Erst schminke dann wasch ich mich/Singe bin stumm“ Leseprobe. Eindringliche Momentaufnahme des Alltäglichen, überschattet von Kriegsgeschehen fernab.  

In ihrer Wahrnehmung erweist sich Sarah Kirsch im Übrigen als schonungslose, messerscharfe Beobachterin. So etwa, wenn die Ich-Stimme in „Georgien, Fotografien“ ‚die leeren Straßen voller Akazienduft während eines Fußballspiels’ schildert, ‚mitgehört aus den Fenstern über Radio und Fernsehen’ – freudige kollektive Anspannung, die mit dem Schluss „Sie überfuhrn einen Hund. Zwei Stunden schrie er im Park“ Leseprobe, einen jähen Bruch erfährt. Und auch das „Waldstück“ bezeichnet alles andere als ein Idyll, wenn ‚der Nordwind die Wolken zerstückelt und die Sonne’ „... an den Tag bringt verrammelte/Wälder abgebrochene Hütten im Dickicht/Die Tränen der Demonstranten kein Gras/Wächst darüber legt sich Beton.“ Leseprobe

Von Melancholie, Trauer über die Bedrohung durch Umweltzerstörung und teils apokalyptischer Bildersprache geprägt sind die ‚neunzehn neuen Gedichte’, konterkariert einzig durch die ihnen eigene poetische Brillanz. So, wenn es in „Wetterumschlag“ heißt „Der Regen schont mein Bett nicht mehr/und reicht schon unters Augenlid/dass Flossen mir und Schuppen wachsen ...“ Leseprobeund „Ein Hagel frißt den Regenweg/schwingt spitz auf meinem Trommelfell/kriecht bis zum Labyrinth ins Ohr/da schreie ich ich Gletscherkauz/vermisse meine Nestgeschwister“ Leseprobe. Und auch der „Ortsengel“ ist alles andere als zimperlich, kommt vielmehr raubeinig und ohne viel Aufhebens daher: „Der mich ins Wasser scheucht/Wenn die Stiere ausbrechen/Dich durch das Watt prügelt/So eine Springflut heraufkommt/Dir möglicherweise auf die/Füße pisst bevor sie erfrieren“. Leseprobe

Noch einmal – und das ist das Verdienst des Bandes – hat sich eine der renommiertesten, eindringlichsten lyrischen Stimmen der Nachkriegszeit Gehör verschafft. Rechtzeitig zu ihrem 85. Geburtstag am 16. April dieses Jahres erschienen und zugleich eine Verneigung vor diesem lyrischen Werk von Rang.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Manesse-Verlag.

Lyrik-Buchtipp des Monats April 2020

www-schreibfertig.com

© Hartmut Fanger www.schreibfertig.com:

Ein ‚Mitbringsel’, das sich lohnt 

Walle Sayer: „Mitbringsel. Gedichte, klöpfer.narr GmbH, Tübingen 2019

Kennen Sie ‚das Geheimnis des Kartoffelsalates’? Waren Sie je in einem „Museum der Berufe?“ Oder haben Sie schon einmal von den „Rückenflossen gefalteter Stoffservietten“ gehört? Der schwäbische, vielfach ausgezeichnete Dichter Walle Sayer bringt Ihnen mit Hilfe seiner kunstvoll arrangierten Gedichte seinen spezifischen Blick auf die Besonderheiten des Alltags nahe. Sei es, wenn man besagtem Kartoffelsalat „mit Augenwasser die Schärfe nehmen“ kann. Oder er gar in der ‚Gesichtslandschaft des Scherenschleifers’ ein Museum erkennt. 

Meist sind es die kleinen, unscheinbaren Dinge, die das Leben ausmachen und die die Lyrik Walle Sayers uns ins Herz schreibt. Und stets spiegelt sich darin zugleich das große Ganze. Ein „Schäufelchen“ zum Beispiel, mit dem man Sandburgen baut, „Als warte/ (...) /der große Strand auf eine Art Sinngebung“. Oder eine ’lindgrüne Gießkanne’, die sich, voll bis an den Rand gefüllt, für den lyrischen Helden, je älter er wird, zusehends als ‚Kraftakt’ erweist. Nichts scheint Walle Sayer zu gering, um Poesie daraus zu schlagen, wie etwa die ‚zusammengeknüllten Zeitungsseiten, womit die Schuhe trocknen sollen’, das „Staubsaugen im Jugendzimmer der Tochter“ in “Suchbild“, „Lichtschalter“ und „Fernsehhecke“.

Immer wieder gibt es in diesen zarten, nahezu ‚spartanisch’ anmutenden Kunstgebilden Überraschungen, wird der Leser zum Schmunzeln oder Nachdenken angeregt. Gerade dann liebenswert heiter, wenn schwäbische Mund-und Lebensart durchdringt. So beispielsweise “Bäbbigsüßes“ in „Einlasskontrolle“, die „Brezel“ in „Zeitschaltuhr“, „Rieslingtrauben“ in „Nächtlicher Weinberg“, „Schorlehenkel“ in „Weinfraktion“. Oder aber es geht um genau das, was uns heilig zu sein scheint und zugleich Tiefe verleiht. So in dem Gedicht „Heiligenbildchen“ oder die „Karfreitagsstille“ in „Mirabile ductu“ sowie „Die Taufkerze!“, „Trauerkarten“ und „Grabbeigaben“. 

Das Ganze auf 120 Seiten gebannt und in acht Kapitel gegliedert, in freier Versform, ungereimt und in scheinbar loser Reihenfolge. Gedichte, die sich versiert des Enjambements und der Ellipse bedienen ebenso wie sie sich durch originelle Wortkombination auszeichnen. Ein erlesenes Vergnügen nicht nur für Lyrikfans und Sprachliebhaber.  

Doch lesen Sie selbst , lesen Sie wohl!

Mit Dank für das Rezensionsexemplar an den Verlag „klöpfer, narr“.  

Lyrik-Buchtipp des Monats März 2020

www-schreibfertig.com

  © Erna R. Fanger 

  Vermächtnis zwischen Lust und Häme

Wiglaf Droste „Tisch und Bett. Gedichte“. Verlag Antje Kunstmann, München 2020. 

An die Vorläufer „Nutzt gar nichts, es ist Liebe“ (2005) und „Wasabi dir nur getan?“ (2015) anschließend, ist dies nun der letzte, posthum veröffentlichte Gedichtband der Trilogie des stets hoch pokernden Querdenkers, Dissidenten, Provokateurs und frei schaffenden Satirikers, der sich nirgendwo ‚einordnete’. Und warum auch.

Im Bewusstsein, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleiben wird, von Droste 2018/19 fertiggestellt, erwartet den Leser dieser Sammlung in 11 Kapiteln mit insgesamt nahezu 200 Gedichten ein lebenspralles poetisches Vermächtnis des im Mai 2019 mit 57 Jahren verstorbenen Dichters. Dabei stellt Droste einmal mehr unter Beweis, dass er sein Metier beherrscht, und wartet mit einer Fülle an Formen auf. So erweist er sich in seinen Liebesgedichten als so luststrotzend wie vergnügter Liebhaber, Sinnesfreuden ebenso zugeneigt wie der im besten Sinne kindlich aufgeweichten Gestimmtheit danach, etwa in Morgendichtung: „Morgens zwischen sechs und sieben/hab ich ein Gedicht geschrieben./Ach, das war ein großer Spaß/und ich machte mich fast nass,/weil das Teil so komisch war,/furchtbar ulkig, wunderbar!/Worum es ging in dem Gedicht?/Tut mir leid, das sag ich nicht.“ 

Umso erbitterter hingegen die Attacken gegen Rechte, AFD und Co.: „Wie sie hetzen, hecheln, zischeln, fälschen intrigieren,/prahlen und krakeelen/ aus ‚Wir-als Deutsche-müssen-wieder-alles-zahlen!’-Geizgeil-Kehlen“. Oder wenn in Wunsch und Welt„Das Schein-statt-Sein der Häppchen und der Schnäppchen,/der vollgedopten Grinsies auf dem Siegertreppchen,“ aufs Korn genommen wird, er des Weiteren gegen Fremdenhass zu Felde zieht. Dabei bedient er sich des Pamphlets ebenso wie des Sinngedichts oder des Aperçus, wie in Kleiner Radschlag: „Willst du die Birne aus dem Hirne nicht verlieren,/musst du dich internetzig absentieren.“ 

Und noch dem Tod sieht er unerschrocken ins Angesicht: “Bitte setz dich, mein Freund Hein, was soll es sein?/Willst’ du ’n Kurzen, einen Longdrink, ein Glas Wein?“ Dass es aber selbst bei diesem von unbändigem Lust- und Lebenswillen getriebenen Droste ohne ein „Gebeetchen“ dann doch nicht geht, ist nur eine Facette der verblüffende Vielfalt mit der er hier aufwartet und gar mit dem Höchsten in Dialog tritt:  „Nimm, Guter –  Niemals Lieber! – Gott mich him/so wie ich bim.“ Zeugnis von Drostes souveräner poetischen Vitalität, seinem Einfallsreichtum, seiner Wortschöpf- und Reimlust ohne Rücksicht auf das Regelwerk der Grammatik. 

Was wiederum ins Herz sticht, ist die Tatsache, dass dieser überbordende Sprach und Bilderreichtum, die immense Bandbreite, nicht zuletzt Leid und Leiden eines verzweifelt Suchenden geschuldet ist, was schließlich in der Sucht mündet: „Und so ist man suchtverflucht,/wenn man sucht und sucht und sucht.“ Ausgestattet mit martialisch anmutendem Temperament, war Droste den Zumutungen und Zurichtungen der Gesellschaft schwerlich gewachsen. Eben daraus speist sich dieser kleine Geniestreich von einem Gedichtband. Wir erweisen seinem Schöpfer die Ehre –„Chapeau!“ 

 Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Antje Kunstmann Verlag

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