Dr. Erna R. Fanger und Hartmut Fanger MA
Seit über 25 Jahren erfolgreiche Dozenten für Kreatives und Literarisches Schreiben, Fernschule, Seminare, Lektorat
Mein ganzes Leben lang hat mir meine Mutter weisgemacht, dass es ihr schlecht ging. Drei Tage
vor ihrem Tod kam sie mit der Neuigkeit daher, dass es ihr gut ging. Es mussteein Irrtum vorliegen. Wir waren die, denen es schlecht ging. Wolf Haas
© erf: Requiem auf eine Mutter
Wolf Haas: Eigentum, Carl Hanser Verlag, München 2023.
Der Tod der eigenen Mutter macht etwas mit einem. Wie Wolf Haas ihn hier literarisch verarbeitet, macht wiederum etwas mit dem Leser. Den inneren Aufruhr angesichts eines solchen Abschieds für immer versteht er so fantasievoll wie facettenreich, vor allem aber vibrierend lebendig nahezubringen. Ein Vakuum zwischen Trauer und Fassungslosigkeit. Erzählerischer Tiefgang, der zugleich so lächerlich wie skurril anmutet. ‚Ein Leben im Mangel‘ ist mit diesem Tod zu Ende gegangen, geprägt von Mühen, Nöten und finanziellen Engpässen. Der Titel des Romans, Eigentum, bildet die Leerstelle im Leben dieser Mutter, um die sich alles dreht. Kurz davor, ein solches in Form einer Immobilie zu erwerben, kommt die Inflation. Da heißt es „nichts wie sparen, sparen, sparen“. Aus die Maus mit dem Traum vom eigenen Grund und Boden, vom Eigenheim. Makaber, nicht ohne schwarzen Humor, dass der einzige Grund und Boden, den die Mutter am Ende ihr Eigen nennen kann, das Familiengrab ist – das zu Allerheiligen und Allerseelen zu besuchen, sie aber aus unerfindlichen Gründen stets verweigert hat.
Und während Haas das entbehrungsreiche Leben dieser Mutter Revue passieren lässt, die daraus auf ihre Weise durchaus Kapital zu schlagen wusste, befindet er sich zugleich inmitten der Vorbereitungen zu seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Frappierend die Diskrepanz zwischen der abgezirkelten Welt universitärer literarischer Auseinandersetzung und dem Sterben der Mutter, der das Leben nichts geschenkt hat, die, am Ende, 95jährig, dement, doch glücklich scheint. Farbig, voller Eigensinn und mit trotzigem Beharren auf ihrem kleinen Glück versteht Haas es, sie dem Leser nahezubringen. Zärtlich und bestürzt, voll Schmerz, aber auch Komik erzählt er uns aus ihrem Leben und davon, wie es sein eigenes geprägt hat.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Carl Hanser Verlag,
München 2023
© erf
Welt im Wandel – Aufbruch zur Transzendenz
Es gibt einen Ort in uns. Wir erschaffen ihn gemeinsam,
durch unsere Offenheit und durch unseren Hustle,
durch unseren Humor und durch die wahnwitzigen
und wunderbaren Wiederholungen. Joshua Groß
Joshua Groß: Prana Extrem, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2022
In mannigfaltiger Spiegelung schreibt sich der rasante Wandel, in dem wir als Individuen dahintreiben, in Joshua Groß‘ Roman Prana Extrem ein. Zugleich eine hellsichtige Analyse des Zeitgeists. Geprägt einerseits von dystopischen Untergangsszenarien, konterkariert wiederum von der unverbrüchlich den Subjekten innewohnenden Sehnsucht nach Transzendenz. Und sei es im Spitzensport. So vertreten durch die Figur des 16jährigen Michael Stiening, den der Ich-Erzähler Joshua in Innsbruck, Mekka des Wintersports, kennenlernt. Zur Weltklasse im Skispringen antretend, darin aufgehend, erlebt Michael im Zuge dessen mehr als nur den Triumph einer sportlichen Spitzenleistung.
[E]r beamte sich vom Tisch weg und schwebte mit einer solchen außerirdischen Eleganz den Hang hinab, dass das Publikum fassungslos verstummte – bewegungslos lag er in der Luft, bestärkt durch minimalen, dickflüssigen Aufwind, ganz gelassen reizte er seinen Flug maximal aus, bis es fast gefährlich wurde, ließ sich schließlich aber in die Senke treiben und landete mit einer todsicheren Zartheit auf den tiefgrünen Matten. Kurz war subatomar eine sakrale Stille zu verspüren. Leseprobe
Die abgeschiedene Ferienwohnung Michaels und seiner Schwester in den Alpen, inmitten der Natur, und der heiße Sommer bieten die Kulisse für die bunt zusammengewürfelte Figurenkonstellation – Ich-Erzähler Joshua und Freundin Lisa, Skispringer Michael mit Schwester Johanna, die ihn coacht, zu denen unerwartet die fünfjährige Tilde, eine Verwandte der Beiden, stößt, überdies Joshuas eigenwillige Oma. Unter der Oberfläche der lapidaren Handlung werden grundlegende Fragen menschlichen Miteinanders in einer Lebenswirklichkeit verhandelt, die von unzumutbaren Zurichtungen des Individuums geprägt zu sein schein. Dies manifestiert sich etwa im Milieu des Reihenhauses der Großeltern, dem der Ich-Erzähler „Erstickungsgefahr unter der pseudogutbürgerlichenemotionalverwahrlosten Tristesse“ Leseprobe bescheinigt. Fassungslos registriert er die
... Existenzen zweier Menschen ..., die gegenseitig in sich andauernd die eigene Abgefucktheit gespiegelt sehen ... und die unfähig sind, seit Jahrzehnten eben, auch nur kurz darüber nachzudenken, ob es Veränderungen geben könnte, die es ermöglichen würden, sich nicht nur auf erschreckende Weise aneinander abzunutzen, sondern so mit dem eigenen Leben und Sterben umzugehen, dass es innerhalb der individuellen Beschränktheiten als wertvoll empfunden wird. Leseprobe
Wie wollen wir leben, was hinter uns lassen. Wie geht ein Miteinander, getragen von Verbundenheit, Liebe.
Deutlich wird im Zuge der Lektüre der Irrwitz, in dem der Mensch des Anthropozäns angehalten ist, sich irgendwie zurechtzufinden. Was die Figuren jedoch umso nachdrücklicher dazu bringt, das vorgefundene Außen mit einem Gegenentwurf verbundenen Miteinanders zu beantworten. Die Ingredienzien hierbei sind der achtsame Umgang untereinander, Zugewandtheit und nicht zuletzt Humor.
Die Sprache, der Groß sich hier bedient, lässt, entsprechend der immer auch verzweifelt anmutenden Suche nach Sinn in der Abwärtsspirale, allzu geschliffen glatte Formulierungen vermissen, kommt – zurecht – teils sperrig, dann wieder flapsig im Jugendjargon daher, lässt aufhorchen, nimmt den Leser mit.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verlag Matthes & Seitz, Berlin
© erf
Die Philosophin Eve Kosofsky Sedgwick spricht irgendwo von der unerschöpflichentransformativenEnergie, die gedemütigte Kinder entwickeln können. Édouard Louis
Zwischen ‚Grenzenloser Verzweiflung und unbegrenzter Zuversicht‘
Édouar Louis: Anleitung ein anderer zu werden, Aufbau Verlag, Berlin 2022. Aus dem Französischen von Sonja Finck.
Alle sprechen vom Wandel. Und es hat sich indessen herumgesprochen: Der Wandel beginnt in jedem Einzelnen. Unter Intellektuellen verpönt, predigen es die Esoteriker und spirituell Infizierten seit eh und je. Maßen sich gar an, von der schöpferischen Allmacht des Einzelnen zu sprechen. Édouard Louis hat mit Esoterik nichts am Hut ebenso wenig wie mit Spiritualität. Sein Beweggrund ist in erster Linie Rache. Rache für all die Demütigungen von Kind auf, zum einen als Angehöriger einer an den Rand gedrängten, von Armut geprägten sozialen Gruppe, überdies als Schwuler in einem solchen Kontext.
Blickt man tiefer, erweist sich das Rachemotiv als Oberfläche, unter der eine unstillbare Sehnsucht brennt und eine Ahnung Raum greift, dass wir als Mensch über ein erhebliches Potenzial an Fähigkeiten verfügen, das zur Entfaltung drängt, was nicht selten an äußerem Widerstand scheitert. Wir erleben uns dann als Opfer, hadern damit nicht selten ein Leben lang. Doch immer mehr geben sich damit nicht zufrieden, brechen aus der nach Kant selbstverschuldeten Unmündigkeit und beginnen, die Verantwortung für ihren Lebenserfolg selbst in die Hand zu nehmen.
So auch Édouard Louis, der aus diesem inneren Brennen heraus eine machtvolle, augenscheinlich durch nichts zu bremsende Energie entwickelt, Wege aufzuspüren, sich aus der Enge erbärmlicher Verhältnisse, zu der er qua Geburt verurteilt schien, regelrecht herauszukatapultieren:
Vor allem aber hatte ich versucht, meiner Kindheit zu entfliehen, dem grauen Himmel Nordfrankreichs und dem Leben, zu dem die Gesellschaft meine Freunde von damals verurteilt hatte, einem Leben der Entbehrung, in dem die einzige Aussicht auf Glück die Treffen an der Bushaltestelle sind, bei denen man aus Plastikbechern Bier und Pastis trinkt, um die Realität zu vergessen. Ich träumte davon, auf der Straße erkannt zu werden, träumte davon, unsichtbar zu sein, träumte davon, zu verschwinden, träumte davon, eines Morgens als Frau aufzuwachen, träumte davon, reich zu werden, träumte davon, noch einmal ganz von vorne anzufangen. Leseprobe
Sei es als Schüler über das Theaterspielen, sei es mit dem sicheren Instinkt für Menschen, die ihn förderten, legte er es mit entschiedener Ausdauer darauf an, Stufe für Stufe über sich selbst hinauszuwachsen. Im Zuge dessen verschafft er sich Zutritt bis in die höchsten Kreise der Gesellschaft, studiert schließlich an einer Elite-Universität, lernt Superreiche genauso kennen wie er, zwischenzeitlich in finanziellem Engpass, Erfahrungen macht, sich zu prostituieren. Ja, auch Abstiege, zumindest kurzfristig, wird er durchstehen. Aber am Ende hat er das Märchen vom Tellerwäscher zum Millionär wahrgemacht. Nein, kein Märchen. Das amerikanische Klischee hat seinen Preis, nicht zuletzt den der Entfremdung. Entfremdung von seinen Wurzeln. Und das schmerzt. So heißt es gegen Ende der akribisch betriebenen Metamorphose:
Ich glaube, ich schreibe, weil ich manchmal alles bereue, weil ich manchmal bereue, mich von der Vergangenheit abgekehrt zu haben, weil ich mir manchmal nicht sicher bin, ob meine Bemühungen zu irgendetwas nutze waren. Manchmal denke ich, dass meine Flucht vergeblich gewesen ist, dass ich um ein Glück gekämpft habe, das ich nie gefunden habe. Leseprobe
Darunter büßt der äußerliche Erfolg seiner Mission, sich kontinuierlich von seiner Herkunft zu entfernen, an Glanz ein. Und auch der Glamour, mit prominenten Schriftstellern und Philosophen auf Du und Du zu stehen, mit Ihnen aus-, bei ihnen ein- und auszugehen, in den teuersten Etablissements zu speisen, in weltbesten Hotels zu residieren und den Globus zu bereisen, weltweit seine Bücher zu verbreiten, wird am Ende wieder infrage gestellt.
Nicht infrage steht hingegen, dass wo zu Beginn Rache war, am Ende mit der zugleich aus diesem Prozess gewonnen Erkenntnis die Empathie steht: dass nämlich die Differenz zwischen seinem Leben und dem seines Vaters, von dem er sich mit all der ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen losgerissen hat, eine Folge von sozialer Ungerechtigkeit und Klassengewalt war ... Leseprobe.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Aufbau Verlag, Berlin 2022
© Hartmut Fanger
Großes Theater ...
Machismo im kommunistischen Polen der 70er Jahre und Gewalt gegen Frauen
Dorota Masłowska: Bowie in Warschau, Rowohlt Verlag, Berlin, Januar 2023. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl.
In diesem Buch der erfolgsgekrönten polnischen Autorin Dorota Masłowska ist vieles anders als Genrebezeichnung und Titel es vermuten lassen.
Wer einen Roman im klassischen Sinne erwartet, sieht sich getäuscht. Stattdessen werden wir von Beginn an mit großem Theater, mit Regie- und Sprechanweisungen für die Bühne konfrontiert. Eine Inszenierung, die in Polen dann auch als Theaterstück zu erleben ist. Und wer sich unter besagtem Titel ein Buch über David Bowie vorgestellt hat, wird gleichfalls enttäuscht. Nur kurz, zu Beginn und am Ende, tritt der britische Sänger, Liedermacher und Rockstar in Erscheinung. So wie er sich auch in Wirklichkeit 1973 nur kurz in Warschau aufgehalten hat. Die Tatsache, dass er sich vor Ort in einem Buchladen mit polnischen Schallplatten eingedeckt und später mit «Warszawa» ein bemerkenswertes Musikstück geschaffen hat, reicht der 1983 geborenen Autorin aus, um ihre Fantasie spielen zu lassen und ein kontrastreiches Bild vom Polen der frühen 70er Jahre zu zeichnen. Der sich auf der Fahrt mit dem Zug zwischen Moskau und Berlin in Warschau aufhaltende Musiker wiederum steht in sinnfälligem Widerspruch zum realen Kommunismus dieser Zeit, wirkt wie aus dem Himmel gefallen. (Nicht zu verwechseln mit dem Science-Fiction-Film „Der Mann, der vom Himmel fiel“ aus dem Jahr 1976, in dem David Bowie die Hauptrolle spielt)
Doch Bowie selbst spielt hier, wie oben bereits angedeutet, eben nicht die Hauptrolle. Von ihm ist dementsprechend wenig zu erfahren. Stattdessen wird jede Menge einer von Armut geprägten Gesellschaft offenbar, in der, was die Beziehung zwischen Männern und Frauen anbelangt, archaische Verhältnisse vorherrschen. Gewalt gegen Frauen das eigentliche Thema. Nicht umsonst schreibt der Polizeizugführer Wojciech Krętek gleich zu Beginn davon, dass zwar auf der einen Seite ‚Neue Stadtviertel emporschießen, prosperierend, modern, zum anderen jedoch die alten verkommen‘. Letztere bezichtigt er als
„Schnapsnester. Kuppelbuden. Versiffte Löcher an der Aleje, darin fünfzehnjährige Prostituierte. Von ihren Stenzen werden sie kurzgehalten. Ich nenne sie Zahnärzte, denn die Mädchen kriegen regelmäßig ihre Vorderzähne per Faust entfernt.“ Leseprobe
Zwei Frauen verkörpern die Hauptrollen: Da ist zum einen jene erschöpfte und ewig putzende Frau Nastka, „... die nach Jahren unter Dauerbeschuss von Unglück und Schicksalsschlägen wie vierzig und achtzig zugleich aussieht“ Leseprobe, zum anderen die schöne und träge Regina, die, nicht weit von Suizid entfernt, die Absicht äußert, sich gleich in die Weichsel zu stürzen. Die eine wird von ihrem Mann wie ein Gegenstand behandelt, die andere geschlagen.
Harte Themen also, jedoch satirisch überzeichnet und immer wieder komisch, dabei mit Verve, erzählt. Und Bowie eignet sich prima als Art Pendant dazu, da er wie von einer anderen Galaxie in Erscheinung tritt und das Leben der Protagonisten gehörig durcheinanderbringt. So wird er von besagtem Polizisten als jener „Damenwürger“ verdächtigt, der einst ganz Warschau in Schach gehalten hatte, vom schriftstellernden Buchhändler wiederum mit dessen Erzfeind und erfolgreichen Autor Krempiński verwechselt.
Am Ende muss Bowie im Zuge einer irrwitzigen Hetzjagd aus Warschau flüchten. Wie es dazu gekommen ist und was das für den Einzelnen bedeutet, lesen Sie auf den letzten Seiten. Bis dahin jedoch mögen Sie jede Menge Unterhaltung mitnehmen, reines Lesevergnügen anhand bestechend scharfer Dialoge und manch überraschender Wendung, kurz, sich von der Schreiblust der Autorin – vom Übersetzer übrigens blendend transportiert – anstecken lassen.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag in
Hamburg
Unsere Liebe war älter als wir selbst. Kein Verbrechen, noch nicht einmal der Tod,
konnte ihr ein Ende setzen. Wir hießen Isis und Osiris, Zeus und Hera ...
Gudrun Hammer
©
erf
Die Wahrheit hinter den
Bildernas
Gudrun Hammer, Paul oder: Besuche in der Bilderkammer. Novelle, Dreiviertelhaus Verlag, Berlin 2023
Im Zentrum dieser so komplexen, vielschichtigen wie dichten Novelle mit Schauplatz Hamburg steht die Ich-Erzählerin und Protagonistin Johanna sowie die große Liebe ihres Lebens. Als Schulkind einst bezichtigt, von überschießender Fantasie zu sein, deshalb im Deutsch-Aufsatz nicht selten kläglich scheiternd, konnte dies ihre Liebe zu den Wörtern nicht trüben, die sie schließlich auch zum Beruf gemacht hat und als freie Lektorin arbeitet. Dort befähigt sie eben diese Fantasiebegabung, gepaart mit Empathie, in die fiktiven Welten ihrer Kunden einzutauchen, falsche Töne, mangelnde Erzähllogik oder überflüssigen Ballast darin aufzuspüren. Selbst schreibt sie nicht. Und das hat Gründe. „Ich hatte nur eine Geschichte zu erzählen, meine, nein unsere Geschichte, und von dieser Geschichte kannte ich nur die eine Hälfte. Bisher.“ Leseprobe
Alle lieben Paul. Die Ich-Erzählerin, ihre Mutter und ihre Schwester. Paul, Johannas Halbbruder und zwölf Jahre älter als sie. Als Baby hatte er sie gewickelt. Ihr den Weg zur Liebe zu den Wörtern und der Welt der Literaturen eröffnet, indem er sie im Familienkreis – als Schulkind, noch kaum des Lesens mächtig –auffordert, eine Passage aus Moby Dick zu lesen.
Es war ein voller Erfolg. In Blitzgeschwindigkeit reihte ich Silbe an Silbe, mein Fingerzeig wies mir den Weg von Zeile zu Zeile. Der Sinn, den das alles ergab, war mir egal. Ich versetzte mich selbst und meine stillen Zuhörer in einen Geschwindigkeitsrausch. Silben, die zu Wörtern wurden, Wörter, aus denen Sätze wurden, rasten von mir zu ihnen, vorgelesene Satzzeichen gaben ihnen Orientierung in einem atemlos vorgetragenen Text. ... Leseprobe
Die Liebe Johannas zu Paul schien festgeschrieben in ihrer beider Seelenplan. Allenfalls dazu angetan, die Liebenden dazu zu nötigen, sich auf eine Reise ins Innerste ihrer selbst zu begeben. Und wie Liebesgeschichten eigen – von glücklicher Liebe wird selten erzählt –, kommt es auch zwischen Johanna und Paul jäh zur Trennung, als Paul beschließt, zur See zu fahren. Gefolgt von der Nachricht seines Selbstmords im Japanischen Ozean.
Allein, Johanna weiß tief in ihrem Inneren, Paul lebt. Niemals würde er sich umbringen. Und 30 Jahre später, Johanna ist in ihren Fünfzigern, begegnet sie ihm wieder. Auf dem Friedhof anlässlich der Suche mit Freundin Verena nach dem Grab einer gemeinsamen Freundin, die sich das Leben genommen hatte. Da sieht sie ihn flüchtig, am Grab einer Frau stehen, Elena Mertens, geboren 1951, gestorben im Mai 2001. Dies genügt, ihn ausfindig zu machen. Er betreibt indessen ein Fotoatelier in Altona, gibt sich als Hans Schröder aus. Er kenne keinen Paul. Sämtliche Beweisstücke, die Johanna an ihn heranträgt, prallen an seiner Wirklichkeit ab.
Einmal führt er sie durch die Fotoausstellung in seinem Atelier, seitenlange Passage, geflutet von Erinnerungsbildern aus ihrer gemeinsamen Zeit. „So kam es, dass wir langsam von Bild zu
Bild gingen. Zwölf Farbfotografien, sechs an jeder Wand, allesamt im Querformat und gleich groß.“ Leseprobe Meist Stillleben. Und fast auf jedem Foto erkennt Johanna Details aus ihrem früheren gemeinsamen Leben. Andererseits wiederum wirkt eine der Fotografien wie vor langer Zeit gemalt, durchbrochen allenfalls von einem winzigen Detail, wie das unter einem dicken Buch verdeckte Handy, das diese Vorstellung konterkariert.
Das Ganze angelegt als Art Vexierspiel, in dem Erinnerungsbilder in rasantem Tempo sich kreuzen, überlagern, Gedankensplitter Fährten legen, die sich wieder verlaufen. Tote sich zu den Lebenden gesellen, Lebende wiederum ins Totenreich geladen scheinen, über ethisch-moralische Belange zu debattieren, ebenso wie die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit immer wieder verwischt. Wie überhaupt Wirklichkeit zunehmend als Konstrukt erscheint, wonach Wahrheit, Halbwahrheiten und Lügen in Anlehnung an Michel de Montaigne als ‚unbegrenztes Feld hunderttausender Spielarten‘ zu betrachten seien. Dabei verdichten und verschieben sich Bedeutungsebenen und Zeitlinien. Spiegelfiguren wie Johanna und Schriftstellerin und Selbstmörderin Katharina, aber auch die der fünfzehnjährigen Johanna und der jungen Frau im selben Alter im Dunstkreis von Paul alias Hans Schröder, die ihn offenkundig anhimmelt, verweben sich überdies in das engmaschige Beziehungsgeflecht. Der Leser wiederum kann sich dem von dieser Lektüre ausgehenden Sog schwerlich entziehen, legt das Büchlein, einmal begonnen, nicht mehr aus der Hand, bis es denn ausgelesen ist und ihn mit einem Rätsel zurücklässt. Wer war Paul?
„Die Wahrheit, das war seine Stimme, die eine, unverwechselbare Stimme ... Lüge, Wahrheit, was heißt das schon. Vielleicht glaubte er ja selbst, was er sagte, vermischte schon lange Wahres mit Erfundenem und konnte selbst irgendwann beides nicht mehr auseinanderhalten.“ Leseprobe
Das alles entscheidende Treffen von Johanna und Paul in der Traube kulminiert in einem fulminanten, zugleich unspektakulär daherkommenden Schluss der Novelle, so überraschend wie offen. Die Klaviatur der Kunst des Schreibens bespielt Hammer so virtuos wie souverän.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Dreiviertelhaus Verlag!
© Hartmut Fanger:
Von Schlangen, Zecken und Überflutungen – Wenn der Klimawandel nicht mehr aufzuhalten ist . Weltuntergangsszenario à la Boyle
T.C. Boyle: Blue Skies, aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren, Hanser Verlag, München 2023
Bereits vor 20 Jahren hat T.C. Boyle in seinem Roman „Ein Freund der Erde“ von einer Klimakatastrophe erzählt. Eine Warnung, die schon deswegen in seinem neusten Werk „Blue Skies“ an Brisanz nicht mehr zu übertreffen sein mag. Die hierin geschilderten Waldbrände in Kalifornien und Überschwemmungen in Florida basieren auf einem ganz realen Hintergrund. Ebenso der Sturm, den er einem Interview von NDR Kultur nach ebenso selbst erlebt hat und wobei in seiner unmittelbaren Nachbarschaft 23 Menschen gestorben sind.
Nichtsdestotrotz liest sich das Buch bei allem Ernst der Lage, vielerlei tragischen Elementen und einer grundlegend dystopischen Weltuntergangsstimmung in typischer T.C. Boyle-Manier streckenweise sogar heiter und vergnüglich. Dies liegt nicht zuletzt an den frappierend unbedarft bis naiv gezeichneten Protagonisten, die, jeweils in ihrer eigenen Blase und dementsprechenden Mustern gefangen, den Versuch unternehmen, sich mit den extremen Gegebenheiten zu arrangieren. Sei es Cat, die sich aus Langeweile heraus Schlangen kauft, ohne zu wissen, in was für eine Gefahr sie sich, ihren Lebenspartner und ihre Kinder bringt. Oder ihr Bruder, der ausgerechnet als Entomologe einen winzigen Zeckenbiss unterschätzt, weshalb ihm am Ende ein Unterarm abgenommen werden muss. Währenddessen geht es im Umfeld hoch her. So schildert T.C.Boyle so plastisch wie drastisch die Umweltzerstörung vor Ort – Artensterben, Missernten, Wasserknappheit. Von den zunehmenden Wetterkatastrophen ganz zu schweigen, sei es Hitze und Trockenheit in Kalifornien oder die nimmer enden wollenden Regengüsse in Florida inklusive gewaltiger Überflutungen. Dabei versteht es der Autor immer wieder, seine Leser in den Bann zu ziehen. So zum Beispiel mit der Schilderung eines Hurricans, der eine Hochzeitsfeier zunichte macht, oder der Moment, wo Cat kurz vor der Geburt ihrer Zwillinge steht, sich allein im Haus befindet, ihre Mutter, die einzige, die ihr noch helfen kann, während eines Tornados mit Flugzeug und Leihwagen zu ihr unterwegs ist. An Spannung kaum zu überbieten.
„Blue Skies“ ist Boyles 19. Roman und vielleicht nicht der ganz große Wurf – dementsprechend auch nicht zu vergleichen mit „América“, „Wassermusik“ oder „Drop City“. Dafür aber bietet er beste Unterhaltung und erzählt mit einer Dringlichkeit, dass es auch dem letzten Klimaleugner langsam einleuchten sollte, dass weit mehr als bisher dagegen gesteuert werden müsste.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Hanser Verlag in München
© Hartmut Fanger
Das eigene Leben als Stoff zum Schreiben
Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023
Seit 1959 findet sich alljährlich ein Autor/eine Autorin als Gastdozent/in an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main ein, um im Rahmen einer Vortragsreihe ein Semester lang Fragen über den Schaffensprozess und die Umstände literarischer Gegebenheiten zu erörtern. Betrachtet man die Liste der Vortragenden, so ist schnell klar, hier ist das Who is Who der deutschsprachigen Literatur vertreten – dementsprechend legendär indessen die Frankfurter Poetik-Vorlesungen, worunter besagte Reihe bekannt wurde. Von Ingeborg Bachmann bis Heinrich Böll, von Hans Magnus Enzensberger bis Martin Walser, von Elisabeth Borchers bis Julie Zeh und viele, viele mehr. 2022 hatte nun Judith Hermann die Ehre, woraus schließlich der vorliegende Band „Wir hätten uns alles gesagt“ entstanden ist.
Doch wer hier lediglich einen Sachtext über Literatur im Allgemeinen und das Schreiben im Besonderen erwartet hat, wird angenehm überrascht sein. So heißt es gleich zu Beginn: „Das Schreiben über das Schreiben ist offenbar und erwartungsgemäß eigentlich vermieden worden, stattdessen haben sich Menschen und Situationen aufgezeigt, die das Schreiben beeinflusst haben“. Und Judith Hermann versteht es im Zuge der Schilderung ihres Schaffensprozesses auch in diesem Band, weitere Geschichten – und zwar Geschichten aus ihrem Leben – zu erzählen.
Und so überrascht es auch nicht, dass der Stoff aus all ihren großen Erzählbänden ihr tatsächliches Leben zum Inhalt hat: „Ich schreibe über mich. Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht.“
Dabei lässt sie uns wissen, dass sie während ihrer Arbeit nie sicher sein kann, inwieweit das, was sie von sich erzählt, wenn sie autobiografisch schreibt, tatsächlich stattgefunden‘, was sie womöglich nur ‚geträumt‘ oder sich ‚nur ausgedacht hat‘, weshalb ihre Erinnerung sich, literarisiert, der Fiktion annähert, was wir schließlich wiederum unter dem Begriff Autofiktion verstehen. Autofiktionales Schreiben also das Stichwort. Nicht umsonst heißt es an einer Stelle: „Schreiben imitiert Leben, Verschwinden der Dinge, beständiges Zurückbleiben, Unscharfwerden, Erlöschen der Bilder.“
Spannend gleich zu Beginn die Geschichte mit ihrem Psychoanalytiker Dr. Dreehüs, dem sie eines späten Abends zufällig auf der Straße begegnet, weshalb sie wieder zu rauchen beginnt und sich von ihm in einer Kaschemme zu einem Gin Tonic einladen lässt. Und wie einer Analyse eigen, werden auch hier all die Erinnerungen wach, Erinnerungen an die Stunden, die sie bei ihrem Analytiker verbracht hat. So etwa an die Entstehung des 17 Erzählungen umfassenden Bandes, „Lettipark“ zur selben Zeit, den wir bereits im Februar 2018 (siehe Archiv) vorgestellt hatten und den sie am Ende Dr. Dreehuis zukommen lässt, ihrer langjährigen Freundin Ada hingegen verweigert. Eine weitere authentische Geschichte.
Die Psychoanalyse ist es schließlich auch, die bisher Verdrängtes und Traumatisches wachruft, was summa summarum natürlich eine Fülle weiterer lebensnaher Geschichten beinhaltet. Dabei spielen Träume, Fantasien, insbesondere Erlebnisse in der Kindheit eine eklatante Rolle. Wobei sich der Autorin die Frage stellt, inwieweit es für sie ‚quälend, harte Arbeit ist, so eine Geschichte zu schreiben‘, oder dies eher ‚beglückend, unterhaltsam‘ sein kann, „am Ende ein Geschenk.“
So erzählt Judith Hermann zum Beispiel die Geschichte von ihrem Vater, wie er sie als Kind mit zur Aufbahrung des geliebten Großvaters nimmt, ohne sie vorher auf irgendeine Weise darauf vorzubereiten. Zugleich fallen in diesem Zusammenhang die ‚Kratzer‘ an den Händen des Vaters auf. Dieser erzählt ihr, dass diese von dem Kuscheltier kämen, in das es sich nach dem Tod der ‚echten‘ Katze verwandelt hätte. Dass das Kind eine solche Fantasie nicht verstehen kann, liegt auf der Hand.
Oder das überdimensionale Puppenhaus, das er ihr gebaut hat, um davon zu erzählen, dass darin des Nachts ein seltsames Wesen haust, was dem Kind natürlich regelmäßig Angst einjagt und weshalb die Autorin sich heute noch beim Verfassen eines Textes darüber allein fühlt. Viele Anekdoten und Überraschungen folgen.
Und das alles in gewohnter Judith-Hermann-Qualität erzählt. Das hat sich seit „Sommerhaus später“ nicht verändert. Sensible Beobachtungen, sprachlich nuancenreich, knapp und vielstimmig umgesetzt. Es bedarf auch hier nur weniger Worte um für Kopfkino zu sorgen. Ein Kleinod in der Kunst der kurzen Form, der Kunst des Aus- und Weglassens.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem S. Fischer Verlag Frankfurt am Main
Buchtipp Mai 2023
© Hartmut Fanger
Einsamkeit ist meine Einzimmerwohnung, ich unter der Bettdecke, die mich ganz einhüllt. Sie ist unter demselben Himmel, zu dem ich während eines Spaziergangs hinaufstarre, ist das Gefühl der Entfremdung inmitten von Partygästen. Baek Sehee
Psychotherapie auf Koreanisch
Eine so heitere wie ernsthafte Auseinandersetzung mit
einer anhaltenden leichten Depression (Dysthymie )
Baek Sehee: Ich will sterben, aber Tteokbokki essen will ich auch, Rowohlt Verlag, Hamburg 2023
Vom Rowohlt Verlag als „Überraschungs-Bestseller aus Südkorea“ angekündigt, kommt diese Geschichte in Dialogform tatsächlich so ungewöhnlich, selbstironisch und witzig daher, wie es der Titel verspricht. Die 32 jährige Autorin Baek Sehee erzählt auf 230 Seiten aus der Perspektive einer nach außen hin erfolgreichen jungen Angestellten in der Social-Media-Abteilung eines großen Verlagshauses, an der innerlich jedoch jede Menge Selbstzweifel nagen, denen sie innerhalb von 12 Wochen im Rahmen von Gesprächen mit einem Psychologen auf die Spur kommen will.
Und da stellen sich für die Protagonistin eine Fülle an Fragen. Zum Beispiel, inwieweit sie eine Lügnerin ist, wenn sie ihre Selbstzweifel nicht zeigen kann. Wie es möglich ist, sich selbst besser kennenzulernen, oder was man dagegen unternehmen kann, wenn man sich unter ständiger Beobachtung wähnt, das Selbstwertgefühl fehlt, sich als Frau nicht besonders attraktiv fühlt. Eine grundsätzliche Generalüberholung der Seele scheint notwendig.
Auf die Frage des Therapeuten am Ende, inwieweit die Ich-Erzählerin aufgrund von ‚Vorurteilen und Normen vielleicht das eigentliche Ziel aus den Augen verloren haben könnte’, stellt diese fest, dass sie ‚sehr froh’ sei, ,Kreatives Schreiben studiert zu haben’. Und genau das bestätigt ihr dann auch der Therapeut. Es sei ‚egal, was andere sagen, wichtig sei, was gefällt und Freude mache’.
Dies und viele weitere Beispiele zeigen ein ganzes Stück Lebenshilfe auf. Es geht schließlich darum, ‚ein besseres Gespür für sich selbst zu entwickeln‘, sich darüber klar zu werden, was man wirklich will. Es komme weniger darauf an, sich damit zu beschäftigen, wie man auf andere wirke. Ebenso wenig wie offenbar auch der Verstand immer der beste Ratgeber sei, vielmehr solle man öfter auf sein Herz hören.
Ein Buch, das zugleich den enormen Leistungsdruck im Arbeitsleben spiegelt, dem die jüngere Generation heute ausgesetzt ist, die sich schwertut, im Auge zu behalten, dass bei allem Eifer die Seele nicht zu kurz kommen darf, es noch andere Werte gibt.
Psychologische Erkenntnisse und Reflektionen unterstützen den Hilfesuchenden dabei. Der Dialog, hier als Stilmittel eingesetzt, dient zugleich als Vehikel, das die Handlung vorantreibt, und wird durch kurze Abschnitte konterkariert, die sowohl kleinere Alltagssorgen wie die großen Fragen des Lebens reflektieren und sich auch jeweils im Titel der einzelnen Kapitel widerspiegeln, was dem Ganzen einen gewissen Charme verleiht.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag in Hamburg
© Hartmut Fanger
Glück und Leid im Alltag eines Autors
Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis, Hanser Verlag. München 2023
Dies jüngste Werk Arno Geigers ist eine wahrhaft beglückende Lektüre, zugleich Fundgrube für alle, die das Schreiben für sich als Medium erkannt haben, das eigene Leben aus einer erweiterten Perspektive heraus anders wahrzunehmen und neu zu bewerten, sowie als Möglichkeit, sein schöpferisches Potenzial zu verwirklichen. Werfen wir in „Das glückliche Geheimnis“ mit Geiger selbst einen Blick zurück auf seine vorausgegangenen Romane, „Es geht uns gut“, „Selbstporträt mit Flusspferd“, „Alles über Sally“ oder „Der alte König in seinem Exil“, lässt sich daraus durchaus eine Erfolgsgeschichte ablesen, aber auch, dass jeder Erfolg offenbar unweigerlich seinen Preis hat.
Auf 240 Seiten gewährt uns der Autor Einblick in die Entstehungsprozesse seiner Romane, in die diesen begleitenden Umstände sowie die Einsichten, die er dabei gewonnen hat. So zum Beispiel, inwieweit er eine Art Doppelleben geführt hat und Tag für Tag, vornehmlich zu Fuß oder per Rad, mehr oder weniger heimlich seine Runden drehte, um in Altpapiertonnen nach brauchbarem Material zu suchen. Darunter Briefe und Tagebuchaufzeichnungen. Im Zuge dessen bewahrheiten sich für ihn zusehends die Erkenntnisse seiner Vorbilder wie etwa Lew Tolstoi oder Ludwig Börne. So, dass Menschen, die für ‚den Hausgebrauch‘ schreiben, im Grunde das ‚einlösen’, was viele Schriftsteller vermissen lassen. Laut Börne sei in der Kunst
[s]ich unwissend zu machen ... die große Kunst. Denn an nichts herrsche größerer Mangel als an Büchern ohne Verstand. Das Geburtsland des Gedankens sei das Herz ... Nicht an Geist, an Charakter mangle es den meisten Schriftstellern und Schriftstellerinnen. Es fehle ihnen an Mut zur Ehrlichkeit, ihre Eitelkeit stehe ihnen im Weg ... Aufrichtigkeit sei die Quelle aller Genialität. Leseprobe
Dementsprechend trifft er bei seiner Suche auch auf so manches Buch, das er dann ‚anders als in gekauften Büchern, in freudiger Erregung liest’. Doch was, wenn er dort ein Buch von sich selbst findet ...?
Mit einfachen Worten, stichhaltig, plastisch, dabei gewürzt mit feinem Humor, zeichnet Geiger seinen Werdegang als Schriftsteller, von anfänglicher Erfolglosigkeit bis hin zum Autor, der binnen kurzer Zeit ‚fast halbmillionfach’ Bücher verkauft. Ein Erfolg, der sich, wie er selbst es ausdrückt, ‚wie durch den Kamin mit Poltern und Getöse’ einstellte. Denn schon bald ziehen die zahllosen Fernsehauftritte, Podiumsdiskussionen, Preisverleihungen und jede Menge Lesungen Zustände der Erschöpfung bis hin zum Burnout nach sich und zeugen davon, wie von dem Traum eines jeden Autors ein Alptraum werden kann. Dabei war es auch für Geiger wahrlich nicht immer einfach, seine Werke bei einem Verlag unterzubringen.
Und wie im richtigen Leben geht es im Werk Geigers auch um handfeste Beziehungen. So werden hier ebenso Geschichten von der Liebe erzählt. Von der Liebe zu seiner einstigen Freundin M., zur Geliebten O. und seiner heutigen Frau K., die, direkt oder indirekt, ihren Beitrag zu dem Erfolg seines Werks beigetragen, ihn unterstützt und ihm immer wieder den Rücken freigehalten haben.
Und natürlich kommen auch die uns allen anhaftenden Themen existentieller Herausforderungen zum Tragen. So anrührend wie erschütternd die Schilderungen von Krankheit und Tod, sei es von dem eines guten Freunds, sei es von Verwandten, wie der Schlaganfall seiner Mutter und die Demenzerkrankung des Vaters. Geiger zieht nicht zuletzt daraus die Erkenntnis, zu der schon der geschätzte verstorbene Freund gelangt war: „Das Leben ist eine Zumutung.“
Geiger kommt in diesem Buch der Wahrheit, zumindest seiner, sehr nahe, auch wenn für ihn klar ist, dass er ‚über das eigene Leben nur schreiben kann, indem er es verfälscht’. Für ihn gibt es dennoch keinen Unterschied, wenn er zum Beispiel seinen Vater beschreibt. Da ist er Sohn und Schriftsteller zugleich. Wie er überhaupt als Schreibender ‚mehr als nur Schriftsteller’, sondern zugleich ‚Lebensgefährte, Sohn, Künstler, Lumpensammler, Gauner, Bruder, guter und schlechter Freund, alles in einem sei’ – nach Ernie Ernaux und anderen ein weiteres Beispiel Autofiktionalen Schreibens, der Erforschung des eigenen Lebens geschuldet.
Eine nicht nur für die schreibende Zunft sowohl geistreiche, tiefgreifende als auch unterhaltsame Erzählung. Lichtblick in dunklen Zeiten! Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Hanser Verlag München
© Hartmut Fanger: Gefangen im Kosmos von Kiindheit & Jugend
Mircea Cărtărescu, Melancolia, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2022, Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner
Nach dem überaus erfolgreichen und zum Bestseller avancierten Roman „Solenoid“ sind von Mircea Cărtărescu nun auf 272 Seiten fünf Erzählungen erschienen, die zusammen genommen einen in sich geschlossenen Zyklus bilden. So fungiert die Erzählung „Der Tanz“ als Prolog, „Das Gefängnis“ wiederum als Epilog für die drei Erzählungen in dem mit „Melancolia“ betitelten Hauptteil. Und es ist die Einsamkeit, die sich darin hindurchzieht wie ein roter Faden.
Nicht zu unrecht wird der 1956 geborene Literaturdozent und Dichter gern mit Marcel Proust verglichen, der in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ mit Hilfe des Duftes der Madeleine – des durch Proust zur Berühmtheit erlangten Gebäcks – Vergangenheit so gegenwärtig wie lebendig werden lässt und für den ‚eine Stunde nicht eine Stunde ist, sondern ein mit Düften, mit Tönen, mit Plänen und Klimaten angefülltes Gefäß‘.Und so wird auch in Mircea Cărtărescus Erzählungen in sinnlicher Wahrnehmung Vergangenes gegenwärtig und eine von Einsamkeit geprägte Kindheit und Jugend authentisch vor Augen geführt. So können wir zum Beispiel in „Die Stege“ die Verlassenheit des Kindes im Zuge der Abwesenheit der Mutter gut nachvollziehen, seine von Angst beherrschte Vorstellungswelt, dass sie vom Einkaufen nicht mehr zurückkehren könnte. Unter dem Blick des Jungen wird die Umgebung lebendig: die billigen, ,schlampig lackierten Möbel’, das mit ‚hässlichen Nippesfiguren’ bestückte Bücherregal, der ‚vergilbte Vorhang’, der ‚schwarz vor Staub“ erstarrte Fensterrahmen. So ergreifend wie bildhaft wiederum führt der Autor vor Augen, wenn ‚die Luft kalt und verschwiegen’ ist, ‚das Licht auf den Abend hinwelkt‘, oder ‚die Stille das Kind mit all ihren Kräften drückt ...’
Beunruhigend wiederum die so märchenhaft wie fantastische Erzählung „Die Füchse“, mit denen der achtjährige Marcel und seine dreijährige Schwester Isabel in ihrer Fantasie spielen, was ihnen kurzfristig hilft, sich in eine heile Parallelwelt zu flüchten. Letztere wird eines Abends jedoch durch die mit einem Mal aufkommende Angst vor eben diesen Füchsen, Krankheit und Tod durchbrochen. Nicht von ungefähr vergeht der kleinen Isabel das Lachen, Angst beherrscht sie nun. Schließlich wird sie tatsächlich von einem Fuchs entführt, wobei es um Leben und Tod geht. Marcel bleibt keine Wahl. Um seine Schwester zu retten, muss er sich opfern. Die dem Fuchs eigene Einsamkeit wird dabei von Marcel übernommen.
In der Erzählung „Die Häute“ wiederum bewegt sich die pubertäre Hauptfigur Marcel, für den nichts auf der Welt einen Sinn hat’, .zwischen zwei Altern’, sprich Kindheit und Erwachsensein. Die dabei ihn peinigende Einsamkeit bringt ihn an den Rand des Selbstmords, wenn die Kindheit als ‚noch strahlend behaftet, mit jenem stumpfen Glanz der Seide, dem man auf manchen alten Gemälden begegnet’ beschrieben wird. Der Gymnasiast liest seine Lieblingsdichter und hält sich fern von der äußeren Welt, der er sich zunehmend entfremdet. Im vitalen Gegensatz dazu das wachsende Interesse am anderen Geschlecht. Und so wie es für ihn selbstverständlich erscheint, dass ein Mann alle paar Jahre seine Haut wechselt, stellt sich dem Heranwachsenden die Frage, inwieweit dies auch für Frauen gilt.
Empfehlenswerte Lektüre, die den Leser in eine von Kindheit und Jugend geprägte Welt entführt und mit Sinn für Poesie und Sprachkraft zu fesseln vermag. Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Zsolnay Verlag Wien
Buchtipp des Monats März 2023
© erf
Vom Verschieben der Zeit
Etel Adnan, Zeit. Gedichte, mit einem Nachwort von Klaudia Rutschkowski, Edition Nautilus, Hamburg 2021
„Schreiben stammt aus einem Dialog/mit der Zeit: es besteht/aus einem Spiegel, in dem das Denken/entblößt wird und sich/ nicht mehr erkennt“ Leseprobe – besagter Gedichtband in fünf Zeilen auf den Punkt gebracht, lyrische Zeichen aus Werden und Vergehen.
Anlass, die hier versammelten Poeme zu Papier zu bringen, war eine Postkarte, die Adnan am 27. Oktober 2003 von ihrem langjährigen Freund, dem tunesischen Dichter Khaled Najar, erhielt. Ihre Antwort erfolgte umgehend und ist hier in der ersten von sechs Sequenzen unter dem Titel „27. Oktober 2003“ nachzulesen. Insgesamt 13 Jahre steht sie im Zuge der Arbeit an dem Gedichtband im Austausch mit dem Dichterfreund. 2016 schließt sie ihn unter dem Titel „Baalbek“ ab – für Adnan mit seinen Tempeln und Ruinen ein mythischer Ort und Provinzhauptstadt im Libanon. Zusammen mit der New Yorker Dichterin und Künstlerin Sarah Riggs überträgt sie ihn aus dem Französischen ins Englische und wird 2020 dafür mit dem Griffin Poetry Prize, dem weltweit höchst dotierten Lyrikpreis, ausgezeichnet.
Die freien Verse fließen, einem reißerischen (Bewusstseins-) Strom gleich, in ein nicht definierbares Offenes, das die Grenzen unserer in Vorgaben und Konventionen gefangenen Wahrnehmungsmuster außer Kraft setzt: „in virtueller Klarheit und virtuellem Raum/vom Göttlichen heimgesucht, singen die Vögel vor/Ohren der Kerzen den Schmerz des Lebens,/denn Glück ist unerträglich ...“ Lesesprobe Zugleich ziehen sich Trauer und Schmerz angesichts der Vergeblichkeit menschlichen Strebens, der Diskrepanz zwischen Schönheit und enthusiastischer Feier des Lebens, der Liebe und der Allgegenwärtigkeit von Tod, Gewalt und Zerstörung wie eine Blutspur durch den gesamten Gedichtband. Dies gemahnt an Walter Benjamins „Angelus Novus“, einem Gemälde von Paul Klee, von Benjamin als Denkbild unter dem Titel „Engel der Geschichte“ ausgewiesen, mit rückwärtigem Blick auf die Geschichte des Menschen, einer einzigen Katastrophe, wo Trümmer auf Trümmer sich häuften.
„ich liebe den Regen, wenn er/mich wie ein Fluss/umfängt. mich in die Wolken verpflanzt./ich teile das Eigentum/des Himmels. ich wachse/wie ein Baum ...“ Lesesprobe Die unverbrüchliche Liebe zur Erde und ihrer schöpferischen Energie – Adnans Mutter lehrte sie das Brot zu küssen und sich bei der Erde, die uns trägt, zu bedanken – wird konterkariert durch das Unvermögen des Menschen, dies Gut als seine Lebensgrundlage entsprechend wertzuschätzen, es vielmehr in rasanter Manier zunehmender Zerstörung preiszugeben.
„Sterne verlöschen/alle paar Sekunden; die Zeit,/die Information braucht, um/Welten zu durchqueren ...“ Zeit, linear und chronologisch als Strukturprinzip, erweist sich bei Adnan gleichwohl als vergebliche Kategorie, „wenn wir schreiben, können wir nicht/singen, wenn wir schlafen, können wir/nicht leben//Erinnerung ist die meiste Zeit/für nichts gut: die Hotels, in denen ich wartete,/sind verschwunden ...“ Leseprobe Halt- und rastlos scheint der Mensch seiner Existenz ausgesetzt, Ambivalenz und Zerrissenheit erweisen sich als Kehrseite der menschlichen Ordnungen. Und so taumeln wir als Spezies offenbar auf eine Art Nullpunkt zu, kurz davor, uns selbst auszulöschen, – „sieh deine Brüder im Fernsehen/sterben, und rühr dich nicht ...“ Leseprobe , oder aber, wie es die Verse Adnans nahelegen mögen, unser Bewusstsein in eine andere Dimension, eine Dimension kosmischen Ausmaßes, zu transzendieren: „sie sind in einer neuen Welt,/wenn auch ohne Ausgang ...“ Leseprobe
Eben dies leistet die Lyrik Adnans, in der sich hinter vordergründigem Chaos und Zerstörungswut Liebe und Zugewandtheit zum Menschen, zur Welt, zur Natur, dem Meer und den Bergen, und zur Kunst Bahn brechen, die Zeit sich auflöst in ein ewiges Sein und kosmisches Bewusstsein, das zu erlangen uns aufgetragen sein mag. „verlass deine Kindheit nicht und ihren/Kummer. der erste Wunsch wird dich bis zum letzten/Atemzug begleiten. Straßen führen/zu Erleuchtungen, aber nie zum Frieden/des Herzens“ Leseprobe
Ebenso wenig vordergründig vermitteln sich im lyrischen Gestus Adnans Hoffnung oder Trost, als sich vielmehr in ihrer Sprache eine Leuchtkraft manifestiert, die auf etwas Größeres, uns als Spezies jedoch Innewohnendes verweist, das erst noch einzulösen wäre. Adnan erweist sich damit als große Visionärin, ihrer Zeit voraus.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl
Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt der Edition Nautilus, Hamburg
© erf: SCHREIBEN OHNE GELÄNDER
Die Gefangenschaft ist das menschliche Los.
Machen wir uns nichts vor.
Etel Adnan in „Paris, Paris” [Prosawerk]
Die Poesie erfasst das Unsagbare und lässt es ungesagt.
Etel Adnan in „Die See” [Gross-Poem]
Etel Adnan: Sturm ohne Wind. Gedichte – Prosa – Essays – Gespräche, herausgegeben von Hanna Mittelstädt und Klaudia Ruschkowski, mit einem
Nachwort von Klaudia Ruschkowski, Edition Nautilus, Hamburg 2019
Schreiben ohne Geländer‘ möchte man dem literarischen Werk Etel Adnans, Malerin, Philosophin und Dichterin, in Anverwandlung von Hannah Arendts
Diktum „Denken ohne Geländer“ bescheinigen – Arendts Metapher für wahrhaft freies Denken. Einer inneren Freiheit, die sich nicht zuletzt Adnans Wurzeln in
unterschiedlichen Kulturen verdanken mag. Geboren 1925 in Beirut († 2021, Paris), war sie das einzige Kind einer griechischen Mutter und eines syrischen Offiziers. Während in der Familie türkisch
und griechisch,
ansonsten arabisch gesprochen wurde, war die Sprache auf dem
katholischen Gymnasium wiederum französisch. In vielem „unfreiwillig Pionierin“, wie sie von sich selbst sagt, zählte sie zu den ersten jungen Frauen in Beirut, die
das Haus verließen, um zu studieren und zu arbeiten. 1949 erlaubte ihr ein Stipendium, ein Philosophiestudium abzuschließen, auf dem sie 1955 an der Harvard University, Berkley, aufbaute, um
danach an
verschiedenen US-amerikanischen Colleges zu unterrichten. 1972 kehrte sie nach Beirut zurück, arbeitete dort als Redakteurin, bis der Bürgerkrieg 1978 sie erneut zwang, das Land zu verlassen und nach Paris zurückzukehren, um fortan zwischen Paris und Sausalito, ihrem Wohnsitz in Kalifornien, USA, zu pendeln. In Adnans gesamtem Schaffen, durchdrungen von philosophischem Gedankengut ebenso wie vom Blick der Malerin auf die Welt, die Natur, ihrer Beschäftigung mit kosmischen Dimensionen, dem Blick der Dichterin und Literatin, scheinen sich die Grenzen der Wahrnehmung beständig zu verschieben. Nichts bei Adnan ist statisch, vielmehr in stetiger Bewegung begriffen. Und ein solcher Blick auf die sich uns bietenden komplexen Wirklichkeiten scheint umso mehr dazu angetan, an den Gitterstäben des in der Präambel konstatierten ‚menschlichen Loses der Gefangenschaft‘ zu rütteln, um die damit einhergehende Begrenztheit unserer Wahrnehmungsfähigkeit zu transzendieren. Eben dies ist das Verdienst von Adnans Werk, das unter die Oberfläche ins Herzzentrum unserer Existenz zielt, dabei um all das kreist, was uns im Innersten bewegt, wie Liebe und Schmerz, Wandel und Stille, Tod und Vergeblichkeit und Gott – aufgehoben in einem Alleins, das wir erahnen, zu dem wir aber nicht ohne Weiteres Zugang haben mögen. Die Schriften der Mystiker etwa zeugen von dieser „fundamentalen Einheit Liebe“ Leseprobe, auf die sich auch Adnan beruft:
„Aber was ist die Liebe? Und was geben wir auf, wenn wir sie aufgeben? Liebe lässt sich nicht beschreiben, man muss sie leben. Wir können sie leugnen, aber wir erkennen sie, wenn sie uns ergreift. Wenn etwas in uns sich unser Ich unterwirft. Gefangener seiner selbst, das ist der Liebende. Ein seltsames Fieber. Und es muss nicht unbedingt ein menschliches Wesen sein, das die Liebe hervorruft. Ein Sonderfall. Ja.“ Leseprobe
Es ist das Verdienst der Herausgeberinnen, der Verlegerin und Gründerin der Edition Nautilus, Übersetzerin und Autorin Hanna Mittelstädt, sowie ihrer Mitstreiterin Klaudia Rutschkowski, gleichfalls Autorin und Übersetzerin, aber auch Dramaturgin und Kuratorin, uns mit Sturm ohne Wind einen veritablen Querschnitt des literarischen Schaffens ebenso wie des (auto)biografischen Hintergrunds Adnans präsentiert zu haben. Dem herausragenden Nachwort Klaudia Rutschkowskis, exzellente Kennerin des gesamten Schaffens Adnans, wiederum verdankt sich die tiefe Einsicht in deren Werk und differenzierte Erhellung der darin enthaltenen poetisch-essayistischen Textvielfalt. So bemerkenswert wie immer wieder überraschend die einheitliche Sicht auf die Dinge des Lebens. Das Politische und das Private wie Betrachtungen der Natur sind darin ebenso präsent wie das scheinbar Banale, das sich bei näherer Betrachtung genauso gut als einzigartig erweisen kann. Um dies adäquat zur Sprache zu bringen, bedient sich Adnan souverän des poetischen Verfahrens des Stream of Consciousness in mimetischer Anverwandlung des Lebensflusses selbst, mal in ruhigerem Fahrwasser, des Öfteren aber in reißerischer Manier. In all ihren Ausführungen erweist sich Adnan als leidenschaftliche Anwältin für das Leben und entschiedene Gegnerin des Kriegs, was ihren Äußerungen dazu schmerzliche Aktualität verleiht:
„In der Dichte der Nacht fällt ein Engel herab, zum Zeugnis von Krieg, Verwirrung und Leid. (...) Die Brise erklimmt die Hügel, und der Krieg kehrt auf die Titelseite zurück.“ Leseprobe
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl.
Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt der Edition Nautilus, Hamburg
© Hartmut Fanger: Spannend und geheimnisvoll - klösterlich geistreich ...:
Thomas Hürlimann: „Der Rote Diamant“
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022
Mit „Der Rote Diamant“ bewegt sich der Schweizer Autor Thomas Hürlimann, ausgezeichnet unter anderen mit dem Joseph-Breitbach-Preis, auf den Spuren namhafter Kollege wie Hermann Hesse und dessen Roman „Unterm Rad“ oder Umberto Ecos „Im Namen der Rose“. Hier, im Kloster „Maria zum Schnee“, weit ab, hoch in den Schweizer Bergen, schneit es nahezu das ganze Jahr.
Doch wer glaubt, dass Hürlimann sich mit diesem Werk hinter seinen namhaften Vorgängern zu verstecken hätte, wird im Zuge dieser Lektüre allerdings eines Besseren belehrt. Mit seiner Fabulierkunst, dem ihm eigenen Tiefsinn, gepaart mit feinsinnigem Humor, versteht Hürlimann es nicht nur, seine Leser zu packen, sondern auch bestens zu unterhalten. Und so schwebt über all den regiden, bis ins Detail vor Augen geführten Maßnahmen und Abläufen des Mönchslebens im Kloster das offene Geheimnis um einen sagenumwobenen Roten Diamanten. Ein immens wertvoller Edelstein, den in der Phantasie der Bewohner bereits Cleopatra besessen haben sollte. Später soll er der Krone der Habsburger entnommen und seit dem Zusammenbruch der österreichischen Monarchie im Jahr 1918 hier versteckt worden sein. Jeder vor Ort spricht darüber, doch keiner weiß wirklich, inwieweit es ihn überhaupt gibt und wo er sich, wenn ja, befindet.
Arthur Goldau, Hürlimanns elfjähriger Held und Klosterschüler, begibt sich nun auf die Spur und begegnet in all den düstereren Kabinetten klösterlicher Enge so manch skurriler Figur. So etwa dem einstigen, noch im ersten Weltkrieg geborenen Schlachtergesellen, Bruder Frieder, der einst als SA-Anwärter unter den Nazis Karriere machen wollte, stolz darauf, die braune Uniform zu tragen. Oder dem jungen Viper, dessen Spitzname sich seiner zischelnder Aussprache von S- und Z-Lauten verdankt. Der wiederum ist schlau genug ist, sich nicht an allen klösterlichen Ritualen zu beteiligen. Und er kennt sich erstaunlich gut aus in den verschachtelten Räumen und Gängen ebenso wie er natürlich auch von besagtem Diamanten weiß. Doch das begehrte Objekt findet sich nicht so leicht. Arthur und Viper beschließen deshalb, sich gemeinsam auf die Suche zu begeben, heimlich, versteht sich. Wie die Insassen in dem Kloster überhaupt Heimlichkeiten nachgehen. Alles, was verboten ist, bietet Anlass und reizt. Und so wundert es auch nicht, dass Arthur Goldau von einem Mädchen in die Liebe eingeführt wird, die Mönche unter der Bettdecke „Jerry Cotton“ Romane lesen, aus selbstgebauten Radioempfängern eines Tages Bob Dylans „The Times They’re Changing“ dröhnt und Arthur für den spektakulären Stones Song „I Can Get No Satisfaction“ schwärmt. Leicht zu erkennen, befinden wir uns als Leser in den sechziger Jahren, die alte Zeit ist am Untergehen, und auf vielen Ebenen beginnt etwas Neues. Ein Zeitenumbruch, der es in sich hat, was wir ebenso der Lektüre des Romans zuschreiben wollen!
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem S. Fischer Verlag
© Hartmut Fanger
Großer Geist im kleinen Nest – Von Schlegel bis Goethe – Wie Jena zum Zentrum der Romantik wurde.
Andrea Wulf: Fabelhafte Rebellen – Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich, aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn, C. Bertelsmann-Verlag, München 2022
Erfahren Sie, wie Jena zum Zentrum der Romantik wurde, und lassen Sie sich von Andrea Wulfs Streifzug durch die Welt der umtriebigen jungen Romantiker, einer leuchtenden Phase voller Aufbruchsenergie, verzaubern. Vor der Folie der Französischen Revolution erleben wir so plastisch wie detailliert namhafte Schriftsteller, Philosophen und Dichter besagter Zeit und machen uns mit deren gesellschaftspolitisch umstürzlerischem Gedankengut vertraut. Gemeint sind in erster Linie die Gebrüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel sowie Caroline Schlegel, aber auch Fichte, Novalis und deren Ziehväter Goethe und Schiller und viele mehr.
Dabei versteht es Wulf, den Leser mitten in die Jenaer „Romantiker-Szene“, wie wir heute sagen würden, und deren ‚wildes Treiben‘, als das es in der Jenaer Gesellschaft wahrgenommen wurde, hineinzuziehen. Und dies auf 525 Seiten mit einem über 100 Seiten umfassenden Anmerkungsapparat, Literatur- und Stichwortverzeichnis, teils farbigen Abbildungen und Karten. Obschon wissenschaftlich fundiert, ist das Ganze gut les- und nachvollziehbar!
So wird der Leser mit auf die Reise in eine andere Zeit, in eine andere Welt genommen, eine Welt der Kleinstaaten und absoluten Herrscher, in der es wahrlich schwer gewesen ist, das eigene Ich – postuliert vornehmlich von dem Philosophen Johann Gottlieb Fichte –zu entdecken und sich gegen jede Art von Obrigkeit und Willkür zu behaupten, die bei Verstoß in der Regel zu Zensur, ja gar Gefängnisaufenthalt führte. Allein in Jena scheint es ein wenig anders gewesen zu sein, denn nur dort soll es laut Schiller etwas mehr Freiheiten gegeben haben. Dies mag sich nicht zuletzt der Tatsache verdanken, dass es dort bereits seit dem 16. Jahrhundert eine Universität gegeben hat, die nach Wulf von vier sächsischen Herzögen kontrolliert wurde, von denen ‚keiner tatsächlich das Sagen hatte’, was den Professoren entsprechend Spielraum erlaubte.
Anderswo war es sehr viel strenger. Insbesondere Caroline Schlegel, geborene Böhmer, konnte ein Lied davon singen. Als Befürworterin der Revolution, unverheiratet und schwanger in der Festung Königstein inhaftiert, galt sie erst im Zuge der Heirat mit August Wilhelm Schlegel wieder als gesellschaftsfähig. Spannend und mit Verve, wie in einem Roman, erzählt Wulf die außergewöhnliche Geschichte von Caroline Schlegel und kristallisiert dabei plastisch die Rolle der Frau in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts heraus. Denn Caroline Schlegel war es auch, die entscheidend bei der bis heute gültigen Übersetzung ihres Mannes der Werke Shakespeares mitwirkte. Doch verfasste sie obendrein eigene literarische Texte. Allerdings blieb sie dabei, wie im Übrigen die meisten ihrer schreibenden Zeitgenossinnen, anonym oder deren Texte erschienen unter männlichem Namen. Frauen hatten in der Literatur kaum Rechte ebenso wenig wie im richtigen Leben, sollten sich allenfalls, amtlich verfügt, um die Familie kümmern.
Was für eine Zeit des Aufbruchs, alte Strukturen lösten sich auf und ein gewaltiger Wissensdurst brach sich wiederum Bahn. Es entstand eine Bewegung, in der die Jugend und als einzige Ausnahme der schon leicht betagte Goethe als ‚Gott’ gefeiert wurde. Schiller hingegen geriet mitunter in Konflikt mit Mitgliedern der Bewegung. So zum Beispiel mit Friedrich Schlegel, der dessen Zeitschrift, „Die Horen“, ‚als verstaubt‘ attackierte. In Berlin gab er schließlich unter dem Namen „Athenäum“ ein eigenes revolutionäres Blatt heraus, das neben einer umfangreichen Besprechung von Goethes „Wilhelm Meister“ vornehmlich von Novalis als „Blüthenstaub bezeichnete Fragmente enthielt, die einem neuen Genre entsprachen, was wiederum ebenso eine „Revolution der Worte“ beinhaltete. Doch war es auch der Beginn der napoleonischen Kriege, deren Gefahr zunächst unterschätzt wurde.
Dem Leser fällt es letztendlich nicht leicht, von der Lektüre zu lassen, bietet sie doch eine Fülle teils spektakulärer Informationen, die einerseits ein lebendiges Bild des späten 18. Jahrhunderts vor Augen führen, andererseits jede Menge überraschender Momente enthalten, die angesichts der oft skandalösen Verhältnisse nicht selten der Komik entbehren, uns ein Lächeln entlocken oder den Atem anhalten lassen. Am besten, man liest das Buch gleich ein zweites Mal!
Doch lesen Sie selbst lesen Sie wohl!
Für das Rezensionsexemplar bedanken wir uns herzlich beim C. Bertelsmann Verlag.
© Hartmut Fanger:
KORRUPTION IN KASACHSTAN
Norris von Schirach: Beutezeit,
Penguin Verlag, München 2022
Der Folgeroman seines überaus erfolgreichen Debuts „Blasse Helden“ von Norris von Schirach alias Arhur Isarin spielt im Brennpunkt der Ereignisse am Kaspischen Meer mitten in Zentralasien, sprich Kasachstan. Temporeich, brisant und nicht ohne überraschende Momente, die unter die Haut gehen. Das Ringen der Supermächte Russland und China mit dem Westen um Bodenschätze und Macht liest sich von Grund auf packend. Und wie schon in ‚Blasse Helden’ taucht der Autor auch hier tief in die Psychologie eines mehr oder weniger zerrütteten Landes im Umbruch ein. Und Schirach weiß, wovon er schreibt. Schließlich hat er Kasachstan Mitte der 90er Jahre mehrfach bereist. In einem Interview äußerte er sich über die seiner Meinung nach ‚irrwitzige Korruption’ und permanente ‚Regierungskriminalität.’ Stoff genug, um daraus einen so ereignisreichen wie spannenden Roman zu machen. Dabei kommen nicht zuletzt die starken Kontraste eines Landes zum Tragen, in dem sich nach Solschenizyn der wohl größte Gulag der einstigen UDSSR befunden haben soll. Schlimmer noch: die über einhundert oberirdischen Atomtests. Das Ganze vor dem Hintergrund so krimineller wie reicher Clans und einer verarmten Bevölkerung. Nichtsdestotrotz soll gerade dort das Leben pulsieren, zumal in der Hauptstadt Almaty.
Eben dies bildet – wie auf einer Großleinwand – die Folie einer auf weite Strecken hin atemberaubenden Handlung. So erhält der Anfang vierzigjährige, wohlhabende deutsche Protagonist Anton, der mit der Machtübernahme Putins im Jahre 2000 gerade erst aus Russland geflohen war, eines Tages den Auftrag, in besagtem Kasachstan einen Stahlkonzern aufzuziehen. Helfen tun ihm drei Frauen: Anwältin Mira, die Chinesin Xenia und die aus Usbekistan stammenden Alisha. Dabei macht das ungleiche Team von Beginn an einschlägige Erfahrungen mit besagten Clans, die nach dem Ende der Sowjetunion ihre Vormachtstellung und erbeuteten Ländereien ohne Skrupel und in aller Härte verteidigen. Erschwert wird das Unternehmen zu allem hin im Zuge der Katastrophe von Nineeleven. Bezeichnend, dass sich seitdem zwar an dem Sumpf von Korruption nichts verändert, Gewalt allenfalls noch zugenommen hat. So erfährt Anton von einem ihm noch aus Sowjetzeiten bekannten Banker, dass es die Amerikaner sind, ‚die Druck aufbauen, und er froh sei, dass er keine saudischen Klienten hätte’. Andererseits tätigt man weiterhin Geschäfte mit Russland, etabliert Briefkastenfirmen und fälscht Frachtdokumente. Dabei handelt es sich am Ende um Summen, für die „sich die Gründung einer eigenen Bank in Liechtenstein“ lohnen würde.
Ein durchweg lesenswerter Roman, der in dunklen Novemberstunden spannende Unterhaltung brisanten Inhalts und Action bietet. Zugleich bringt er uns jedoch auch eine ferne, auf den ersten Blick exotisch anmutenden Region nahe. Auf den zweiten Blick wiederum erscheint Letztere in Anbetracht hautnaher Schilderung harter Wirklichkeiten im Zuge von Globalisierung und Internet recht nah. Desillusionierend nicht nur für Romantiker, wie von Hauptfigur Anton verkörpert. Am Ende wird dem Leser tiefer Einblick in ein bis dato weitgehend fremdes Land im weltpolitischen Kontext gewährt, und das nicht zuletzt im Hinblick auf das Russland Putins.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl
Für das Rezensionsexemplar danken wir dem Penguin Verlag herzlich!
© Hartmut Fanger
So märchenhaft wie brisant: Der neue Öko-Roman
Ulla Hahn: Tage in Vitopia, Penguin Verlag, München 2022
Angesichts all der Bedrängnisse, die derzeit unseren Alltag beschweren, kommt das neueste Werk von Ulla Hahn, nicht zuletzt im Hinblick auf die Klimakrise, gerade zur rechten Zeit. Der 249 Seiten umfassende Roman entwirft eine Zukunftsperspektive und macht Mut! Dabei unterscheidet er sich wesentlich von den früheren, autobiographischen Romanen der Autorin. Man erinnere sich nur an die von Erfolg gekrönten Spiel der Zeit, Das verborgene Wort oder Wir werden erwartet. Tage in Vitopia hingegen – erzählt aus der Perspektive der Eichhörnchen Wendelin Kretschnuss und Muzzli, geborene Coco von Hazelpusch – wäre eher dem Genre „Öko-Märchen“, in weiterem Sinne dem Begriff „Nature Writing“ zuzuordnen.
Ulla Hahn fesselt vom ersten Satz an, entfacht die Neugier des Lesers. Dabei geht es um nichts weniger, als die Welt zu retten. Denn die Eichhörnchen haben erkannt, was so manchem Erdenbürger noch nicht eingeleuchtet hat: Der Mensch selbst ist es, der gerade dabei ist, den Planeten Erde um seine Existenz zu bringen, insofern befinden sich sämtliche Lebewesen in der derselben bedrohlichen Lage.
Die Schilderung der Naturzerstörung im Hambacher Forst auf einem Kongress im fiktiven Land Vitopia, an dem geistreiche Lebewesen, sowohl aus vergangenen wie gegenwärtigen Zeiten, teilnehmen, bringt dies hier sehr genau auf den Punkt. So erläutern es etwa, jeweils aus ihrer Sicht, der Evolutionstheoretiker Charles Darwin aus dem 19. Jahrhundert oder auch der renommierte Wissenschaftler und in diesem Jahr verstorbene Naturschützer James Lovelock sowie Vertreter etlicher Tierarten. Gemeinsam wollen sie für ein friedliches und gerechtes Miteinander sorgen. Nicht zuletzt übrigens in Kooperation mit der ‚neuen Weltbewegung’ „Fridays for Future“.
Und wie in den vorhergehenden Romanen Hahns erfüllt auch hier das Gedicht seine spezifische Funktion. Zum einen finden sich dort zahlreiche Verse, zum anderen wird dem Eichhörnchen das Schreiben von Gedichten nahegebracht, was gewiss nicht nur manchem Leser, der selber gerne Gedichte schreibt, Vergnügen bereitet. Wie es überhaupt immer wieder um das Schreiben geht. Nicht umsonst heißt ein Kapitel zum Beispiel „Charles Darwin liebt Gedichte und seinen Großvater“, ein anderes, in Anlehnung an Goethes Autobiographie, „Dichtung und Wahrheit“.
Von der Lyrik nicht weit entfernt die Musik, die ebenfalls ihren Stellenwert in dem Roman einnimmt. Tage in Vitopia, voller melodischer Anklänge, sind angereichert mit Zitaten der schönsten Lieder unseres Kulturkreises – etwa Franz Schuberts „Forellen-Quintett“, Beethovens „Ode an die Freude“, Louis Armstrongs „What a wonderful World“ oder Bob Dylans, „The Times, they’re achanging“, der nach Ulla Hahn bzw. Wendelin Kretschnuss ‚mit Friedrich Schiller den Stein ins Rollen bringt’. Dementsprechend auch Kapitelüberschriften wie „Auf dem Klingstein-Berg“ und „Abstieg vom Klingstein-Berg“. Unterstützt von besagten Gedichten, Liedern und Hymnen, schwingt und klingt er in seinem eigenen Rhythmus. Nicht zuletzt verweist es auf den ganzheitlichen Impetus des Romans, wenn neben dem berühmten ‚Geh aus mein Herz und suche Freud“ von Paul Gerhardt, der ‚Hymnus an die Mutter Erde’ aus dem ‚Atharva Veda’ oder das fünfzeilige japanische ‚Tanka’ zitiert und erläutert wird.
Ein Buch, das trotz aller Bedrohungsszenarien positiv in die Zukunft weist. („Wir schaffen das!“) Und nicht von ungefähr wird im letzten Drittel mit den Worten „Freuet euch!“ dazu aufgefordert‚ ‚den Dichtern zu vertrauen’. Dazu das treffende Zitat aus der „Patmos“ Hymne Friedrich Hölderlins: „Wo aber Gefahr ist, wächst/Das Rettende auch“, Worte, die Trost spenden und in Anbetracht der bevorstehenden dunklen Tage Licht hineinbringen mögen.
Denken wir ruhig schon jetzt an Weihnachten. Tage in Vitopia ist jedenfalls ein Buch, dass auf jeden Gabentisch gehört!
Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein
Rezensionsexemplar gilt dem Penguin Verlag!
Buchtipp des Monats
September 2022
© Hartmut Fanger
Starke Frauen in einem schwachen Sozial- und Bildungssystem
Giulia Caminito: Das Wasser des Sees ist niemals süß, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2022
Mit dem 320 Seiten umfassenden Adoleszenz-Roman „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ ist der vornehmlich in Italien bekannten Schriftstellerin Giulia Caminito auf Anhieb ein Bestseller gelungen. In über zwanzig Sprachen übersetzt, wird er demnächst in zahlreichen weiteren Ländern, wie u.a. Griechenland und Japan erscheinen.
Vielfach ausgezeichnet erzählt der dritte Roman der Autorin von den Hindernissen ihrer Generation, am sozialem Aufstieg zu partizipieren, sowie der zunehmender Radikalisierung der Protagonistin im Zuge dessen Ein Roman von erzählerischer Wucht, den man, einmal zu lesen begonnen, nicht mehr aus der Hand legt. Ebenso wenig wie man die Protagonistin und Ich-Erzählerin so schnell wieder vergisst. Zwar wächst sie an der Peripherie Roms auf, hat aber ‚das Zentrum nie gesehen‘. Weder das Kolosseum noch die Sixtinische Kapelle, von Vatikan oder Villa Borghese ganz zu schweigen. Aus ärmsten Verhältnissen stammend, radikalisiert sie sich zunehmend, was ihr durchaus dienlich ist, sich in der Schule und später als Doktorandin an der Universität durchzusetzen.
Arm sein heißt hier nicht, sich in die Opferrolle zu be- und am Ende angesichts der fatalen gesellschaftspolitischen Vorgaben aufzugeben. Im Gegenteil, macht die Protagonistin ihrem aus der griechischen Mythologie entlehnten Namen „Gaia“ alle Ehre, gilt dieser doch als Bezeichnung der Erde als erster Gottheit und wird zugleich als „Die Gebärende“ gedeutet. Damit wird überdies auf die herausstechenden weiblichen Aspekte der Protagonistinnen, Mutter und Tochter, verwiesen, die über charakterliche Stärke und Selbstbewusstsein ebenso verfügen wie einen rebellischen, unbeugsamen Geist. So etwa, wenn sich die Mutter, als Anwältin verkleidet, aus dem Wohnungsamt so lange nicht fortbewegt, bis sie von den Sicherheitsleuten unter Anwendung von Gewalt hinausgeworfen wird. Die Tochter, zugleich Ich-Erzählerin, wiederum zertrümmert einem Mitschüler, der sie unentwegt mobbt und ihren Tennisschläger kaputt macht, das Knie. Besagter Tennisschläger gewinnt umso mehr an Bedeutung, wenn wir erfahren, welche Entbehrungen Gaias Familia auf sich genommen hat, ihr diesen zu finanzieren. Die Mutter als Putzkraft tätig, der Vater Invalide, hausen sie mit fünf Personen in einer zwanzig Quadratmeter Kellerwohnung, die Zwillingskinder schlafen in Pappkartons ...
Spannend zu allem hin das Verhältnis zwischen Gaia und ihrer angesichts der Verhältnisse schon zwangsläufig pragmatischen Mutter, die Gaia kaum erträgt, und die sie dennoch, wo es nur geht, unterstützt. An einer Stelle heißt es, dass Gaia ‚über sie richtet und ihr nicht vergibt.“ Markant erweist sich die Hassliebe zwischen Mutter und Tochter, indem Erstere den 18. Geburtstag ihrer Tochter in dem Fitnessstudio ausrichtet, in dem sie putzt. Das Ganze endet dann auch in einem Debakel. Das von der Mutter ausgesuchte Kleid, Schuhe und Frisur kommen bei Gaia nicht gut an, der Vater, der das Haus ewig schon nicht verlassen hat, erleidet in seinem Rollstuhl auf dem Weg dorthin Angstattacke auf Angstattacke.
Deutlich wird, wie schwer es ist, über den eigenen Tellerrand zu schauen, zumal wenn der Alltag sich als ständiger Existenzkampf gestaltet. So ist für die Analyse, was die Politik bewirkt und den unzulänglichen sozialen Rahmen, den sie liefert, kaum Raum, geschweige denn für entsprechendes Engagement. Eine treffende Metapher hierzu bildet der Moment, wo der Hubschrauber über dem See abstürzt, dies jedoch keinen interessiert.
Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für das uns freundlicherweise überlassene
Rezensionsexemplar gilt dem Klaus Wagenbach
Verlag!
Buchtipp des Monats August 2022 - September
© erf:
Zwischen Selbstreflektion und Klage
Josefine Klougart: New forest, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2022 (Kopenhagen 2016), aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle.
Dies so opulente wie umfangreiche Werk – über 500 Seiten – aus der Feder der gefeierten dänischen Autorin verfehlt auch diesmal nicht den Sog, mit dem sie schon die Leser:innen ihres ersten, ins Deutsche übersetzten Romans, Einer von uns schläft (2019) , in den Bann zog. Dies mag sich nicht zuletzt dem Facettenreichtum ihres Wahrnehmungsspektrums verdanken. Neben ihren literarischen Ambitionen ist Klougart in der Musik ebenso zuhause wie in der Malerei, was offenbar einen immensen Reichtum in der Rezeption all dessen befördert, was der Erzähl-Stimme im wahrsten Sinne des Wortes zustößt.
Überdies fungiert immer auch die Natur als Folie des Erzählens, was zusätzlich seine Magie ausmacht.
Im Übrigen folgt Klougart keiner Chronologie, als sie uns vielmehr nach Art des Stream of Consciouness assoziativ in Erinnerungsbilder eintauchen lässt. Ebenso wenig, wie sie durchgehend an einer Erzählperspektive festhält, so kippt die Ich-Stimme bisweilen durchaus in die Distanz wahrende dritte Person. Anlass der Erkundung des eigenen Innenraums ist eine gescheiterte Beziehung, wonach sich die Protagonistin allein mit ihrem Hund aufs Land zurückzieht. Steht zunächst das qualvoll gezeichnete Ende der Beziehung zu dem einstigen Lebensgefährten im Zentrum ihrer Selbsterforschung, münden des Weiteren ihre Gedanken zunehmend in die Welt ihrer Kindheit und Jugend. Dabei kommt die konfliktive Beziehung zu ihren Eltern ebenso zur Sprache wie das von Eifersucht geprägte Verhältnis zu der Schwester. Im Grunde wird das gesamte bisherige Leben auf den Prüfstand gestellt, Wünsche, Träume, nicht zuletzt die Reisen der Protagonistin, stehen Letztere doch für Aufbruch und Weitung des Blicks, worum es in diesem Art Prosa-Poem, getragen von Sprachrhythmus und Wortklang, vornehmlich geht. So streifen wir mit ihr ihre Heimat Jütland, die norwegischen Lofoten, stranden schließlich im griechischen Thira. Am Ende ist es der New Forest, Südengland, in dem Kindheitserinnerungen gespeichert sind.
Traumwandlerisch anmutend, werden hier Abschied und Tod, Trauer und Verlust, Scham auch, poetisch durchdekliniert und in ein funkelndes, bisweilen mit schwarzen Diamanten bestücktes Textgewebe gewandelt. Und doch sei, bei aller Sprachvirtuosität, bei allem Wohlklang, der dem Text eingewoben ist, der Einwand erlaubt: Weniger wäre auch hier mehr gewesen, wie oben erwähnt, immerhin über 500 Seiten ohne Anhaltspunkte im Rahmen eines Handlungsstrangs. Nichtsdestotrotz – ein in schillernden Bildern dahinfließender Erzählfluss, gespeist von Farben und Licht, mal vom Entzücken über Naturschönheit, mal von Melancholie getragen, angesichts letztendlich der Vergeblichkeit menschlichen Strebens. Ein Diskurs, der den Leser, der sich darauf einlässt, selbst auf langer Strecke zu tragen vermag.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Martthes & Seitz Verlag!
Buchtipp des Monats August 2022
© Hartmut Fanger
Geburtenstarke Jahrgänge in der BRD – Sind wir noch zu retten?
Thomas E. Schmidt: Grosse Erwartungen. Die Boomer, die Bundesrepublik und ich, Rowohlt Verlag, Hamburg 2022
In dem autobiographischen Essay gelingt es Thomas E. Schmidt, seines Zeichens Autor, Publizist und Kulturkorrespondent der Wochenzeitschrift DIE ZEIT, als Zeitzeuge auf 265 Seiten in 12 Kapiteln die wesentlichen Aspekte besagter geburtenstarker Generation vor Augen zuführen. Sprachlich versiert, lesenswert und facettenreich.
Als Zugehöriger derselben sorgt der Autor nicht zuletzt mit der Einführung des ‚Ichs’ sowie des ‚Wir’ für eine besondere Nähe zu den Ereignissen. Von historischen Gegebenheiten, wie etwa dem Leben in den Ruinen des Zweiten Weltkrieges, gefolgt von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder, bis hin zur Wiedererlangung der Deutschen Einheit und Gegenwart. So erlebte er in den Sechzigern und Siebzigern die zunehmende Politisierung in Schule und Universität, wo laut Schmidt „der real existierende Neomarxismus ...Anlass zu weiterführenden intellektuellen und politischen Suchbewegungen [gab].“ Aus der Frankfurter Schule mit Horkheimer und Adorno ging schließlich die Apo hervor, und entgegen deren geistige Väter war Revolte angesagt, die im sogenannten „Establishment“ nicht zuletzt Debatten über die Länge der Haare entfachte, worunter auch der Ich-Erzähler zu leiden hatte. Aus den USA nahmen seit den Sechzigern Literaturen der Beat-Generation wie Jack Kerouac, Allen Ginsberg, William S. Burroughs, um nur einige zu nennen, ihren Einfluss. Hesses Steppenwolf avancierte, ähnlich wie Adornos einst im amerikanischen Exil verfasstes Minima Moralia – Reflexionen aus dem beschädigten Leben, diesseits und jenseits des großen Teichs jeweils zum Kultbuch. Auf der politischen Bühne wiederum ging mit dem Kniefall von Warschau der Stern Willy Brandts auf. Andererseits hielt die zunehmende Gewaltbereitschaft der RAF die Nation ebenso in Atem wie die Musik von „Velvet Underground“.
Doch wie erklärt sich dann später, in den Neunzigern und während der Anfänge des 21. Jahrhunderts, das Verhältnis besagter Geburtengänge zu dem ehemaligen Kanzler und Putin-Freund Gerhard Schröder, dem Schmidt ein ganzes Kapitel widmet. Wobei er originelle Titulierungen und Vergleiche nicht scheut, etwa wenn er Schröder in den 90ern als „Soul Foot für die Seele“ („endlich kein Vater mehr“) bezeichnet und ihn zur Zeit, als dieser noch Ministerpräsident in Niedersachen war, als ‚machtbewussten Herzog in der Provinz, ein Buckingham, den Heinrich VIII mit Argwohn beobachtete und ihn am liebsten aufs Schafott geschickt hätte’ darstellt. Für viele entsprach Schröder laut Schmidt „womöglich wirklich dem Typus des Halbstarken aus unserer Kindheit, und dass etwas Raues, Widerborstiges, Plebejisches in die Politik einzog ... “
Kritiker von Schröders Politik, vornehmlich der von ihm ins Leben gerufenen Agenda 2010, danach seiner Rolle als Wirtschaftslobbyist russischer Gaskonzerne, nicht zuletzt der Freundschaft zu Putin, zumal seit dem Ukraine-Krieg, vermag dies Kern-Kapitel wenig zu überzeugen. Hinzu kommt der nicht wirklich glückliche Genre-Mix zwischen den romanhaften Zügen des Werks, gepaart mit essayistischen Anteilen.
Nichtsdestotrotz eine den Zeitgeist treffende und allein schon von daher empfehlenswerte Lektüre. Zugleich so kenntnisreiches wie farbiges Dokument einer Epoche, in dem sich so mancher wiederfinden dürfte. Darin eine Fülle von Anregungen, die zur Diskussion einladen. Ein streitbares Buch. Nicht zuletzt im Hinblick darauf, dass besagte Generation mit ihrem Verschleiß an Ressourcen künftigen Generationen ein schweres Erbe hinterlassen hat.
Doch lesen Sie selbst. lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag in Hamburg
Buchtipp des Monats Juli 2022
© Hartmut Fanger
Von Verlust und kleinen Fluchten
Helen Frances Paris: Das Fundbüro der verlorenen Träume, Übersetzung aus dem Englischen von Sophie Zeitz-Ventur, dtv, München 2022
Dieses Roman-Debut von Helen Frances Paris – einstige Professorin für Theaterwissenschaften an der Stanford University in Kalifornien, britische Autorin und Leiterin des Londoner Theater Curious, überdies preisgekrönte Lyrikerin – ist ein richtiges Sommerbuch voller Leichtigkeit und Zauber – nicht ohne Tiefgang.
So überzeugt die Hauptfigur und Ich-Erzählerin Dorothea, genannt Dot, durch ihre Empathie und Mitmenschlichkeit. Hintergrund des Romans bilden der
unwiederbringliche Verlust des geliebten Vaters, das Gefühl von Verrat und Schuld sowie das Nachlassen des Gedächtnisses der schwer an Demenz
erkrankten Mutter, von der verhassten Schwester einmal ganz abgesehen, weshalb sich die Protagonistin in den Kammern des Fundbüros, dem sie vorsteht, förmlich vergräbt. Von hier aus hat sie
genügend Spielraum, kann sie wirken, kann für Ordnung sorgen und so manchem Geheimnis nachgehen. Zugleich ist es für sie aber auch ein Prozess der Selbstfindung.
Letzteres bildet schließlich auch das tragende Element des 368 Seiten umfassenden Werks. Nicht von ungefähr verliert sich die Ich-Erzählerin in den Katakomben besagten Fundbüros, übernachtet dort heimlich und verstößt gegen all die ihr auferlegten Regeln, indem sie die verlorengegangenen Gegenstände für sich selbst beansprucht. So betrinkt sie sich mit einem im öffentlichen Verkehrsmittel vergessenen Absinth, ernährt sich aus den dort abgestellten Dosen mit Pflaumen und Obstsalat, veranstaltet für sich allein eine kleine Modenschau, indem sie die feinsäuberlich archivierten Kleidungsstücke probiert. Begleitet vom Sound der Bee Gees und deren ‚Stayin’ Alive’, entflieht sie so der als unerträglich empfundenen Realität. Alles scheint indessen in Auflösung begriffen, das Haus der Mutter soll zu allem hin verkauft werden.
Umso anrührender, wie sich Dorothea um die verlorenen Dinge kümmert – „Rucksäcke, Schals, Regenmäntel, Brillen, Bücher, das Hochzeitskleid, der Waschbeutel“ Leseprobe: „Alles verloren, verlassen, vergessen. Aber das ist nicht so schlimm, denn ich bin ja da, verteile Anhänger, kümmere mich um sie.“ Leseprobe Darüber hinaus hervorzuheben sind die detailgenauen Schilderungen der Gegenstände, wenn die Autorin zum Beispiel die hölzernen Griffe der archivierten Schirme beschreibt und das, was ihre Protagonistin damit in Verbindung bringt. So heißt es an einer Stelle, dass diese bunten Schirme Dorothea „an einen Schwarm tropischer Waldvögel mit exotischem Gefieder“ erinnern, „Violett, Smaragd, Saphir, Türkis“ Leseprobe, an „einen Rotnacken-Topas, einen rotschnäbligen Wimpelschwanz, einen saltoschlagenden Rubinkehlkolibri“ Leseprobe, was im wahrsten Sinne des Wortes Farbe hineinbringt. Wie in den Augen der Protagonistin überhaupt ‚all die im Neonschein leuchtenden vergessenen Dinge lebendig werden’:
„»Heute seid ihr nicht verloren und allein«, verkündet sie mit ausgebreiteten Armen. »Ich adoptiere jede fröstelnde Socke, jedes zurückgelassene Buch und jeden lieben Pullover. Ich nehme euch unter meine Fittiche.« Alles um mich herum pulsiert vor Lebendigkeit.“ Leseprobe
Ihr geheimes Leben im Fundbüro geht bis zu dem Moment gut, wo sie von ihrem Vorgesetzten sexuell belästigt und aufgrund ihrer Verweigerung gekündigt wird. Von nun an scheint sie auf verlorenen Posten. Doch eine Angelegenheit will sie noch regeln. Es geht um eine honigbraune Reisetasche, die sie mit dem detektivischen Feingespür eines Sherlock Holmes und dessen Dr. Watson ihrem Besitzer zurückbringen will. Doch bis es so weit ist, gilt es noch so manches Abenteuer zu bestehen.
Schwerlich kann man sich dem Zauber des Buches, dem dort zur Sprache gebrachten schillernden Ambiente und der Liebenswürdigkeit der Protagonistin von der ersten Seite an bis zum Schluss entziehen.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Deutschen Taschenbuch Verlag dtv Archiv
Buchtipp des Monats Juli 2022
© erf
En la Tarde de la Vida te examinarán en el Amor
Am Abend des Lebens wirst du in der Liebe geprüft
Juan de la Cruz (1542-1591), spanischer Mystiker
Von einem, der auszog, sich kennenzulernen
Emmanuel Carrère: Yoga, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2022 (Paris 2020), aus dem Französischen von Claudia Hamm
Emmanuel Carrère, schillernde Figur im französischen Literaturbetrieb, ist als unermüdlich Sinnsuchender spirituellen Pfaden auf der Spur, wobei er als autofiktionaler Autor in der Tradition einer Annie Ernaux die Leser unmittelbar an seinen Erfahrungen teilhaben lässt. So etwa in „Das Reich Gottes“ (Berlin 2016, frz. „Le Royome“, Paris 2014), wo er den Wurzeln christlicher Spiritualität nachspürt. Seit Jahren meditierend, und überzeugt von diesem Weg der Selbstfindung, hat er 2015 vor, darüber ein feines kleines Büchlein zu schreiben, und besucht eigens dazu ein zehntägiges Schweige-Retreat in einem Meditationszentrum, um in vollständiger Isolation, abgeschnitten von der Außenwelt, an einem Vipassana-Kurs, einer besonders strengen Form der Meditation, teilzunehmen, wo es darum geht, ‚die Dinge zu sehen, wie sie sind‘. Doch statt eines schmalen Büchleins, ist daraus ein 341 Seiten starker Roman geworden, zwar gleichwohl über Yoga, darüber hinaus wird darin jedoch die Geschichte einer schweren existenziellen Krise des Autors erzählt. Auslöser war die jäh in besagtem Retreat ihn ereilende Nachricht über die Ermordung eines Freundes bei dem Attentat auf Charlie Hebdo, zu dessen Trauerfeier er einen Beitrag beisteuern sollte. Doch nicht nur das, hat sich offenbar auch seine Frau von ihm scheiden lassen, was jedoch insofern als Leerstelle in das Buch einfließt, als diese ihn vertraglich dazu verpflichtet hat, sie nicht als literarische Figur in seinen Texten zu verwenden. Im Zuge all dessen erleidet der Ich-Erzähler eine Bipolar-Störung und wird in deren Folge mit einem Zusammenbruch in die Pariser Nervenklinik Sainte-Anne eingeliefert, wo er vier Monate verbringen soll und, selbstmordgefährdet, mit Elektroschocks behandelt wird.
Danach will er sich in seinem Haus auf einer der griechischen Inseln erholen. Als auf der Nachbarinsel Leros syrische Flüchtlinge eintreffen, engagiert er sich dort, indem er Geflüchtete unterrichtet, wobei sich sein persönliches Leid mit dem der auf Leros Gestrandeten allein schon insofern heilsam überlagert, als man in solidarischer Manier gemeinsam konkrete erste Schritte in ein lebenswertes Leben tut.
Abschließend würdigt Carrère in liebevollem Angedenken seinen langjährigen Verleger und Freund Paul Otchakovsky-Laurens († 2018), einen Literatur Verliebten, der, als ein Zufall ihm offenbart, dass Carrère sein gesamtes Werk mit dem rechten Zeigefinger getippt hat, der Erheiterung und des Erstaunens darüber nicht müde wird. Im Übrigen geht es um den Prozess der Realisierung des Buchprojekts Yoga, das sich so ganz anders entwickelt hat, als ursprünglich geplant. Gespickt mit manch existenzieller Erkenntnis, wie etwa „Niemand konnte sich in meine Liebe betten, und auch ich werde mich in niemandes Liebe betten können“.Leseprobe
Die Stärke des Textes, der durch seine Aufrichtigkeit bis zur Schmerzgrenze besticht, besteht nicht zuletzt in der Distanz des Autors zu sich selbst, die es ihm erlaubt, sich einer so präzisen wie ausdifferenzierten Selbstanalyse zu unterziehen, mit Sinn für Selbstironie und Humor. Überdies ist sein Erzählfluss von einem brennenden, quicklebendigen Erkenntnisinteresse inspiriert, das den Leser mitreißt. Carrère weiß, wovon er schreibt. Sei es im Hinblick auf Yoga, Meditation, spirituelle Belange überhaupt, sei es im Hinblick auf das Leiden an der eigenen Person, das schließlich im Zentrum der Auseinandersetzung mit sich, dem Leben, der Liebe und, last but not least, dem Schreiben steht. ies immer vor dem Hintergrund der ursprünglich von Pythagoras gestellten Frage „Wozu ist der Mensch auf Erden“, der diese einst lapidar mit ‚um den Himmel zu betrachten‘ beantwortete.
Carrères Freund und spiritueller Wegbegleiter seit Jahrzehnten, Hervé Clerc – wie er Journalist und Buchautor –, ist wiederum von dem Gedanken beseelt, dass es um mehr, nämlich darum gehe, einen Ausweg aus dem irdischen Schlammassel zu finden, man sich dabei nur an die von Vorbildern erstellten ‚Landkarten‘ halten müsse, die dies schon vor uns erforscht hätten, wie „Platon, Buddha, Meister Eckhart, Teresa von Ávila oder Patanjali*“ Leseprobe. Bereits in drei Büchern ist Clerk indessen der Frage nachgegangen, „was die Mystiker über jene letzte Wirklichkeit gesagt haben, die lange mit einem Decknamen bezeichnet wurde, der uns nicht mehr so recht zusagt: Gott“ Leseprobe. Carrère widerspricht dem Freund nicht, bleibt aber, im Gegensatz zu diesem, der von einer möglichen Lösung der augenscheinlichen Aporien der Conditio humana ausgeht, skeptisch. Und man fragt sich angesichts des Zusammenbruchs, den er erleidet, ob ihm diese Skepsis, die sich nicht zuletzt seiner hohen intellektuellen Kapazität verdanken mag, alles zu hinterfragen, zugleich auch zum Verhängnis geworden ist.
Insgesamt versteht es Carrère vielleicht wie kein anderer, eine unwiderstehliche Intimität zwischen Autor und Leser herzustellen, so etwa auch, wenn er gegen Schluss, in Anverwandlung eines russischen Abschiedsrituals, kundtut:
„Ich würde (...) mich [gern] von diesem Buch verabschieden und uns viel Glück wünschen, ihm, mir und dir, lieber Leser. Sobald die letzte Seite umgeschlagen sein wird, was nicht mehr lange dauern kann, könnten wir uns eine Minute lang miteinander hinsetzen. Die Augen schließen, schweigen, ein Weilchen still sein. (...)“ Leseprobe
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
* Indischer Gelehrter und Verfasser des Yogasutra, klassischer Leitfaden des Yoga, weshalb er als „Vater des Yoga“ gilt. Soll zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert vor Chr. gelebt haben. Quelle: Wikipedia
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verlag Matthes & Seitz Archiv
Buchtipp des Monats Juni 2022
© Hartmut Fanger
Kinderverschickung auf Italienisch
Viola Ardone: „Ein Zug voller Hoffnung“ in der Übersetzung aus dem Italienischen von Esther Hansen, Bertelsmann Verlag, München 2022
Die 1974 in Neapel geborene Autorin Viola Ardone hat mit ihrem Roman „Il treno di bambini“ in Italien bereits vor zwei Jahren für eine kleine Sensation gesorgt und es mit über 200.000 verkauften Exemplaren bis ganz nach oben in die Bestsellerlisten geschafft. Inzwischen ist er in 30 Ländern erschienen. Dank dem Bertelsmann Verlag ist das von Esther Hansen exzellent übersetzte Werk unter dem Titel „Ein Zug voller Hoffnung“ nun auch deutschen Lesern zugängig.
Auf so anrührende wie teils humorvolle Weise erzählt die Autorin auf 284 Buchseiten von einer Initiative der politisch Linken in
Italien, die es unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglicht hatte, Kinder für ein knappes Jahr aus dem Elend der verarmten südlichen Regionen zu befreien und mit dem Zug in den Norden zu
schaffen, um sie dort bei wohlhabenden Familien unterzubringen.
Anhand der Hauptfigur, dem siebenjährigen Amerigo Speranza, wird deutlich, wie wenig Chancen ein Kind in Italien im Jahr 1946 hatte, das in Armut aufwuchs, und was für Möglichkeiten sich eröffnen können, wenn gute Ernährung selbstverständlich und man materiell gut gestellt ist. Unumstößliche Tatsache, die bis heute ihr Gültigkeit nicht verloren hat. So blieben die Talente Amerigos, wie etwa ein Hang zu Zahlen und Mathematik, seinen Gönnern nicht verborgen. Wie er überhaupt auf vielen Ebenen gefördert und zum Beispiel auch an ein Musikinstrument wie die Geige herangeführt wurde. Faktoren, an die im Süden, wo es um das nackte Überleben ging, nicht zu denken war. Nach seiner Rückkehr unterschlägt die Mutter die an ihn gerichteten Briefe und die geliebte Geige ist eines Tages einfach verschwunden. In einem Akt kindlicher Selbstermächtigung haut er schließlich ab zu seinen Gönnern im Norden und macht fortan von dort aus seinen Weg.
Was wohl, stellt sich am Ende Amerigo die Frage, wäre aus ihm geworden, wenn er die Erfahrung im Norden nicht gemacht hätte. Vielleicht hätte er den Beruf des Schusters ergriffen. Denn für Schuhe hatte er sich von früh an interessiert, zumal er stets die seiner Vorgänger auftragen musste, die ihm folglich nicht passten, die drückten und schmerzten. Ein Schmerz, der ihm selbst noch nach über vierzig Jahren in Erinnerung ist, als er seinen Heimatort besucht.
Last but not least ein Buch, das nicht nur im Hinblick auf Konfliktkonstruktion und Figurenzeichnung, sondern auch aufgrund seiner sprachlichen Qualitäten ein pures Lesevergnügen ist. So wird zum Beispiel gekonnt mit Hilfe von Auslassungen ein Erzählfluss von enormer Dichte erzielt, dem man sich kaum entziehen kann. Behutsam wiederum die Einstreuung historischer, den Krieg betreffender Fakten. So geht es immer wieder um den Kampf gegen die nationalsozialistischen Deutschen, um Partisanen und Gefallene. Rundum ein lebenspralles Stück Literatur, das voll und ganz zu Herzen geht.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Archiv
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Bertelsmann Verlag
Zählt im Leben denn nur, was wir bekommen? Zählt nicht
unsere Sehnsucht, zählen nicht unsere Träume? Julia Holbe
Buchtipp April 2022
© Hartmut Fanger
Was zählt im Leben
Julia Holbe: „BOY MEETS GIRL“
Penguin Verlag, München 2022
Nach ihrem erfolgreichen Debut „Unsere glücklichen Jahre“ ist mit „boy meets girl“ bei Penguin nun ein weiterer vielversprechender Roman von Julia Holbe erschienen Auf über 283 Seiten erzählt die Autorin die Geschichte einer großen Sehnsucht sowie der Suche nach erfüllter Zweisamkeit, die die Protagonistin, Ich-Erzählerin und verheiratete Paartherapeutin Nora umtreibt. In Begriff, sich von ihrem untreuen Mann Paul zu trennen, sieht sie auch in einer Liaison mit ihrem ehemaligen Englischlehrer Gregory keine große Zukunft. Der einzige, den sie wirklich und von tiefstem Herzen liebt, ist ihr alter Freund Jann. Doch Letzterer steckt in einer festen Beziehung ...
Eine Misere. Zumal beide – augenscheinlich ‚nur’ gute Freunde – nicht wirklich voneinander loskommen, sich immer wieder über den Weg laufen. Stets kommt dabei der Zufall zur Hilfe. Beliebtes Instrument, die Handlung voranzutreiben, eine Geschichte mit einer überraschenden Wendung zu versehen, um den Leser in Schach zu halten, was Julia Holbe hier meisterhaft versteht. So begegnen sich die Figuren gleich zu Beginn nach vielen Jahren rein zufällig im Supermarkt wieder. Ein andermal zusammen mit den jeweiligen Partnern auf dem Weg zum Kino, was zu einem gemeinsamen Essen und – nicht ohne Humor – zu einer Fülle an Komplikationen führt. Wie das Ganze überhaupt spannend und unterhaltsam erzählt ist. Wobei stets die Frage im Raum schwebt, inwieweit sich die Liebe der Protagonistin zu ihrem Freund Jann doch noch erfüllen mag.
Kern- und Schlüsselsatz des Romans bildet zugleich der Titel „boy meets girl“, ‚Anfang aller zu erzählenden Geschichten‘ überhaupt, wie es gleich zu Beginn, aber auch gegen Ende des Romans heißt. So äußerte sich zumindest der berühmte US-amerikanische Filmemacher Alfred Hitchcock gegenüber seinem französischen Kollegen Francois Truffaut. Was sich schon insofern bestens mit dem Plot vermittelt, als seitens der ausgesprochen kinoaffinen Hauptfigur über den gesamten Roman verteilt von zahlreichen Filmklassikern die Rede ist. Eine Vorliebe, die sie mit dem von ihr begehrten Jann teilt.
Sehr gelungen überdies die Schilderung der Aufenthalte in dem kleinen, nicht weiter benannten und vom inneren Konflikt Noras beherrschten Ort am Meer. Letztendlich wünscht sich die Protagonistin eine Beziehung, die bis ins Alter anhält, was in den Figuren ihrer Eltern ein Spiegelung erfährt. So erschreckend wie anrührend die Passagen, wo die Demenz des Vaters immer deutlicher zutage tritt, die Mutter eine Herzoperation zu überstehen hat, wodurch das Ganze an Tiefe hinzugewinnt.
Alles in allem mit der feingesponnenen Handlung und den sympathischen Charakteren ein vielversprechendes Lesevergnügen.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem PENGUIN Verlag!
© Erna R. Fanger
Die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft ist nur ein hartnäckiger Eindruck. Albert Einstein
Von innen heraus erzählt
Jon Fosse: Ich ist ein anderer. Heptalogie III-V* Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022
In Ich ist ein anderer erzählt der vielfach ausgezeichnete Theaterautor und Romancier Jon Fosse in Anverwandlung des rimbaudschen Diktums von der Möglichkeit seines Ich-Erzählers Asle, zugleich er selbst sowie ein anderer zu sein. Aber die Identität des Ich-Erzählers schwankt nicht nur zwischen ihm und seinem Alter-Ego, das wie er Maler ist, jedoch im Gegensatz zu ihm erfolglos und dem Alkohol verfallen. Ein gefährdetes Alter-Ego, um das er sich kümmern, dem er beistehen muss. Schwankend ist gleichwohl die Identität des Asle der fiktiven Gegenwart und des Asle in der Erinnerung an das Kind und den Jugendlichen, wo er von sich in der dritten Person erzählt. Nicht zuletzt legt der Name seiner verstorbenen Frau Asel nahe, dass auch sie als Spiegelfigur angelegt ist, indem nur das L, statt hinter dem E, vor dem E platziert werden müsste, und ihr Name und der des Ich-Erzählers wären identisch. Sie ist es auch gewesen, die ihn veranlasst hat, zum Katholizismus zu konvertieren. Letzteres triff im Übrigen nicht nur auf den Ich-Erzähler zu, sondern auch auf den Autor selbst. Und so, wie sich unablässig Identitäten, Subjekt- und Objektebenen verschieben, sich gegenseitig aufzuheben scheinen und dann unverhofft die Richtung wechseln, überlagern sich gleichwohl die unterschiedlichen Zeitebenen. Fiktive Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft fließen übergangslos ineinander, bilden ein bewegtes Kontinuum jenseits der Chronologie der Ereignisse. Daraus erwächst ein Erzählstrom, in dem sich überdies die norwegische Landschaft mit einschreibt, in der der Ich-Erzähler aufgewachsen ist. Weitläufig, spärlich besiedelt – grandiose Kulisse einer mächtigen, verschneiten Bergwelt. Gleichwohl scheint wiederum den Erzähl-Rhythmus – nicht weniger mächtig im Kommen und Gehen seines Wellengangs – das Meer vorzugeben. Raum- und Zeitkontinuum fließen so unablässig ineinander. Die Chronologie der Zeit entbehrt jedweden Ziels, scheint somit aufgehoben. Ereignisse, Betrachtungen erfolgen scheinbar zusammenhanglos nebeneinander, versehen mit Rückgriffen auf Vergangenes, alles auf derselben semantischen Ebene. Desgleichen changieren die sichtbare und die unsichtbare Welt sowie das Diesseits mit seinen realen Figuren, mit denen der Ich-Erzähler in Verbindung steht, wie der Nachbar und Bauer Åsleik oder Galerist Beyer, der regelmäßig seine Bilder ausstellt, und das Jenseits, wo der Ich-Erzähler, umgeben von Engeln, mit seiner verstorbenen Frau im Gespräch ist, die er schmerzlich vermisst. Der Leser wiederum gerät so in den Sog einer Dynamik beredter Stille, in der spürbar die norwegische Landschaft den Erzählfluss mitbestimmt.
Jon Fosse erzählt radikal von innen her, wo eine Vielfalt an Sphären sich beständig kreuzen, sich berühren, um wieder auseinanderzudriften. Wirklichkeit kreiert sich beständig neu, um wieder verworfen zu werden. Die äußere Welt mit ihren politischen und gesellschaftlichen Aporien scheint von diesem radikalen Innenraum des Erzählens mit seinen Wiederholungsstrukturen und gezielt eingesetzten Redundanzen ausgeblendet. Grell im Focus hingegen einzig und allein das Individuum in seiner Vulnerabilität angesichts des Dramas des Menschseins zwischen Geburt und Tod, Schicksal, dem es ohnmächtig ausgeliefert scheint. Der Ich-Erzähler ein alternder Mann, seelisch angeschlagen im Zuge des Verlusts seiner Frau und so konfrontiert mit einer fragilen Existenz, mit der er nicht zurechtkommt. Ein Mensch in seiner Pein, in seiner Not. Ein Mensch in seiner Angst. Nach Heilung fahndend und Heil findend in der Zuflucht zur Religion, in der Zuflucht zum Gebet, woran er zwar zweifelt, was ihm letzten Endes jedoch hilft.
Alles in allem eine komplexe Reflexion über Zeit und Raum, Sein und Identität, Religion, Heil und Heilung. Ein Buch über das Getrenntsein des Menschen von Gott und seine Bestrebungen, über das Medium der Kunst wieder zu einer Einheit mit ihn zu gelangen, ein fortlaufender Erzählfluss ohne Punkt ...
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
*Etwas irritierend, besteht die Heptalogie zwar aus sieben Teilen, die jedoch auf drei Bände verteilt sind, wovon der vorliegende der zweite mit Teil III-V besagter Heptalogie ist.
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag, Hamburg
Buchtipp Februar 2022
© Hartmut Fanger
Rettet die Hühner
Deb Olin Unferth: „Happy Green Family“
Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2022, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Barbara Schaden
Die US-amerikanische Autorin, ehemalige Sandinista in Nicaragua und Preisträgerin zahlreicher literarischer Auszeichnungen, Deb Olin Unferth, hat einen Roman vorgelegt, der nicht nur vielen Tierschützern aus dem Herzen sprechen wird, sondern auch den Verbraucher zum Nachdenken anregt, sein Konsumverhalten – spätestens beim Frühstücksei – zu überdenken. Es geht um die riesigen Hühnerfarmen in dem US-amerikanischen Bundesstaat Iowa, wo die Tiere unter unvorstellbar grausamen Umständen eingepfercht sind. Dabei versteht es Deb Olin Unferth, den Leser mit Witz, lockeren Formulierungen und einem gekonnten Spannungsaufbau auf 288 Seiten bei der Stange zu halten und trotz detailgetreuer Schilderungen der verwahrlosten Legehennenbetriebe bis zum Schluss weiterlesen zu lassen.
Doch wie bringen die zwei Legehennenbetriebsprüferiinnen – die fünfzehnjährige Janey und die Freundin ihrer verhassten Mutter, Cleveland –, es fertig, einen 150 Meter langen Stall in der Größe von fast anderthalb Fußballfeldern, „so groß wie die vier größten Dinosaurier, die je auf Erden gewandelt sind“ und worin sage und schreibe von ‚hundertfünfzigtausend Legehennen vierzig Millionen Eier produziert’ werden, heimlich und illegal leerzuräumen. Es gilt ja nicht nur, die Tiere zu befreien, sondern zugleich an anderer Stelle unter hygienischen Bedingungen unterzubringen. Kein leichtes Unterfangen. Und was, wenn eines Tages vor Ort ein Feuer ausbricht …
Spannend dementsprechend die geschilderten Umstände, die frei nach Nietzsche eine „Umwertung aller Werte“ beinhalten: Eine Welt, in der Tierquäler auf der Seite des Rechtes stehen und die Schützer der Schöpfung von vornherein kriminalisiert werden. Da mutieren die Protagonisten – nach dem Vorbild des legendären Rebellen in mittelalterlichen englischen Balladen, der sich bekanntlich für Unterdrückte und sozial Benachteiligte gegen das Gesetz eingesetzt hat – zu einer Art modernem Robin Hood.
Kenntnisreich schildert die Autorin überdies die Hühnergattung, dringt bis in deren Gehirnstruktur vor. Wie denken die Tiere, wie nehmen sie die Welt wahr, was benötigen sie, um in einer für sie zuträglichen Umgebung aufzuwachsen. Zugleich geht sie der Spezies bis zu deren Ursprung nach – ohne dabei auch nur im Ansatz den Anspruch erheben, den Leser belehren zu wollen.
Ein Roman, der, teils nah an der Realität, in seiner Fiktion jedoch stets genügend Freiraum lässt, um Phantasie freizusetzen, zugleich Lesevergnügen trotz der darin zur Sprache kommenden harten Fakten.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Klaus Wagenbach Verlag!
Buchtipp Januar - Februar 2022
© Erna R. Fanger
Alle, die die Schönheit der Erde betrachten, finden einen Quell der Kraft darin,der Bestand haben wird, solange es Leben gibt. Rachel Carson
Glühendes Plädoyer für das schöpferische Vermögen allen Seins
Richard Powers: „Erstaunen“
Aus dem amerikanischen Englisch von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2021
Mit „Erstaunen“ bringt Powers, vielfach ausgezeichneter und preisgekrönter Autor, eine bemerkenswerte Vater-Sohn-Geschichte auf über 300 Seiten packend nahe, und dies mit zahlreichen Referenzen auf aktuelle Erkenntnisse in Ökologie, Neurowissenschaft, Astrobiologie. Zugleich ein Beitrag zur Diversity-Debatte, denn Robin, neun Jahre alt, leidet unter dem Asperger-Syndrom. Überdies ist er seit dem Unfalltod seiner Mutter – kurze Zeit später stirbt auch noch der geliebte Hund – emotional zusätzlich geschwächt. Hochbegabt, hoch sensibel, erträgt er den normalen Schulalltag kaum, wo eher Mittelmäßigkeit belohnt als außerordentliches Talent gefördert wird. Wer nicht stromlinienförmig tickt, ‚Sonderlingen‘, kommt man mit harter Bandage bei. Hellsichtig erkannte Robins Mutter bereits: „Die Welt wird dieses Kind in Stücke reißen“ Leseprobe. Und es kommt dann auch schon mal vor, dass er gewalttätig wird. Um ihn davor zu schützen, dass man ihn im Zuge zweifelhafter Diagnosen mit Psychopharmaka ruhigstellt, nimmt ihn sein Vater, Astrobiologe, kurzerhand von der Schule und fährt mit ihm in die Berge, wo er sich die unberührte fantastische Natur zunutze macht, für Robin Planeten erfindet, die zu erkunden sie immer wieder aufbrechen:
„Er … benetzte einen Objektträger mit Wasser aus einem Gezeitentümpel. Lebewesen überall: Spiralen und Stäbchen, Objekte wie Fußbälle und feine Fäden, mit Rippen, Poren oder Geißeln besetzt. Er hätte eine Ewigkeit gebraucht, alle Arten zu zeichnen, so viele gab es.“ Leseprobe
Unbequem war Robin nicht zuletzt auch im Hinblick auf seinen unbedingten, ja verzweifelten Willen, sich leidenschaftlich für Umwelt- und Naturschutz zu engagieren, den Planeten zu retten. Und das in der Trump-Ära, wo der Roman angesiedelt ist und dies alles andere als gefragt war. Im Übrigen eiferte er seinen Eltern nach – Mutter Aly etwa hatte sich entschieden für den Tierschutz eingesetzt und konnte mit ihrer Begeisterungsfähigkeit eine Menge Leute für ihre Mission gewinnen.
Aber natürlich war die Zeit des freien Lebens in wilder Naturlandschaft irgendwann vorbei. Die Schulpflicht rief und damit die Frage nach einer adäquaten Therapie für Robin. Sein Vater überlegt, ob „Decoded Neurofeedback“ eine Möglichkeit wäre. Verfahren der KI, bei dem bei Zielpersonen durch Stimuli bestimmte Emotionen erzeugt, die dann wiederum gescannt und auf eine zweite Probandengruppe übertragen werden und das indessen in der Therapie posttraumatischer Belastungsstörungen eingesetzt wurde. Entwickelt hatte es Martin Currier, hoch angesehener Professor der Neurowissenschaften und einst befreundet mit Robins Mutter, die an einem dieser Experimente bereits teilgenommen hatte, von deren emotionalem Abdruck er also noch Aufzeichnungen hatte. Würden diese auf Robin übertragen, bestünde die Chance, dass seine emotionale Verfasstheit entsprechend positiv beeinflusst werden könnte. Versuch, der bedingt auch gelingt, aber weitere Konflikte auf den Plan ruft. Irgendwann kommt es dann zum dramatischen Showdown.
Trotz aller Tragik, das Schicksal der hier ins Bild gerückten kleinen Familie betreffend, ist dies ein zutiefst lebensbejahendes Buch voller überraschender Erkenntnisse über die unermessliche Schöpferkraft des Lebens schlechthin.
„… wenn sie [Dozentin Ethel Muggs] … vor vierhundert Studenten im Hörsaal stand, dann glühte sie. Woche um Woche führte sie uns allen aufs Neue vor, wie wenig wir wussten, ja, dass wir keine Ahnung von all den Dingen hatten, zu denen das Leben imstande war.
"Es gab Geschöpfe, die sich um die Mitte ihres Lebens in etwas so vollkommen anderes verwandelten, dass man sie gar nicht mehr als dieselbe Art wiedererkannte. Es gab Geschöpfe, die sahen Infrarotlicht und spürten Magnetfelder. Es gab Geschöpfe, die veränderten ihr Geschlecht in Absprache mit der Umgebung, und Einzeller, die sich nach Mehrheitsbeschluss organisierten.“ Leseprobe
Und während wir uns noch fragen, wann der so dringlich erhoffte Wandel hin zu einer humaneren Gesellschaft endlich eintritt, einer Gesellschaft, der es gelingt, das Ruder herumzureißen und diese Erde zu einem guten Ort für alle zu machen – dieses Buch zeugt davon: Machtvoll ist er längst in Gange!
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main
© Hartmut Fanger: Eine Familie Anfang der Siebziger in Amerika
Jonathan Franzen: „Crossroads“
Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2021
Wer von denen, die sie selbst erlebt haben, erinnert sich nicht an die siebziger Jahre, an die Musik, die Mode, jenen Aufbruch, der 1968 mit der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung seinen Lauf nahm, gefolgt von den bald weltweiten Anti-Vietnam-Demonstrationen. Die Jüngeren wiederum werden auf über 800 Seiten in Jonathan Franzens „Crossroads“ umfangreich und detailgenau davon erfahren. Auftakt einer großen Roman-Trilogie. Dabei nimmt der Autor ausgerechnet eine mittelständische Pastorenfamilie wie die Hildebrandts in Chicago zum Ausgangs- und Mittelpunkt seines Epos‘, womit jede Menge Reflexion, religiöse, ethische wie moralische Fragestellungen zum Tragen kommen. Und Franzen lässt wahrlich nichts aus, dringt in die innerste Psyche seiner Protagonisten, erzählt dabei eloquent deren Geschichte. Da changieren persönliche Krisen und Nöte von Kindern in der Pubertät mit denen der Erwachsenen in der Midlife-Crisis. Zugleich kommen spießige und von Schuld beladene außereheliche Liebesbeziehungen zur Sprache, wo sich Abgründe auftun, wie etwa die verschämten regelmäßigen Besuche von Mutter Marion in einer als Zahnarztpraxis getarnten psychotherapeutischen Einrichtung. Junge Männer wiederum unterm Banner von Vietnamkrieg und dem Damoklesschwert des per Losverfahren drohenden Militärdiensts. Und natürlich spielt dem Zeitgeist entsprechend die Drogenproblematik eine Rolle. Es geht ums Dealen, Kiffen und darum, wie man es schafft, high zu sein. Beeindruckend und minutiös beschrieben die erste Marihuana-Erfahrung von Tochter Becky, einem spirituellen Erlebnis – ‚Gebet an Gott auf einem Dachboden der Kirche im Dunkel der Nacht’ sowie die Erkenntnis, dass ‚Zeit nicht ohne Licht gemessen werden kann’.
Außergewöhnliche Ereignisse, etwa auch Wetterlagen, erfordern in der Regel außergewöhnliche Maßnahmen und sind gerade deshalb im Kreativen Schreiben ein beliebtes Stilmittel, bergen sie doch immenses Spannungspotenzial. Franzen nutzt dies verstärkt, indem er es in dem ersten, mit „Advent“ überschriebenen Teil auf vielen Seiten nahezu unentwegt schneien lässt. Da kommen so manche der Protagonisten sprichwörtlich wie im übertragenen Sinne ins Rutschen, bleiben Autos stecken, gerät so mancher Zeitplan durcheinander, ist von Räumungsarbeiten die Rede.
Der Verdacht liegt nahe, dass wir es mit einem Roman zu tun haben, wie man ihn heute eigentlich nicht mehr schreiben kann. Alles ist ausformuliert, so dass für den Leser kaum mehr Spielraum für eigene Deutungen bleibt. Und dennoch entsteht von Beginn an ein Lesefluss, ja Sog, dem man sich, stilistisch ausgefeilt, bis zum Schluss hin kaum entziehen kann. Der Leser möchte jedenfalls unbedingt wissen, wie es weitergeht. Franzen ist einfach einer der ganz großen Erzähler der Gegenwartsliteratur!
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Buchtipp Dezember 2021-Januar 2022
© Erna R. Fanger: Aus der Sicht eines Liebenden
– Poetische Montage
„Das Abenteuer der Liebe ist Sehnsucht, nicht Erfüllung.
Das wollen die Menschen nicht glauben,
weil sie Verbraucher sind“. Edgar Selge
Edgar Selge: „HAST DU UNS ENDLICH GEFUNDEN“, Rowohlt Verlag, Hamburg 2021
Edgar Selge, bislang als begnadeter Schauspieler in Erscheinung getreten, hat uns mit diesem Debut als Schriftsteller überrascht. Werden Metamorphosen dieser Art von der Hoheit der Literaturkritik eher skeptisch in Augenschein genommen, hat Selge jedoch, entgegen manchem Unkenruf im Vorfeld, die Erwartungen durchaus übertroffen. Dass er hier nicht autobiografisch geschrieben, als vielmehr montiert und verdichtet hat, darauf besteht er.*
Den Rahmen dieser Art Collage szenischer Darstellungen – weniger chronologisch als vielmehr Kaleidoskop gleich in 19 Kapiteln plus Epilog arrangiert – bildet das Herforder Jugendgefängnis, dessen Direktor Selges Vater ist. Aufgabe, der er mit Herzblut frönt. Umständehalber nach dem Zweiten Weltkrieg an seiner eigentlichen Mission, Pianist zu werden, gehindert, gehört dazu, die musikalische Erziehung seiner Zöglinge voranzutreiben, im Zuge dessen er nachmittags regelmäßig Hauskonzerte für diese veranstaltet, abends dann für Freunde und Bekannte, wofür er eigens einen professionellen Geiger engagiert.
Aus der Sicht des Zwölfjährigen und mit der Pubertierenden eigenen Luzidität, nicht zuletzt aber auch mit Hilfe des Wissensvorsprungs seiner älteren Brüder, durchdringt er den Wust des verhängnisvollen Erbes des Nationalsozialismus mit seinen fatalen ideologischen Vorzeichen, in dem seine Eltern noch tief verwurzelt scheinen, und der zwiespältigen Jahre des deutschen Wirtschaftswunders, unter deren Decke es zwar brodelt und schwelt, worüber aber ein eiserner Mantel des Schweigens gebreitet scheint. Unter der Decke wiederum der im Hause Selge priorisierter kultureller Aktivitäten – in erster Linie Musik, aber auch Literatur und Malerei –, womit kompensiert wird, was nicht zur Sprache kommen darf, ist das Klima explosiv. Immer wieder entlädt es sich in ätzenden Auseinandersetzungen zwischen dem Vater und Edgars älteren Brüdern, die diesen schonungslos zur Rede stellen. Erst spät und in einem schmerzhaften Prozess erkennen die Eltern, welcher Geistesverwirrung sie aufgesessen sind.
Was das Buch auszeichnet, ist seine allgegenwärtige Ambivalenz. Nichts scheint eindeutig als vielmehr brüchig, rissig. Nach Manier des Kubismus nimmt Selge Figuren und Ereignisse von allen Seiten gleichzeitig in Augenschein, alles scheint fluid, in beständigem Fließen, Bröseln, im Rutschen begriffen. Dabei enthält sich Selge jeder Wertung. Stattdessen durchdringt er die Dinge in fiktionaler Verdichtung und spürt so die Wahrheit hinter den Phänomenen auf.
So auch den dramatischen Tod seines Bruders Andreas, dem ursprünglich nachspüren zu wollen, Ausgangspunkt war, dieses Buch zu schreiben, was schließlich in den bemerkenswerten Epilog eingeht. Dort hadert Selge mit sich selbst, dem Sterbenden die Bitte verweigert zu haben, ihm einen Schluck Tee wider strikte ärztliche Anordnung zu gewähren. Wider sein Mitgefühl mit dem Dürstenden. Ob er es bereue, fragt Bruder Andreas in einem fiktiven Zwiegespräch. Natürlich. Aber er sei so ein Mensch. Er könne sich hart machen, sich seinen Gefühlen verschließen. Ob er ein anderer sein wolle, fragt er sich selbst. Nein.
Und obwohl er seitens des Vaters körperliche Züchtigung wie, unvermittelt angedeutet, gar sexuellen Missbrauch erfährt, bekennt er, innerlich zwiespältig und nicht ohne Scham, ihn zu lieben. Zugleich aber auch: „Ich will nicht einer sein, der den liebt, der ihn schlägt“ Leseprobe. Dies schließt an die Präambel an, ‚Das Abenteuer der Liebe ist Sehnsucht, nicht Erfüllung‘, und verweist, wie das gesamte Werk, einerseits auf die Unzulänglichkeit von Menschen, Liebe zu leben, und zielt zugleich auf unser aller Sehnsucht danach ab, wie sie gerade in der Weihnachtszeit zum Tragen kommt.
Wir empfehlen „Hast du uns endlich gefunden“ daher unbedingt als Lektüre zwischen den Jahren und darüber hinaus. Auf jeden Fall ein beachtlicher Einstand Selges als Autor – Chapeau!
*16.10.2021, Der Tagesspiegel: Gerrit Bartels: „Liebe und Missbrauch“
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag
Buchtipp Oktober 2021
© Hartmut Fanger
Von der Magie der Berge
Paolo Cognetti:
Das Glück des Wolfes, Roman, Penguin Verlag, München 2021 Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt
Wie schon in seinem ersten erfolgreichen Roman Acht Berge sowie dem Folgeband Gehen, ohne je den Gipfel zu besteigen, spielt auch in „Das Glück des Wolfes“ die Handlung in den Bergen, werden hier zugleich buddhistischer Glaube und buddhistische Lebensweisheit nahegebracht.
Dabei vermag kaum einer, die Gebirgswelt so lebensnah und authentisch zu schildern wie Cognetti. Begeisternde Landschaftsbeschreibungen. Von Beginn an versetzt der Autor den Leser so in eine nahezu magische Sphäre der schneebedeckten Gipfel, der unberechenbaren Naturereignisse und der Sehnsucht der Menschen vor Ort nach Freiheit. Letztere tritt insbesondere dann zutage, wenn zum Beispiel am Horizont das eine oder andere Flugzeug Richtung Paris gesichtet wird. In dem kleinen italienischen Dorf Fontana Fredda, wo der größte Teil der Handlung spielt, genauer in dem ebenso kleinen Restaurant mit dem klangvollen Namen „Babettes Gastmahl“, findet das mühsame Leben in 1800 Metern Höhe statt. In der Wintersaison treffen sich dort die Skifahrer und Bergwanderer oder Arbeiter, die die Pisten wiederherstellen, diese mit Kunstschnee versorgen. Ein Ort, der jährlich um seine Existenz bangen muss, in dem die Klimaveränderung deutlich zu spüren ist, ein Ort ohne Zukunft, und dennoch ein Ort, der den Figuren so etwas wie Heimat vermittelt, ihnen, wenn auch nur saisonbedingt, Arbeit gibt. Menschliche Schicksale, Liebe und Tod, alles drängt sich hier auf engem Raum. Die Welt betrachtet, wie durch ein Mikroskop. Umso bemerkenswerter, dass aufgrund des ‚Klimas und von Flora und Fauna ein Aufstieg von tausend Höhenmetern in den Alpen einer tausend Kilometer weiten Reise nach Norden entspricht.’ Da wird die Welt plötzlich wieder ganz groß ... Als Pendant hierzu fungiert die Großstadt Mailand, in die es den Protagonisten allenfalls dann verschlägt, wenn formelle Angelegenheiten, wie Scheidung oder die Inanspruchnahme eines Kredites, zu regeln sind.
Protagonist wiederum ist der in „Babettes Gastmahl“ als Koch eingestellte Schriftsteller Fausto. Zwischen ihm und der neuen Kellnerin Silvia wiederum entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte. Im Übrigen gelten seine Interessen, neben dem Leben in den Bergen, vornehmlich der Literatur. Von Jack London bis hin zu Hemingways „In einem anderen Land“, von Tania Blixens „Jenseits von Afrika“ bis hin zu Bruce Chatwins „Traumpfade“ in Australien. Nicht zu übersehen gleichwohl die Korrespondenz des Restaurantnamens mit dem Titel der berühmten, auch verfilmten Novelle von Tanja Blixen, „Babetts Fest“.
Das Titel gebende ‚Glück des Wolfes’ mag darin bestehen, dass in dem Maß, wie der Mensch seine Lebensgrundlagen zerstört, dieser sich den ihm zustehenden Lebensraum zurück erobert.
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Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Penguin Verlag!
© Hartmut Fanger: Generationenroman – So kurzweilig wie brillant
Jo Lendle: „Eine Art Familie“, Penguin Verlag, München 2021
Mit „Eine Art Familie“ veröffentlicht der 1968 geborene Jo Lendle seinen fünften Roman. Erzählt wird diesmal die Geschichte seiner eigenen Familie. Dementsprechend sind seine Figuren ‚echt’ und tragen folglich real existierende Namen. So hat es den Protagonisten und Naturwissenschaftler Ludwig Lendle von 1899 bis 1969 tatsächlich gegeben. Eine Zeitspanne, die auch dem Roman zugrunde liegt: vom Kaiserreich bis hin zum Nationalsozialismus, von den ersten Tagen der DDR bis hin zur Bundesrepublik. Deutsche Historie pur. Wie dicht beieinander die Abfolge geschichtlicher Ereignisse im Zeitkontinuum liegt, erweist sich anhand lediglich einer ‚kleinen Reihe von Menschenleben’, derer es bedürfe, um ‚beim Christuskind an der Krippe zu stehen’: Ludwigs eigener ‚Großvater hätte als Kind Goethe die Hand geben können. Und Goethe selbst war schon geboren, als Bach noch lebte ...’ und sofort.
Während Ludwig Lendles Bruder Wilhelm in den Nationalsozialismus abgleitet, hat Ludwig Lendle gegen das System auf vielen Ebenen zu kämpfen, was sich bis in die Arbeitswelt der medizinischen Fakultät bemerkbar macht. So wird er zum Beispiel in einem offiziellen Schreiben des Ministeriums beschuldigt, sich über die Anschaffung einer Hakenkreuzfahne abfällig geäußert zu haben. Dagegen ist seine wissenschaftliche Schlaf-Forschung gerade auch für den politischen Machtinhaber von nicht unerheblichem Belang. Schließlich mündet diese direkt in das im Krieg verwendete Nervengas. Dabei versteht es der Autor, die verheerende Politik mit kleinen Alltagsszenen zu illustrieren, mit den kleinen Freuden, großen Ängsten und Sorgen der Menschen. Denn ‚es geht’ ihm im Hinblick auf die in der Präambel skizzierte Forderung Stendhals um ‚mehr Details’, worin ‚Eigenart und Wahrheit’ zu finden seien. Letztendlich gehe es ‚ums Ganze, das sich wie immer in seinen Teilen zeige’. Von „‚den schwer lesbaren Botschaften der Wolken“ bis hin zu den „zusammengezogenen Augenbrauen einer Radfahrerin“. Und vor allem geht es dem Titel des Romans entsprechend um eine notgedrungene familienähnliche Situation. So lebt Ludwig Lendle mit seiner Nichte Alma Grau und Fräulein Gerner zusammen. Eine Figurenkonstellation, die Lud Lendle wie folgt selbst auf den Punkt bringt: „Drei eigenartige Menschen, ein seltsam versprengter Haufen, von Zufällen zusammengewürfelt, ohne rechte Verbindung und ohne Zukunft, von denen man nur eines lernen kann: Wie man ausstirbt.“ LESEPROBE Denn von Kindern kann schon aufgrund der verkappten Homosexualität Ludwig Lendles nicht die Rede sein. Wie Sexualität überhaupt im Wesentlichen unterdrückt wird. Stattdessen erfreut man sich an der Suche nach Steinpilzen, an Rahbarbarkuchen oder im Nachkriegsjahr 1946 an einer Eierlikörtorte, die während eines Gesprächs über „Das Wesen der Lust nach den platonischen Dialogen“ auf der Terrasse des Philosophen Gadamer zu sich genommen wird.
Meisterhaft die Anwendung des Stilmittels der Auslassung. Kein Wort zu viel, der Verzicht auf überflüssige Adjektive, Füllwörter und unnötige Wiederholungen. Oft ist es zudem der sachlich kalte, nüchterne Bick des Wissenschaftlers und Mediziners, der ähnlich wie schon im „Zauberberg“ des Thomas Mann in den Bann zieht. Doch anstatt der Schilderungen an Tuberkulose Erkrankter sind es hier die Szenen, in denen Tierversuche praktiziert werden, mit Fröschen und Mäusen experimentiert wird. Dabei bleibt dem Leser überlassen, die ganze Tragweite solcher Untersuchungen nachzuempfinden, was wiederum Phantasie freisetzt. Hinzu kommen die so poetischen wie originellen Kapitelüberschriften, wie zum Beispiel „Herz und Abendstern“, „Kautschuk und Nähe“ oder „Schwäne und Himbeeren“. Alles in allem ein ungemein lesenswertes Buch, das uns epochale Wirklichkeiten in Politik, Wissenschaft wie im Alltagsleben nahebringt. Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl. Archiv
Mit Dank für das Rezensionsexemplar an den Penguin Verlag!
© Hartmut Fanger Atlantropa oder Die Sehnsucht nach Frieden in der Welt
Matthias Lohre: „Der kühnste Plan seit Menschengedenken“, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021
Ein Glück, dass aus den unverlangt eingesandten Manuskripten gerade das Debut des Journalisten Matthias Lohre der Lektorin Annette Wassermann in die Hände fiel.Nun dürfen auch wir in 41 Kapiteln und auf 480 Seiten den ‚kühnsten Plan seit Menschengedenken ’mitverfolgen.
Der Roman spielt vornehmlich in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Erzählt wird die wahre Geschichte des Architekten Herman Sörgel und dessen Frau Irene. Herman Sörgel entwickelt einen kühnen Plan. Er will das Mittelmeer mit Hilfe gewaltiger Staudämme anheben und trockenlegen, um dort stattdessen für fruchtbares Land und ein friedvolles Miteinander zu sorgen. Atlantropa bezeichnet er schließlich seinen Traum, da Europa im Zuge dessen mit den Küstenregionen Afrikas zusammenwüchse. An Authentizität gewinnt das Ganze, indem den jeweiligen Kapiteln u.a. historische Dokumente in Form von Zeitungsberichten, Zitaten aus Briefen und Romanen vorangestellt werden.
Dabei findet die Handlung insbesondere vor der Kulisse eines krisengeschüttelten Deutschlands im Umkreis der schwächelnden Weimarer Republik mit zunehmender Kriegsgefahr, Massenarbeitslosigkeit, Judenverfolgung und erstarkten Braunhemden statt. Bereits zu Beginn sind dementsprechend erste Einflüsse der Nationalsozialisten vernehmbar. Ein Klima, das die Protagonisten immer mehr zu spüren bekommen, zumal Irene Sörgel Halbjüdin ist. Doch die Träume der Protagonisten sind groß. Mit Vorträgen und Ausstellungen setzen sie alles daran, die Mächtigen im Lande von ihrem Plan zu überzeugen. In dem Moment, als sich schließlich auch die Nationalsozialisten für das Projekt begeistern, kommt es für den Protagonisten allerdings zum Konflikt. Hermann Sörgel sieht sich gezwungen, sich zwischen der Realisierung seines Traums und der Liebe zu Irene entscheiden. Meisterhaft versteht es Lohre, fiktive Erzählsequenzen mit stichhaltigen historischen Fakten zu einem großen Ganzen zu verweben.
Packend liest sich der abenteuerlich anmutende Weg Sörgels – allen Widerständen zum Trotz –, dem Umfeld eine derartige Utopie nahebringen zu wollen, dafür zu werben, Kontakte zu knüpfen, Politik und Presse für sich zu gewinnen, sich selbst vor dem Ertrinken im Mittelmeer zu bewahren. Und es sind vor allem die kleinen, so plastischen wie spannenden Szenen, die den Leser bis zum Schluss bei der Stange halten. Beeindruckend zum Beispiel der Moment, wo das Mittelmeermodell für die Ausstellung ein Leck aufweist und Sörgel zusammen mit dem Reichsarbeitsminister Adam Steigerwald versucht zu retten, was zu retten ist.
Mit besagtem historisch verbürgtem Hintergrund ein Roman, der angesichts der weltweiten Klimakrise mit entsprechender Fluchtbewegung zusätzlich an Aktualität und Brisanz gewinnt. Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl! Archiv
Mit Dank für das Rezensionsexemplar an den Verlag Klaus Wagenbach.
© Hartmut Fanger: Von den Wirrnissen um die Dracula-Legende
Dana Gricorcea: Die nicht sterben ,Penguin Verlag. München 2021
Wer kennt nicht Bram Stoker, den Schöpfer der Dracula Legende. Weniger bekannt ist hingegen dessen großes Vorbild ‚Vlad der Pfähler’. All diejenigen jedenfalls, die sich für den Drachen in seiner kulturhistorischen Bedeutung interessieren und dazu hin ein Faible für die das Tageslicht scheuenden und nur im Zwielicht der Dämmerung sich zeigenden Fledermäuse haben, werden an dem Roman von Dana Gricorcea ihre helle Freude haben. Der in Budapest geborenen Germanistin und Autorin gelingt es in 24 Kapiteln auf 259 Seiten nicht nur, die ‚Wirrnisse um die Dracula Legende so anschaulich wie plastisch vor Augen zu führen, sondern zugleich schreibgewandt blendend zu unterhalten und bis zur letzten Seite für Spannung mit erheblichem Gruselfaktor zu sorgen.
Eine Autorin, die ihr Handwerk versteht. Wenige Worte benötigt sie, um uns in den abgelegenen, von Aberglauben und Vampirismus geprägten Ort mit dem Kürzel „B.“, in der Walachei, zu entführen. Nicht ausgespart werden dabei Spuren des Kommunismus unter dem ehemaligen Diktator Rumäniens Ceaușescu, geprägt von Korruption, Willkür und Unterdrückung. Eine Welt, archaisch anmutend, zugleich bizarr, die dabei so manche Grausamkeit offenbart. Und blutig geht es wahrlich zu bei Gricorcea, die, obschon in nüchternem Tenor, die Bewertung dem Leser überlassend, die grausamen Praktiken ‚Vlads des Pfählers’ zur Sprache bringt: von furchtbaren spätmittelalterlichen Schlachten, über tausendfaches Pfählen und Leichenschändung bis in die Gegenwart hinein.
Nicht selten sind es Momente, die uns in eine Art Zwischenwelt, Grauzonen zwischen Realität und Fantasie, entführen, Augenblicke, die der rationalen Wahrnehmung entschlüpfen, schwer fassbar sind und uns erschauern lassen. Unvergleichlich, wenn zum Beispiel nach altem Brauch in uralten Gräbern gebuddelt wird, um die Reste von Knochen und kleinen Accessoires Neuverstorbenen zukommen zu lassen. Unheimlich wiederum, wenn die Ich-Erzählerin des Nachts erwacht und sämtliche Möbel, vom Schrank bis zum Spiegel, verrückt oder gar verschwunden sind, ebenso wenn sie sich im offenen Grab wälzt, dabei tierische Laute ausstößt, mit einem Mal fliegen kann und blutrünstig mit ihren Zähnen einen Rehbock erlegt. Surrealistische Szenen, in denen sich Wirklichkeit, Traum und Albtraum vermischen. Dem Leser erschließt sich dabei eine eigentümlich, eine unheimliche Welt, in der das Motiv des Vampirismus vom 15. Jahrhundert an bis in die Gegenwart den roten Faden bildet. Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Penguin Verlag! Archiv
© Erna R. Fanger: Heimisch in Erinnerungen
Helga Schubert: Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten, dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München 2021
„So konnte ich alle Kälte überleben. Jeden Tag. Bis heute“ Leseprobe, lautet der letzte Satz des ersten Kapitels in dem 300 Seiten zählenden Buch von Helga Schuberts Leben in 29 Geschichten. Der Satz beschreibt präzise, was wir heute als Resilienz bezeichnen, also psychische Widerstandskraft gegen die niederschmetternden Härten des Lebens. Was es dazu bedarf, wird in besagtem Kapitel selbst deutlich. Es ist die Erinnerung an die wunderbaren langen Sommerferien bei der Großmutter, in der Hängematte zwischen zwei Apfelbäumen, den Duft nach warmem Streuselkuchen in der Nase. Diese Großmutter ist es auch, von der sie sich geliebt fühlt, im Gegensatz zur ablehnenden Mutter, die für das kleine Mädchen wenig übrighat. Der Vater ist im Krieg gefallen. Der erste Satz wiederum ist Programm: „Mein idealer Ort ist die Erinnerung“Leseprobe. Und entscheidende Erinnerungen finden sich auch gegen Schluss des Buches wieder, wo sich die Autorin, vier Jahre nach dem Tod der Mutter, erinnert, wofür sie ihr, über den Dank am Sterbebett hinaus, dass sie ihr das Leben geschenkt habe, des Weiteren dankbar sei. Und da kommt überraschend viel zusammen – etwa nach dem Motto Erich Kästners „Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit“. Dies bildet die Klammer der hier erzählten Geschichten aus dem Leben Helga Schuberts in der ehemaligen DDR, die gleichsam ein Stück Zeitgeschichte transportieren. Und doch dreht sich letzten Endes alles immer wieder um das schwierige Verhältnis zur Mutter, die immerhin 101 Jahre alt geworden ist, ihrer Tochter somit eine lange Zeitspanne gewährt hat, sich daran abzuarbeiten. Dem kommt Helga Schubert, um Identität ringend, nahe, indem sie zum Beispiel Strategien entwickelt, ‚die Schatten hinter sich zu lassen‘. So notiert sie sich Sätze aus Lektüren, Zeilen von Gedichten oder Liedanfänge, die sie durch Zeiten der Mutlosigkeit und der Trauer tragen. Und „Warum schreiben“ – Kapitel, in dem sie, ausgehend von ihrer Liebe zum Altweibersommer, wo sie ‚endlich ausatmen kann, wie beim Schreiben‘, spielend leicht Zugang zu dem Thema findet und fragt, was Menschen veranlasse, eine Zeit lang alles hinter sich zu lassen, Freunde, Familie, Kollegen, um sich völlig von der Welt zurückzuziehen, in dem Vertrauen, dass sich im Zuge dessen eine Geschichte in ihm verdichte. „Woher kommt der Mut, diese schmale, wankende Brücke zu den Menschen, die am andern Ufer lärmen, zu bauen, diese Brücke ohne Geländer zu betreten und hoch über dem Abgrund zu balancieren, ganz allein?“ Leseprobe Wer schreibt, muss genau hinsehen, dem Erschrecken standhalten angesichts der Abgründe, an denen entlang sich menschliche Existenz hangelt, seien es die eigenen, seien es die der anderen. „Nichts ist klar so oder so, erfahre ich beim Schreiben oder spätestens beim Lesen.“ Leseprobe
Wie Erinnerung sich vollzieht, in Fetzen und Fragmenten, offenbart sich auf kaum mehr als zwei Seiten im zweiten Kapitel, „Vom Leben innen“, wo neben Orte der Erinnerung, etwa an das Pathos der Mutter beim Singen an der Seite von Blauhemden der FDJ beim Weltjugendtreffen, Belange von Alltagsbewältigung platziert werden, wie ‚daran zu denken, beim Autofahren Gas zu geben, einen Wagen zu lenken‘. Dass davon, nicht wie in der Vorstellung, ganz unmittelbar ‚etwas abhänge‘. Zugleich reichen wenige Pinselstriche aus, die Einsamkeit der Fünfzehnjährigen nahezubringen, die, der Mutter von ihrem „Gefühl der Unwirklichkeit“ erzählend, von dieser der Schizophrenie verdächtigt wird. Über den Selbstmord eines Mitschülers tröstet sie sich mit Klavierspielen hinweg. Ein Jahr lang hatte die Mutter ihr den Unterricht bei einer Pianistin bezahlt, dies, nachdem diese ihr Talent bescheinigte, jedoch wieder eingestellt.
Immer wieder zieht sich die Erinnerungsspur an die erfahrenen Verletzungen seitens der Mutter durch ihre Geschichten. Und war dies für die bemerkenswerte Professorin, Literaturwissenschaftlerin und Modetheoretikerin Barbara Vinken in Scobels Büchertalk ein entschiedenes No Go, sei dem entgegengehalten, dass es keine Seltenheit ist, dass mit fortschreitendem Alter oft lange unten gehaltene Erinnerungen an empfundenes Unrecht noch einmal an die Oberfläche gespült werden und bearbeitet werden wollen. Bestenfalls, um am Ende seinen Frieden damit zu machen. Und Letzteres ist Helga Schubert mit diesem Kleinod – einem ganzen Leben in lauter kurzen Geschichten – mit Bravour gelungen.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl! Archiv
Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem dtv Verlag, München 2021
© Erna R. Fanger
Jahrzehnt im Grenzgang
Gabriele von Arnim: Das Leben ist ein vorübergehender Zustand, Rowohlt Verlag, Hamburg 2021
„Zehn Jahre lang sitzt die Angst mit am Tisch – oder ihre kleinen Cousinen Unruhe, Sorge, Bangigkeit sitzen neben mir auf dem Sofa, am Schreibtisch, sitzen mit mir am Herd, liegen mit mir im Bett.“ Leseprobe Was bewegt Leser:innen, sich auf die Spuren der intimsten Abgründe eines Schicksals zu begeben, vor dem man innerlich erschaudernd zurückweicht, was Autor:innen, ein solches mit anderen zu teilen, indem sie es öffentlich machen und erzählen. Frage, die an die Grundfeste der Funktion von Literatur rührt. Und gemeinsam scheint Lesenden wie Schreibenden zu sein, dass sie die Absicht hegen, existenzielle Belange zu erhellen, ihnen auf den Grund zu gehen, genau hinzuschauen und für sich selbst mit jedem Buch die Frage neu zu beantworten und zu vertiefen, wie geht das überhaupt, Leben? Im Falle Gabriele von Arnims jüngstem Buch „Das Leben ist ein vorübergehender Zustand“, wie geht Leben an der Grenze dessen, was ein Mensch zu (er)tragen vermag. So, wenn der langjährige Ehemann im Zuge von Herzinfarkt und Schlaganfall in Folge innerhalb kürzester Zeit vom brillant-eloquenten Intellektuellen und Medienmann zum bettlägerigen Pflegefall mutiert. Geistig hellwach, körperlich versehrt, unfähig, sich zu artikulieren, ohne Aussicht auf Besserung, ist er von nun an vollkommen angewiesen auf die Hilfe anderer.
Was es für die Autorin bedeutet hat, sich ein Jahrzehnt lang auf dessen Pflege einzulassen, lässt sie uns, nach dessen Tod dem Appell einer Freundin, „erzähl es“, folgend, mit diesem Buch – Art Lebens- und Sterbensbilanz – wissen. Was diesen Prozess auszeichnet, ist die Genauigkeit, ihre Ehrlichkeit, mit der sie sich an den Grund des Unsagbaren herantastet. Diesem Zustand zwischen Schmerz und Entsagung, zwischen Hoffen, Bangen, Resignation und Verzweiflung. Immer wieder aber auch sind es Glücksmomente, Humor und ihr unabdingbarer Sinn für Ästhetik, die sich als tragkräftig erweisen, tiefgreifender vielleicht, als in augenscheinlich weniger dramatischer Daseinskonstellation. Etwa ‚die betörende Sinnlichkeit eines üppigen Tulpenstraußes mit orangenen, roten oder weißen Blüten. Die Kelche geöffnet …‘ Und nicht zuletzt zeugt dieses Buch von der Kraft der vielen Lektüren, die hier einfließen und sich als Schutzwall erweisen. Als Schutzwall gegen das Bodenlose, dem wir in solcher Lage ausgeliefert scheinen. Da gibt es ‚Vordenker‘ wie der Mexikaner Oktavio Paz, den sie zitiert, der Tod sei für Pariser, New Yorker oder Londoner „ein Wort, das man vermeidet, weil es die Lippen verbrennt“, in Mexiko hingegen heißt es: „Wenn du mich töten willst, dann mit Küssen.“ Und es gibt Weggefährtinnen, wie die gleichfalls vom Verlust ihrer Lieben gezeichnete und darüber schreibende Joan Didion mit ihrem Credo „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben“.
Zu diesen zählt nicht zuletzt die englische Journalistin Elisabeth Tova Bailey, die ein gefährlicher, nicht identifizierbarer Virus über Jahre ans Bett fesselt, wobei ihr eine Schnecke, Mitbringsel einer Freundin auf einer Topfpflanze, zur treuen Begleiterin wird, Trost und Verbundenheit gewährt. Als Schutzwall gegen das Unvermeidliche fungiert gleichwohl der gesamte kulturelle Echoraum, den Kunst jeden Genres uns offeriert, in dem Leiderfahrung in vielfacher Spiegelung seit Jahrtausenden gespeichert und ‚aufgehoben´ scheint. Dies impliziert eine Verbundenheit in der Bewältigung menschlicher Existenz mit Generationen vor uns, aus der wir Trost ziehen und Kraft schöpfen.
Die Schwierigkeit, sich über diese innere Bilanz von Arnims in einer Rezension zu äußern, besteht darin, dass alles, was es darüber zu sagen gibt, wiederum das ausschließt, was man darüber nicht sagt, dem jedoch ebenso viel Bedeutung gebührte. Denn das Leben im Grenzgang übersteigt geläufige Wahrnehmungs- und Deutungsmuster. Als Leser:innen wiederum werden wir Zeuge davon, wie es augenscheinlich eines solch ungeheuren Einschnitts bedurfte, dass die Ich-Erzählerin, unmittelbar vor diesem Zusammenbruch in Begriff, sich von ihrem Mann zu trennen, am Ende über besagtes Jahrzehnt schreibt, „Denn in all diesen elenden Jahren, in denen wir gekämpft, gelitten und gewütet haben, haben wir uns und einander auch mit neuer Innigkeit kennengelernt.“ Leseprobe Eine Freundin beteuert, sie möge ihn seither viel mehr, fühlte sich von ihm ‚ganz anders wahrgenommen‘. Über seine Todesstunde erfahren wir „Zwischen uns Stille, eine sanfte Stille und darin eine überraschende Harmonie, ein Einklang zwischen ihm und mir“Leseprobe, und vom Tod, der ihn dann ereilt hat: „Gekommen in dem Moment zarten Einklangs“ Leseprobe. Solch tröstlich anmutenden Abschied vernehmend, sind wir verlockt zu glauben, das alles habe letztlich seinen tieferen Sinn erfüllt und ein gutes Ende genommen – und hätten damit doch die ganze ungeheure Tragweite des Geschehens verfehlt.
Handelt dies Buch im Kern von Schmerz und Leid, Tod und Vergänglichkeit, überstrahlt schließlich die Lebendigkeit des Erzählens alles, die fluide, sinnliche Bildersprache, angereichert mit Referenzen auf Lektüren, Gedanken, Alltagsbeobachtungen, dem Nachsinnen über Schönheit und Sehnsüchte, Heiterkeit, Melancholie und Zärtlichkeit – am Ende ein Buch über die schiere Fülle des Lebens schlechthin.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag, Hamburg! Archiv
Buchtipp des Monats Juni-Juli 2021
© Erna R. Fanger
Von der Wirkmacht der Imagination
Anna Baar: Nil, Wallstein Verlag, Göttingen 2021
Vergeblich sucht die Leser:in in Anna Baars drittem Buch, Nil, nach dem roten Faden, der so etwas wie einen Plot erkennen ließe. Und lesen wir im Feuilleton knappe Inhaltsangaben, ist nahezu einhellig, nicht zuletzt im Klappentext, von einer Geschichtenerfinder:indie Rede, die, beauftragt, von einem Frauenmagazin, eine Fortsetzungsstory schreibt. Im Text selbst hingegen vernehmen wir gleich im zweiten Absatz seitens der Ich-Stimme „Erkundigt sich einer nach meinem Beruf, sage ich bloß Erfinder, denn ich erfinde Geschichten …“ Leseprobe Dies wirft natürlich die Frage auf, ob es sich dabei nicht auch um einen Mann handeln könnte, die sich bis zum Schluss nicht eindeutig beantworten lässt. Wie überhaupt das ganze Buch als Großprojekt der Dekonstruktion von Identität angelegt zu sein scheint. Dabei manifestiert sich die bewährte, an Literatur gestellte Frage, wer sind wir, wo kommen wir her, wo gehen wir hin, sich beständig verschiebend, allein zwischen den Zeilen. Die Welt als Ganzes ist atomisiert und steuert zusehendes auf die Zerstörung ihrer eigenen Lebensgrundlagen zu. Der Einzelne findet darin keinen Halt, sich selbst allenfalls in brüchiger Identität wieder. Eben diese Gemengelage spiegelt Nilwider. Zugleich eine Suchbewegung, Erkenntnis über die Wahrheit unserer krisenhaften Existenz zu gewinnen. Hier mit den Mitteln der Literatur, die laut Baar in ihren erfundenen Momenten der Wahrheit näher ist als in den nur scheinbar authentischeren des Autobiografischen. Nil ist insofern in erster Linie ein Buch über das Schreiben, das Erzählen, denn „Wir werden unsere Geschichten nicht los, ob wir sie nun erzählen oder nicht, manchmal rutscht etwas davon heraus, mitten ins Schweigen hinein, in die stehengebliebene Zeit ...“ LeseprobeWas macht den Prozess des Schreibens aus, welche Perspektiven nehmen wir ein. Was passiert, wenn man sich, absichtslos, allein dem Erzählfluss hingibt. Was bewirkt es. Bewirkt es überhaupt etwas. Und welche Funktion kommt dabei der Fiktion zu. Nicht zuletzt fragt sich die Protagonist:in: „Ob man sich infiziert mit dem erfundenen Schicksal, indem man die Nase zu weit zwischen zwei Heftseiten steckt?“ Leseprobe Und als sie aufgefordert wird, die Fortsetzungsstory im Zuge von Leserbeschwerden zu Ende zu bringen, und sei es, dass sie das Paar, von dem sie handelt, ‚von der Klippe springen lässt‘, wird ihr dies zum Verhängnis – „denn wie es geschrieben stand, ging mir alles so nahe, als ginge es um mich, aber nicht rückwärtsgerichtet, nicht memoirenhaft aus dem Leben gegriffen, sondern wahrsagerisch, mitten ins Leben hinein. … Wer weiß, wo die Wahrheit beginnt und wo sie zu Ende ist?“LeseprobeRadikal wird des Weiteren das eigene Schreiben infrage gestellt. ‚Geschichten zu verbreiten sei kein Beruf, vielmehr eine Zumutung. Denn was der Schreibende im Stillen von sich gebe, komme’ „im Leser zum Klingen, und seine Wahrheit verblasst im Licht der fremden Erfindung.“ Leseprobe Über den Prozess des Schreibens weiß die Protagonist:in, in der Wir-Perspektive ansetzend, die in die Ich-Perspektive mündet: „Würden wir je so groß und geschickt, wie man es Kindern vorhersagt, wäre ich heute Dichter“. Leseprobe Bemerkenswert das „wie man es Kindern vorhersagt“, statt „wie man es Kindern nachsagt“. Stilistische Raffinesse, in der in Analogie zum Auflösungsprozess von Identität auch von sprachlicher Übereinkunft abgewichen wird.
Szenen aus der Kindheit der Ich-Stimme, wo der Vater Zoodirektor ist, ein Krokodil abhanden kommt, verweben sich mit diversen Handlungssträngen. Überdies das immer wieder auftauchende Motiv einer Fotokabine, dazu angetan, darin zu verschwinden, wie das vermisste Krokodil – das Cover suggeriert es. Irritiert diese Diskurs-Vielfalt einerseits, offenbart die radikale Hingabe an den Schreibfluss umso überraschendere Perlen an poetischem Erkenntnisgewinn, deren Faszination die Leser:in in den Bann zieht. So etwa, wenn es heißt, dass ‚wäre sie heute Dichter’, dann „keiner von Rang und Namen, keiner, der nach Publikum schielt, um vor ihm auszustreuen, was er von der Liebe weiß oder von der Angst, oder, noch schlimmer, von sich, mehr ein stiller Bewahrer dessen, was ihn streift und umschwirrt.“Leseprobe Nicht zuletzt impliziert dies eben jene Absichtslosigkeit, unprätenziös und durchlässig für die Dinge des Lebens, was dem Schreiben den Atem des Lebendigen verleiht – zugleich Humus für stilistische Brillanz. Last but not least fährt sie fort: „Ich schriebe nicht für die andern – und nicht für die Nachwelt, gibt es denn eine? –, schließlich bleibt unbestimmbar, ob, was im Augenblick gilt, nicht binnen kurzem alle Gültigkeit verliert.“ Leseprobe
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Wallstein Verlag, Göttingen!
© Hartmut Fanger www.schreibfertig.com
„Forever Young“ – zum Achtzigsten von Bob Dylan
Maik Brüggemeyert (Hrsg.): „Look Out Kid. Bob Dylans Lieder, unsere Geschichten“, Ullstein Buchverlag GmbH, Berlin 2021
„Look Out Kid“, eine literarische Anthologie zum 80. Geburtstag des Literaturnobelpreisträgers, zugleich Hommage an den Songwriter und Dichter. Wie ein Musik-Album mit „Tracklistening“ durchkomponiert, erzählen zwanzig Autoren, inspiriert von zwanzig Bob Dylan Songs, zwanzig Geschichten auf 271 Seiten. Dabei handelt es sich um so unterschiedliche zeitgenössische Musiker und Schriftsteller, wie Jan Brandt, Judtih Holofernes, Michael Köhlmeier und Benedikt Wells, um nur einige zu nennen. Auffallend, dass es sich dabei vornehmlich um jüngere Autoren handelt, die teils noch nicht einmal auf der Welt waren, als Bob Dylan seinen kometenhaften Aufstieg nahm.
Jeder Autor verbindet natürlich seine eigene Vorstellung mit der Person, der Musik und den Texten des Altmeisters, seine ureigene Geschichte, woraus sich die vorliegende Story-Sammlung letzten Endes speist. Zusammengenommen erfahren wir hier jede Menge Zeitgeist! Plastisch scheinen anhand der Songs von Dylan vor allem die 60er, 70er und 80er Jahre auf. So spielt etwa Tom Kummer auf die Englandtournee Dylans 1966 an, kommen das sagenumwobene (angebliche) Konzert in der Royal Albert Hall und Dylans Griff zur elektrischen Gitarre zur Sprache, womit er sein Publikum schockte. Ebenso wird Dylans eindeutige Positionierung gegen Krieg und Rassismus im Hinblick auf prägende politische Ereignisse transparent. Gleichwohl mit Blick darauf bringt uns wiederum Knarf Rellöm die traurige Erkenntnis nahe, dass der grausame Tod des Schwarzen George Floyd durch einen weißen US-Polizisten aus jüngster Vergangenheit „eine unendliche Zahl von Vorgängern“ hat, was in so manchem Dylan-Song immer wieder Thema gewesen ist. Doch fließen auch die Gegenwart der Pandemie und ihre Auswirkungen hier ein, wie bei Frank Schultz in seiner kunstvoll assoziierten Geschichte zu dem Song „Watching the River Flow“ während eines Ausflugs mit dem Rad an der Elbe.
Fesselnd, dabei rätselhaft, wie es ja auch den Liedern Dylans anhaftet, liest sich „Simple Twist of Fate“ von Marion Brasch, worin sie einzelne Motive des Songs in teils surrealistischer Manier zu einer schillernden Geschichte verwebt. Zugleich spiegelt die Anthologie all das wider, was uns an der Person Bob Dylans über seine Texte hinaus so in den Bann zieht. Und sei es die „Wildlederjacke mit zwei Knopfreihen – so wie Bob Dylan sie auf dem unscharfen Foto von Jerry Schatzberg trägt, das man auf dem Cover seines Album Blonde on Blonde sieht“, wie Maik Brüggemeyer es in „Fourth Time Around“ so schön vor Augen führt. Wie Mode überhaupt nicht unwesentlich das Zeit-Colorit bestimmt, so von Teresa Präuer in „Man in the Long Black Coat“ nahegebracht. Und immer wieder werden Anekdoten erzählt, so bei Polly Roche & Eric Pfeil, wo Bob Dylan in dem Leichenwagen von Neil Young, mit dem er zum Einkaufen fuhr, geschlafen hat.
Darüber hinaus kommt zur Sprache, was Scharen an Dynologen aus den Texten machen, teils streng wissenschaftlich, teils populärphilosophisch und nicht selten kritisch. So verbindet Christiane Rösinger in ihrem Beitrag über „Dont think twice, it’s alright“ das Ganze mit ‚Erbsenzählerei’, wenn es heißt, dass mittlerweile bei Wikipedia selbst die Erwähnung von Hunden in Dylans Werk aufgelistet wird. Dies wiederum gemahnt an den wissenschaftlichen Umgang etwa mit Klassikern wie Goethe, wo in der großen Weimarer Ausgabe mittlerweile jeder Einkaufszettel gesammelt, textkritisch überprüft und mit einem Anhang des Herausgebers publiziert wird.
Doch verweilen wir noch ein wenig bei den Geschichten über die Lieder des Großmeisters und gehen mit Bernadette von Hengst in „Boots of Spanish Leather“ auf US-Tournee, nehmen an der Oscar-Verleihung von Julia Roberts in Stefan Kutzenbergers „Let it be me oder Notting Hill“ teil, bei der illustre Namen wie Hugh Grant, Richard Gere und Sting der Story zusätzlich Glanz verleihen, oder lesen bei Frank Goosen in „It’s alright Ma I’m only bleeding“ von den in den 70er Jahren gängigen Generationen-Kämpfen, all den Vorurteilen der Älteren gegenüber den Jungen mit ihren langen Haaren und ihrer Hippie-Philosophie.
Ein Buch, das einfach Spaß macht, in dem man sich leicht wiederfinden kann und das neben Altbekanntem zahlreiche neue Aspekte zu dem Phänomen Bob Dylan beisteuert. Unbedingt lesenswert!
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl! Archiv
Buchtipp des Monats Mai-Juni 2021
© Hartmut Fanger Absurde
Verwicklungen
Jochen Schmidt: Ich weiß noch, wie King Kong starb,Verlag C.H.Beck oHG, München 2021
Auf unvergleichliche Art führt uns Jochen Schmidt mit seinem Erzählband „Ich weiß noch, wie King Kong starb“ die Absurditäten im Leben eines Autors, Vaters und Sohns einer alles dominierenden Mutter vor Augen. Stets mit leichter Feder überspitzt, stets mit Sinn für Humor und Skurriles, Freude an ungewöhnlichen Formulierungen, womit er immer wieder für Überraschungen sorgt. Teils lose miteinander verwobene Erzählungen, die am Ende nahezu als Roman durchgehen. Mit auf den ersten Blick einfachen, harmlosen Begebenheiten, die sich, sehen wir näher hin, jedoch eher als alles andere entpuppen, zieht der Ich-Erzähler seine Leser in den Bann. So zum Beispiel, wenn er während einer Familienzusammenkunft bei den Eltern auf die Toilette flieht, jenem einzigen Raum, in dem keine Bücher stehen, stattdessen „drei Dutzend Putzmittelsorten.“ Nur dort vermag er ‚ein bisschen zu sich zu finden’. Oder die Angst vor dem 10-Meter-Turm des indessen bald Mittvierzigers, selbstgestecktes, bislang verpasstes Ziel, das er mit Hilfe teils absurder Gedankengänge immer wieder hinauszuzögern versteht: „Dann bin ich tatsächlich oben, obwohl ich lieber noch weiter Leitern hochgestiegen wäre, denn jetzt rückt der Moment immer näher.“
Bemerkenswert die so ernüchternden wie wenig rühmlichen Erlebnisse eines Autors, der für sein Buch auf Tour geht, gehen muss. In Kauf zu nehmen sind neben langen Anfahrtswegen in öffentlichen Verkehrsmitteln, auf denen er seine zum Verkauf angebotenen Bücher selbst transportieren muss, das Nächtigen in heruntergekommenen Pensionen, eine besserwisserische Hörerschaft in einem ehemaligen, zum Kulturzentrum umfunktionierten Schlachthof. Von der verzweifelten Aktion, mit seinen Büchern in einer Buchhandlung präsentiert zu werden, um eine ‚Lücke’ zu füllen, ganz zu schweigen. Insbesondere k-misch und nicht minder kritisch wird es, wenn die Deutsche Bundesbahn mit ihren Zügen als „Stehplatzhotel“ aufs Korn genommen wird. Etliche Schwarzweißbilder wiederum illustrieren die Reise nach Budapest mit David Wagner. Selbst dort ist der Allerweltname Jochen Schmidt offenbar nicht selten, so dass ihm im Zuge einer Verwechslung ein Buch über Pina Bausch, das er nicht verfasst hat, zum Signieren vorgelegt wird.
Köstlich nicht zuletzt Plaudereien aus dem Nähkästchen, etwa über den weltabgewandten Proust, wie aus der Feder von dessen Haushälterin Céleste Albaret zu vernehmen, der ‚nachts arbeiten und tagsüber schlafen musste’, panische Angst vor Staub und Mikroben hatte, oder wenn der Ich-Erzähler in der Hauptfigur aus Gontscharows „Oblomow“ weniger den sprichwörtlich faulen Nichtstuer als vielmehr den ‚sympathischen Hypersensiblen’ sieht. Alles in allem ein Feuerwerk an Ideen, an heiteren Episoden und zum Nachdenken anregenden Momentaufnahmen. So leichte wie tiefgründige Lektüre, gerade richtig für die anstehenden Sommertage.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verlag C.H. Beck!
© Erna R. Fanger
Corona-Lockdown – „Pantherzeit“ – Vorboten einer neuen Zukunft
Am 28. Dezember 2020 startete auf NDR Kultur die neunteilige Lesung aus dem noch unveröffentlichten Manuskript von Maria Bodrožić , das diesen Februar unter dem Titel Pantherzeit. Vom Innenmaß der Dinge im Otto Müller Verlag, Salzburg, erschienen ist.
Einer muss den langen Atem haben
Warum Pantherzeit. Es war für die heute in Berlin lebende, aus Kroatien stammende Autorin eine Eingebung, die sie traf wie ein Blitz, sie Rilke aus dem Regal ziehen ließ, um sich das berühmte Gedicht noch einmal zu Gemüte zu führen:
Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
Rainer Maria Rilke, 6.11.1902, Paris
Die Relektüre des Gedichts im Kontext der Pandemie beschreibt Bodrožićals ‚starken Moment’, der die folgende Zeit ‚vorweggenommen hätte’, und las es fortan zwei Monate lang mit ihren Nachbar:innen des großen gemeinschaftlichen Wohnprojekts, in dem sie mit Mann und kleiner Tochter lebt, abwechselnd auf dem Balkon. „Durch die Gitterstäbe auf die Welt hinauszusehen, macht die Welt sehr klar und deutlich.“ Im Zuge dessen ist ihr zugleich aber auch bewusst geworden, wie viel Grund sie hat, dankbar zu sein – „das war eine große Erfahrung“. Und haben am Anfang noch viele mitgemacht, war sie zum Schluss mit ihrem Mann allein, es weiterhin allabendlich zu rezitieren: „Einer muss den langen Atem haben und etwas durchschreiten.“
Vom Innenmaß der Dinge
Anknüpfend an die Vorstellung der spanischen Nonne Teresa von Avila (1515-1582), dass die menschliche Seele einer inneren Burg mit vielen Zimmern entspräche, habe sie „diese Zimmer schreibend abgeklopft“. Darunter ‚das Zimmer der Schmerzen, das der Biografie, der eigenen Verfasstheit genauso wie das Zimmer der äußeren Welt, etwa der Ökonomie, des Kapitals, aber auch das Zimmer der inneren und der äußeren Zeit’, um nur einige hier festzuhalten. Und wie von vielen zu vernehmen, erlebt sie den ersten Lockdown als ‚ganz großen Spiegel’ und Brennglas zugleich, in dem Abgründigkeit und Unvermögen menschlichen Verhaltens umso schärfer zutage treten. Zwingend macht es deutlich, wie grundlegend es zu hinterfragen ist. Eben dies tut Bodrožić im Zuge ihrer poetischen Bestandsaufnahme, einer Art Introspektion über den Zustand der Welt.
Was wir verpassen, wenn wir das Alte zurückersehnen
Angesichts gerade jetzt des Entstehens der Möglichkeit einer neuen Zukunft wird Bodrožićumso mehr bewusst, was sie nicht will, nämlich „dass die alte Mentalität der Ellenbogen und Gleichgültigkeit zurückkehrt“. Mehr als das Neue ängstigt sie das Alte. Ebenso wie allein der Gedanke daran, dass nach dem Lockdown ‚die Autos mit ihrem Krach und Gestank die Stadt wieder an sich reißen und die währenddessen erlebte Stille vergessen machen’, sie mit Trauer erfüllt. Wer nur das sucht, was er kennt, dem ist die Sicht neuer Wirklichkeitsbilder versperrt, eindrucksvoll dokumentiert von dem Begründer des alternativen Nobelpreises Jakob von Uexküll. Der fand, zu Gastbei einem Freund, täglich zum Mittagessen einen irdenen Wasserkrug an seinem Platz vor, den der Diener eines Tages zerbrach und ihm stattdessen eine Glaskaraffe hinstellte. Beim Essen suchte er nach dem Krug, sah die Glaskaraffe nicht. Erst nachdem man ihn ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht hatte, war er in der Lage, sie wahrzunehmen. Solange uns alte Denk- und Sehgewohnheiten nicht bewusst sind, hindern Sie uns nicht selten daran, das Neue, das längst in die Welt drängt, in Augenschein zu nehmen. „Vielleicht“, so Bodrožić, „ist der wichtigste Aspekt dabei, dass das, was vor uns erscheint, zunächst geistig ist ..., das uns seelische Fingerkuppen und geistige Sehkraft, Vorauskraft gleichermaßen abverlangt.“ Vorausgesetzt, wir sind offen dafür.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Otto Müller Verlag!
Buchtipp des Monats März 2021
© Hartmut Fanger
Menschenaffen – unsere Brüder
T.C. Boyle. "Sprich mit mir"
Roman, Hanser Verlag GmbH & Co KG, München 2021
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren“
Das Ganze spielt in einer Zeit des großen Linguisten-streits über die Frage, inwieweit Affen sprechen lernen, sich zumindest in Gebärdensprache ausdrücken können. Laut dem bekannten, ganz realen Linguisten Chomsky war das Anfang der Siebziger der Forschung ein Dorn im Auge und wurde schlichtweg negiert – und dies, obwohl auf dem Gebiet schon einige Erfolge zu verzeichnen waren. Zumindest weisen die Versuchsreihen im Hinblick auf die Evolution verbaler Kommunikation stark darauf hin. So auch für die Protagonisten des Romans, Professor Guy Schermerhorn und seine Assistentin Aimiee. Der von ihnen betreute Schimpanse Sam erschien ihnen zu allem hin menschlich, galt gar als Familienmitglied. Finanziert wurde ihre Forschungsarbeit von Fördermitteln. Bis Big Boss Moncrieff in Erscheinung tritt, dem Sam gehört und der ihn wieder in Besitz nimmt, um ihn in einen Käfig zu sperren. Von nun an ist das Leben Sams ein völlig anderes, von Angst und Schmerz und ihn umgebender Dunkelheit geprägt. Bis wiederum Aimee ihn auf abenteuerliche Weise befreit. Doch dies Glück ist nicht von Dauer ...
Dabei wartet Boyle mit jeder Menge weiterer spektakulärer szenischer Darstelllungen auf. Sei es, wenn von der Teilnahme Sams an der Fernsehrateshow „Sag die Wahrheit“ oder von dessen Taufe die Rede ist. Frappierend nicht zuletzt der Kontrast zwischen einem liebevollen, empathischen Umgang mit dem Tier und der Tatsache, dass Tiere juristisch bis heute als Sache definiert werden.
Wir erleben einerseits den Boyle, den wir schon immer gern gelesen haben, mit witzigen Einfällen und farbigen Schilderungen, exzellenter Recherche und dem unverkennbar lockeren Schreibstil. Andererseits bringt er diesmal wirklich grausame Wahrheiten zur Sprache, indem er ungeschminkt aufzeigt, wie es Tieren ergeht, die zu Forschungszwecken missbraucht werden. Nichtsdestotrotz ein Muss für alle Boyle-Fans. Stehen am Ende – auch wenn dies traurig anmutet – doch Empathie gegenüber der Tierwelt, Umwelt-Engagement und Lust am Text im Vordergrund. Nachhaltig beeindruckend Boyles Versuch, sich in das Denken eines Schimpansen hineinzuversetzen.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Hanser Verlag!
Dezember 2020 - Januar 2021
© Erna R. Fanger
Virtuos & Wortgewaltig
Gerhard Stadelmaier: „Don Giovanni fährt Taxi. Novelletten",klöpfer.narr, Tübingen 2020
Gleich mit der Widmung zu Beginn „den Klaviergeistern aus Schumanns op. 21, mit Dank auch an Max Frisch, Marina Zwetajewa, William Shakespeare, Lorenzo da Ponte, Patrick Süskind – und alle unerhörten Frauen“, wird hier ein beachtlicher Referenzraum eröffnet. Der von Robert Schumann geprägte Gattungsbegriff verdankt sich im Übrigen dessen Intention, in seinen Klavierstücken „größere zusammenhängende abenteuerliche Geschichten“ zu erzählen, die er dann als Novelletten bezeichnete. Nicht selten hat Schumann diese mit Präambeln versehen, etwa einem Zitat aus Shakespeares Macbeth oder Versen aus Goethes West-östlichem Divan und damit einmal mehr eine Brücke zu Literaturen geschlagen, eine Brücke, die sich hier auch wiederum in umgekehrter Folge Stadelmaier zu eigen gemacht hat, indem er etwa, wie oben zu entnehmen, in sechs „Intermezzi“ von insgesamt 15 Novelletten auf Schumanns ‚Klaviergeister aus Op. 21‘ Bezug nimmt.
Dieser Erzählband des so gefürchteten wie legendären Theaterkritikers, einer der Letzten seiner Zunft in der Tradition eines Alfred Kerr, versammelt hier Geschichten von immenser erzählerischer Wucht und ausgesprochener „Lust am Text“. „Hier steh ich nun, ich kann nicht anders“ – das berühmte Lutherwort möchte man auch Stadelmaier in den Mund legen. Der wiederum kann nicht anders, als die Welt als Bühne zu betrachten. Das Repertoire der Bühnenklassiker hat er sozusagen inhaliert und verwebt die Konflikte seiner Figuren nicht selten mit deren Helden. Schon gleich in der Titel gebenden Geschichte „Don Giovanni fährt Taxi“ fällt dies ins Auge. Dieser Taxifahrer, der seinen Gast zu den Weisen besagter Mozartoper fährt, weiß nicht nur über Oper und Sänger in Ost und West bestens Bescheid, sondern ist auch philosophisch bewandert. Ebenso weiß er, was er nicht (mehr) will und auch sonst Bescheid. So hat er zum Beispiel begriffen, wie schnell man an Dingen festhält, ja dran kleben bleibt. Vor allem an der Liebe. Mit all dem „Schmutz und Schmerz“, den ganzen Scherereien. Nach zwei Ehen Schluss damit. Er kauft sich fortan Liebe, bezahlt dafür. In Art Endlostiraden von martialischer Energie gibt er seine Sicht auf das Leben zum Besten. Vorher ‚Ehedepp im Beziehungsschmutz‘, frönt er jetzt der „Reinheit“, ist „der zärtlichste Mann von der Welt“, kniet auch schon mal vor einer Schönen, innerlich, und zitiert
aus dem Hohelied. Und für ihre Dienste großzügig bezahlend, liegt er „marktwirtschaftlich wie erotisch … hundertfünfzigprozentigrichtig“. Diesem Art Innerem Monolog eines durchgeknallten Taxifahres zu folgen, dabei im Geiste besagten eingeblendeten Opernklängen – der Text in Kursivschrift in Klammern integriert – zu lauschen, ist ein derb-saftiger Lesespaß, der einen unwiderstehlichen Sog ausübt. Und nicht nur bei dieser Geschichte kann man dem Autor nur beipflichten: „Wenn man in der Wirklichkeit die Augen auf macht und die Ohren spitzt vor allem, dann erlebt man seltsame und tolle Dinge.“
Stark in „Intermezzo II: Fürchtenmachen“ (Kinderszene)gleich der erste Satz: „Da vorne steht es und reißt sein schwarzlackiertes Maul auf wie ein gefräßiges Raubtier“ und damit auf den Punkt gebracht, wie die Klavierschülerin sich kurz vor dem Auftritt vor Publikum fühlt. Nämlich wie „Häppchen roher Mensch, ein Häufchen Kind.“ Da mutieren die Tasten zu scharfen Zähnen eines riesen Mauls, in das hinein es seine Finger legen muss. Und das vor Eltern, Geschwistern, Großeltern. Und das kleine Mädchen mit ihrer Bach-Mottete vor dem Ich-Erzähler, zugleich Leidensgenossen an der Reihe, wird dann auch vom Klaviermaul geschnappt und verschlungen. Die Tränen schluckt es hinunter. Nicht so der Ich-Erzähler, der den ersten Akkord aus Schumanns „Kinderszenen“ lediglich anschlägt, bewundernd den Klängen lauscht und dann zum Entsetzen des erwartungsvollen Musiklehrers die Hände im Maul des Untiers ruhen lässt. Die ganze „Kinderszene“ von erfrischender Vitalität, rübergebracht mit Empathie für die kleinen Opfer der Musikpädagogik, denen der Protagonist hier ein echtes Schnippchen geschlagen hat.
Ein Glanzstück an Empathie wiederum ist „Dorf und Depp“. Als Rondo angelegt, dessen Ausgangspunkt der Tod des hier Porträtierten ist, von wo aus dessen Lebensgeschichte aufgerollt wird, eingebettet in die skurril anmutende Dorfgemeinschaft. Auch hier im großen Stil die Ouvertüre, die am Ende auch den Schluss bildet: „Als sie ihn fanden, lag er da wie ein großes Insekt. Das Gesicht gegen den Ackerboden gedrückt. Arme und Beine weit von sich gestreckt. Er hatte sich wohl im Fallen noch abstützen wollen.“ (Leseprobe) Das im Folgenden geschilderte Dorf-Ambiente mutet kafkaesk an. Etwa die Hütte, die zugleich als Vereinsheim, Wirtsstube und Gesellschaftshaus fungiert, gelegen am Rand eines Teichs inmitten von Feldern und umgeben von „kleineren, durch Zäune voneinander getrennten Parzellen … , in denen Ziegen, Schweine, Ponys, Hasen … gehalten wurden.“ (Leseprobe). Gezeugt im Suff von seinen noch jungen Eltern, die wie etliche Dorfbewohnerim Übrigen eng miteinander verwandt sind, hat Dorfdepp Wilhelm, halbblind und nicht ganz richtig im Kopf, sein Geld durch spontane Gesänge verdient. Nicht über fünf Töne hinausgehend, wohnte diesen nichtsdestotrotz oder gerade deshalb eine verführerische Magie nach Art von Schamanen inne, wie er auch stets mit seinem Gesang dort zugegen war, wo jemand das zeitliche segnete.Erzählerischer Höhepunkt ist hier ein Brötchenkauf am Sonntagmorgen, wo zwischen dem Minuten dauernden Hervorbringen seines Anliegens und der endlosen Inanspruchnahme von Zeit, die abgezählten Münzen auf den Zahlteller am Tresen zu legen – indessen hatten sich lange Schlangen gebildet – dies sowohl von der Verkäuferin als auch der Dorfgemeinschaft mit stoischer, dabei freundlich-wohlwollender Geduld hingenommen wird.
Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt kloepfer.narr in Tübingen.
Buchtipp des Monats
November-Dezember 2020
© Erna R. Fanger
„Körrt Switters“ – Avantgarde-Künstler und Migrant
Ulrike Draesner: „Schwitters",Penguin Verlag, München 2020
Draesners „Schwitters“ – Art Künstlerroman von 471 Seiten – ist ein durchweg mimetisches literarisches Unterfangen. Und zwar im so konkreten wie komplexen Sinne von Mimesis als „sich ähnlich machen“, „zur Darstellung bringen“, „ausdrücken“, „vorahnen“*. „Schwitters“ beruht zweifellos auf historischen Fakten. Draesner greift sie reichlich auf und bestens recherchiert. Doch weit darüber hinaus kommt ihre Annäherung an die Figur dieses Ausnahmekünstlers einer Anverwandlung seiner Person sowie dessen dadaistischer Verfahren gleich. Deren Merkmal wiederum ist die Dekonstruktion bestehender Wirklichkeit und damit Revolte gegen konventionelle Kunst und Politik schlechthin. Nicht zuletzt Antwort auf die Zerstörung von Sinn und Werten im Zuge des Ersten Weltkriegs. So gesehen, ist dies opulente Werk über den von den Nazis als „entartet“ abgestempelten und verfolgten Avantgarde-Künstler ein genialer Wurf. Befeuert vom lebendigen Erkenntnisinteresse Draesners an der Figur Schwitters, der heute – nahezu vergessen – als einer der bedeutendsten und einflussreichsten Künstler der Avantgarde des 20. Jahrhunderts gilt. Verbindet man ihn hierzulande meist allenfalls mit dem Dada-Gedicht par excellence „Anna Blume“, hat sich Draesner eher dem bildenden Künstler Schwitters gewidmet, als der er im englischen Exil offenbar deutlich stärker wahrgenommen wurde als in Deutschland. Dabei nähert sich Draesner, aus verschiedenen Perspektiven erzählend und mit einem gehörigen Maaß an Empathie, nicht nur Schwitters, sondern auch dessen Frau Helma, die bis zu ihrem Tod dafür sorgte, dass sein Werk dem Zugriff der Gestapo entging. Später erfahren wir die hier erzählte Geschichte aus der Sicht der Londoner Geliebten, Edith »Wantee« Thomas, die sich um den von Flucht und Lager gesundheitlich schwer angeschlagenen und geschwächten „Körrt“ rührend kümmerte, woraus eine tiefe Liebe erwuchs, die ihm noch einmal so etwas wie ‚den Zauber des Anfangs’ beschert hat.
Draesners fantasievolle, aus der genauen Kenntnis des Werks Schwitters’ gespeiste und empathische Anverwandlung setzt der Verlag wiederum in dem ästhetisch bemerkenswerten Buchumschlag um: Doppelt gefaltet, innen mit Bild- und Textteil, versammelt er linkerseits collageartig die Lebensstationen Schwitters’ unter dem Motto „Kurt pfeift das gute Leben“, rechterseits „Kurt pfeift die andere Seite des Lebens“. Wie sich Draesners Anverwandlung der Figur Schwitters im Text selbst ausnimmt, mag nachstehende Leseprobe verdeutlichen:
„Er hatte seine Gedichtbände vermerzt, jedes Mal zu Beginn seines Auftritts ein Führerbild von der Wand genommen, es an den Rand der Bühne gestellt und das Publikum aufgefordert, es anzuspucken. Das akzeptierte er als Applaus! Er erfand einen braunen Hasen, der um die Ecke sprang, die es nicht gab, erzählte vom stärksten Mann der Welt, der Frauen über das Radio schwängerte, so dass jede Dame, ‚deutsche Präzisionsarbeit’, nach neun Monaten einen Zwerg gebar, und lernte seit einem Jahr seine Gedichte auswendig.“
Bei besagtem „Vermerzen“ handelt es sich um eine Wortschöpfung, die sich von Schwitters‘ Merzbau ableitet. Eine höhlenartig über mehrere Stockwerke angelegte, mit allerhand collageartigen Objekten und Skurrilitäten versehene, begehbare Skulptur im Haus seiner Eltern in Hannover, die 1943 einem Bombenangriff zum Opfer fiel. Wobei Schwitters das Wort Merz einem Zeitungsausschnitt mit einer Anzeige der „Kommerz- und Privatbank“, verdankt, indem er die Silbe „merz“ herausschnitt. Auch in seinem norwegischen Exil entstand ein Merzbau, der aber im Zuge eines Brands zerstört wurde. Die im englischen Exil entstandene „Merz Barn“ wiederum blieb unvollendet, als er 1948 starb, bestand nur aus einer Wand. Dass Letztere 1965 auf Initiative Richard Hamiltons abgetragen wurde, um in der Hatton-Gallery der University of Newcastle Einzug zu halten und so noch einmal zu Ehren zu kommen, bildet den glücklichen Schluss dieses Buches.
In drei Teilen erzählt – „Das deutsche Leben“, „Das englische Leben“, „Das Nachleben“ –, werden darin, nicht unbedingt immer der Chronologie folgend, drei Themenschwerpunkte kunstvoll miteinander verwoben: Das Thema Flucht und Vertreibung, die Kunst des 20. Jahrhunderts und, last but not least, das Thema Sprache. Themenschwerpunkte, die Draesner umso mehr mit dem Gegenstand ihres Interesses insofern verbinden, als sie wesentlich ihre eigene Biografie geprägt haben. So entstammt Draesner selbst einer aus Schlesien geflohenen Familie, literarisch in „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ (2014) verarbeitet, und als Schriftstellerin, zugleich „Poeta Docta“, ist sie natürlich auch von der Kunst des 20. Jahrhunderts affiziert, arbeitet bisweilen in intermedialen Projekten auch mit bildenden Künstlern zusammen. Desgleichen ist sie im Medium Sprache doppelt verankert. Lebte sie doch immer wieder in England, switcht zwischen Deutsch und Englisch hin und her und hat „Schwitters“ sogar erst auf Englisch geschrieben. Zweisprachigkeit prägte auch die letzten Lebensjahre Schwitters’, erst in London,später in Ambleside im Lake District. Die hier erhellten biografischen Kreuzpunkte scheinen wiederum geradezu prädestiniert, das eingangs diesem kongenialen Werk zugrunde gelegte mimetische Prinzip zu bestätigen. Dem Leser wiederum bietet es einen großartigen Einblick in das Leben eines so vielseitigen wie unterschätzten Künstlers, der neben seiner sprichwörtlichen Merzkunst auch als bildender Künstler ebenso wie als Schriftsteller und Lyriker in Erscheinung trat. Selbst Theatertücke und das Libretto zu einer Oper hat er verfasst. Eine schillernde Figur, der Draesner hiermit ein wahrlich gebührendes Denkmal gesetzt hat.
Für wissbegierge Sprachbesessene dieLektüre für zwischen den Jahren!
* Christoph Wulf: Mimesis, in „Einleitung“, ewi-psy.fu-Berlin.de
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Penguin Verlag.
Buchtipp des Monats
November-Dezember 2020
© Hartmut Fanger
Vom abgründigen Traum, ein Autor zu sein
Hilmar Klute: „OBERKAMPF“, Galiani Verlag, Berlin 2020
Ein nicht nur für die schreibende Zunft ungemein lesenswerter Roman. Denn mit dem Protagonisten Jonas Becker, seines Zeichens Schriftsteller, geht es darin stets auch um das Schreiben. Auserkoren hat er sich dazu Paris, Mekka der Künstlerseelen. Sein erklärtes Ziel, ein Buch über den von ihm verehrten Boehmien Richard Stein, gleichfalls Schriftsteller, zu schreiben. Dass seine Ankunft in Paris ausgerechnet mit dem Tag zusammenfällt, wo der Anschlag auf die französische Satirezeitung Charlie Hebdo verübt wird, macht ihn ungewollt zum Zeugen des damit von einem Tag auf den anderen über Paris verhängten Ausnahmezustands. Daran, wie sich das anfühlt, lässt uns der Autor hautnah teilhaben. Thema, das durch die drei jüngsten islamistischen Terroranschläge innerhalb weniger Wochen von trauriger Aktualität zeugt und damit zusätzlich an Brisanz gewinnt.
Spannend, dabei nicht wenig provokant, liest sich dann auch, wenn Klutes Protagonist im Gegensatz zur vorherrschenden Meinung Verständnis für die Attentäter zeigt. So sieht er sich immer wieder die Gesichter der beiden Brüder an, die ‚den Spaßvögeln’ der Satire-Redaktion “das Hirn aus den Schädeln geschossen hatten“, und überlegt, inwieweit es sich dabei um „eiskalte Mörder“ handele, „feige Killer“, oder ob es „nicht im Gegenteil sehr viel Mut dazu“ bedurfte, „aus einer der elenden Hochhausburgen der Banlieues in die Stadt zu fahren, in eins der schönen, reichen und stolzen Viertel dort ...“ Sich dann zu Fuß auf den Weg zu machen, bis sie die Leute fanden, „die ihren Gott verhöhnt hatten“. Schließlich kommt Jonas Becker zu dem Schluss, dass das Ganze als „eine Mission, eine Kreuzritterfahrt, ein heiliger Krieg gegen die Ungläubigen ...“ [Leseprobe] angesehen werden könne.
Doch nicht nur die Ereignisse des Anschlags auf Charlie Hebdo beschäftigen den Protagonisten. Da ist zum einen die Liebe zu Christine, mit der er die Nächte verbringt, zum anderen sein Hauptanliegen, die Begegnung mit seinem Idol. Jenem sechsundachtzigjährigen Schriftsteller, Richard Stein, in Fachkreisen hoch angesehen, dessen Bücher jedoch keiner liest. Wider Erwarten führen die Gespräche zwischen Jonas und Stein für Ersteren jedoch zu einem Desaster. Zu Beginn noch hoffnungsvoll, so, wenn die Gespräche um die Bedeutung von Sprache, Gewalt, das gemeinsame Essen kreisen oder sie über Elias Canetti resümieren. Doch zunehmend reißt im Zuge dessen der so brillante wie exzentrische Stein, von unumstößlicher Autorität, das Zepter an sich. Und nach einem Disput, ob Jonas ein Interview oder eine Biographie plane, insistiert dieser, mit dem Verlag sei Letzteres abgemacht. Stein hingegen eröffnet ihm:
>„Dann sagen wir dem Verlag, dass wir beide hier, am Abend des schrecklichen Mordtages in Paris, im wunderbaren Restaurant Lao Siam, eine Änderung des Fahrplans beschlossen haben.“ Stein winkte dem Kellner zu, der sofort sein Lächeln anknipste und an den Tisch eilte.
„Bringen Sie uns doch eine Flasche Champagner, was haben Sie denn Gutes da, Monsieur?“ ... „Bollinger, très bien, magnifique, Kim on va prendre la bouteille.“
Mit einem triumphalen Lächeln zu Jonas: „Das wird in Ihrem Budget enthalten sein, oder?“<Leseprobe
Einmal mehr beweist der seit seinem Erfolgsdebut „Was dann nachher so schön fliegt“ bekannte Autor Hilmar Klute hier Sinn für Humor, womit er selbst schwerwiegenden Themen, wie einem Terroranschlag, so etwas wie Leichtigkeit abgewinnen kann.
Auf die Spitze getrieben wird das Verhältnis des ungleichen Paars, als Jonas und Stein sich zwischenzeitlich in Amerika aufhalten, wo sie in San Francisco Steins Sohn suchen und Jonas sich im Nebel verfährt.
>„Wir sind einmal durch San Francisco gefahren und an der anderen Seite wieder heraus!“, rief Stein. „Wie zwei Idioten. Herr Becker! Wie zwei Vollidioten!“< Leseprobe
Die zunehmenden Spannungen im Zuge besagter Reise kulminieren, indem Jonas Stein eröffnet, dass er kein Buch mehr über ihn schreiben könne, dass er ihm sein Konzept aus der Hand genommen und eigenmächtig geändert habe. Stein wiederum gibt ihm zu verstehen, dass er mit einer Biographie über ihn sowieso überfordert, sozusagen zum Scheitern verurteilt gewesen sei. Letztendlich entlarvt er ihn, indem er infrage stellt, dass er überhaupt seinetwegen nach Paris gekommen sei, sondern er in Wirklichkeit nur ‚sein bisheriges langweiliges Leben hätte wegwischen wollen’. ...
>Natürlich hatte Stein recht. Jonas hatte sich aus seinem alten Leben gestohlen und war ... in das Leben eines alten Mannes gezogen. Nicht in ein neues, eigenes Leben ... Und zur Strafe dafür saß er jetzt im Nebel der kalifornischen Provinz fest, weil Gott, der begnadete Trash-Regisseur, sie aus der Innenstadt von San-Francisco ins Nirgendwo gestoßen hatte.< Leseprobe
Mit Witz und Esprit werden hier Tiefen und Untiefen des Schriftstellerlebens austariert, Ausflüchte und Fluchten, Sinnsuche und Scheitern als unabdingbare Voraussetzung desselben erhellt.
Ein Buch, das den Leser nicht loslässt, ihn Seite für Seite fesselt und das er erst dann weglegt, wenn er es zu Ende gelesen hat.
Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Galiani Verlag, Berlin!
© Erna R. Fanger
Die Herausforderung der Kunstfreunde
Kristof Magnusson: „Ein Mann der Kunst"Verlag Antje Kunstmann, München 2020
Abgesehen vom Titel, lassen allein die Namensgebung und das Ambiente erahnen, dass den Leser hier eine so feingezeichnete wie süffisante Satire über die Welt der Kunst erwarten dürfte. So, wenn der exzentrische Großkünstler von Weltrang, KD Pratz, auf seiner Burg Ernsteck, hoch über dem Rhein, zurückgezogen residiert. Abgestoßen von der „schlimmen“ Welt, die er indessen ebenso verabscheut wie den Kunstbetrieb, dem er sich von Beginn an seiner Karriere verweigert hat. Aber doch wiederum nicht abgestoßen genug, als dass er, der lange schon jedwedem Besuch den Einlass auf seinem Anwesen verwehrt hat, sich dem nun angekündigten seitens der Mitglieder des Fördervereins des Museums Wendevogel in Frankfurt hätte entziehen können. Immerhin treten sie an, den exklusiv seinem Werk gewidmeten Bau eines Museums finanziell zu unterstützen und auf den Weg zu bringen.
Bemerkenswert die Erzählperspektive, eine gekonnte Mischung aus sicherer Distanz und intimer Nähe aus der Sicht des Ich-Erzählers Constantin Marx. Als Sohn der Vorsitzenden des Fördervereins, Ingeborg Marx – Psychotherapeutin Anfang 70 und glühende Kunstliebhaberin, Feministin auch –, hat er einen privilegierten Zugang zu dem hier versammelten Personal. Seines Zeichens Architekt, momentan in der Warteschleife, erfordern es die Umstände, dass er schon gleich zu Beginn des Romans seine Mutter auf einer entscheidenden Sitzung des Fördervereins zu vertreten hat, um so notgedrungen Einblick in Tücken und Schwerfälligkeit der Bürokratie einer solchen Unternehmung zu gewinnen.
Das Ganze spielt im wesentlichen an einem Sommerwochenende in der Umgebung besagter Burg am Rhein, wo die Mitglieder dem von ihnen so geschätzten wie verehrten KD Pratz erwartungsvoll ihre Aufwartung machen. Kunst ist für sie eine Herausforderung, der sie sich mit leidenschaftlichem Engagement stellen. Das Ambiente geradezu prädestiniert, Kunst und Kultur, Wein und kulinarischen Genüssen zu huldigen. Ausflüge zu entsprechenden Sehenswürdigkeiten ‚nimmt man mit’. Allein, da prallen Welten aufeinander und die nicht immer zu vereinbarenden Beweggründe und Motive der in diesem speziellen Kosmos agierenden Figuren sorgen an diesem Wochenende nicht selten für Zunder – weniger offen ausgetragen als vielmehr subtil vernehmbar, sich zwischen den Zeilen manifestierend. So, wenn den so kunstsinnigen wie beflissenen Mitgliedern des Fördervereins seitens KD Pratz’ mit martialischer Wucht die Unzulänglichkeit des so üblen wie zu verachtenden Weltgetriebes um die Ohren gehauen wird, als wären sie nicht selbst Teil davon, als wären nicht sie es, die hier mit gemeint sind, und gediegener Mittelstand – mal ehrfürchtig, mal zerknirscht, mal verprellt – solche Schelte aber doch über sich ergehen lässt. Entsprechend köchelt und brodelt es, kommt gar zum Eklat.
Bei all dem entlarvt der Autor zwar seine Figuren in den festgefahrenen Rollenklischees, denen sie verhaftet sind, aber er tut dies ohne Häme, stattdessen mit wohlwollender Nachsicht und einem feinen Gespür für die Komik, die Figurenkonstellationen dieser Art mitunter innewohnt.
Lesevergnügen erster Güte bieten die gekonnten Dialoge, wo Muskelspiele, deftiger Schlagaustausch oder aber – besser noch – subtile Spitzen und messescharfe Pfeile das argumentative Hin und Her, Mit- und Gegeneinander dominieren. Zugleich versteht es Magnusson – gleichwohl mittels des Dialogs – seine Figuren als typische Vertreter ihrer Funktion in vorzüglicher Überzeichnung in Erscheinung treten zu lassen. Unterstrichen durch die der Charakterisierung überdies zuträgliche Namensgebung, die, stets witzig, den durchweg satirischen Tenor zusätzlich belebt.
Heiter, klug beobachtet und nicht zuletzt auch nachsichtige Liebeserklärung an die so wunderbare wie zugleich ach so unvollkommene Welt der Kunst mit ihren exzentrischen Akteuren, die einfach Farbe reinbringt und die wir derzeit umso schmerzlicher entbehren. Im gerade düster anmutenden Corona-Herbst insofern unbedingt eine Lektüreempfehlung!
Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Antje Kunstmann Verlag!
© Erna R. Fanger
Von der Einmaligkeit des Menschen - ein Schwanengesang
Georges-Arthur Goldschmidt: „Vom Nachexil“, Wallstein Verlag, Göttingen 2020
In krassem Gegensatz zu den zahlreichen Auszeichnungen, die Goldschmidtsowohl als Autor als auch Übersetzer, etwa von Nietzsche, Walter Benjamin, Kafka, Handke, ins Französische erhalten hat, steht seine Selbstwahrnehmung. So spricht der 92jährige, mit seiner gleichfalls hochbetagten Frau in Paris lebende Autor – obschon mit fröhlicher Gelassenheit – über sein Werk als von einer ‚Nabelschau’, und dass ‚er kein richtiger Autor sei, nie etwas anderes als über sich selbst erzählt habe’: „Es ist mein Schwanengesang: Umso intensiver, als es das letzte Buch ist ... “* Leseprobe
Noch einmal resümiert er in dem schmalen Band die im wahrsten Sinne des Wortes Grund legende Erfahrung des Exils. Kondensiert, verdichtet, dabei mit einer Bildschärfe in der Nahaufnahme, die den Leser angesichts der Unmittelbarkeit der Darstellung der Erfahrung solcher Entwurzelung als Elfjähriger wehrlos macht. Und im Zuge der Lektüre kommt er nicht umhin, vom Strudel des Lebensdilemmas des Autors gleichermaßen erfasst zu werden. Schon mit dem ersten Satz bricht es über ihn herein: „Wer einmal ins Exil getrieben wurde, kommt lebenslang nicht mehr davon ab.“ Leseprobe Fortan ist sein Leben in zwei nicht kompatible Hälften geteilt, einem Vorher, einem Nachher, einhergehend mit zwei sich überlagernden, verschiedenen Raumempfindungen. Die erste der Kindheit zugeordnet, ab dem Exil verbotene Zone, aus der er verstoßen wurde, die zweite, in der man sich erneut mit dem Alltag vertraut machen musste, um zu überleben.Ergreifend, wie Erinnerung sich im Text in einer außerordentlichen Leistung des Gehirns manifestiert:
Es galt jede Einzelheit der Heimat mitzunehmen, das kleinste Detail zu registrieren. Es galt, die Heimat in einigen Momenten so scharf zu photographieren, daß deren Grundzüge als Raster des Empfindens in einem bleiben konnten. Es ist erstaunlich, was das Gehirn bei solcher Gelegenheit alles leisten kann; es arbeitet derart perfekt, daß nach achtzig Jahren alles noch an Ort und Stelle ist, so sehr, dass unter jedem Wahrnehmungsbild der Gegenwart ein anderes, ein Phantombild aus der Vergangenheit hochkommt, nicht aus einer beliebigen Vergangenheit, sondern aus einer verbotenen Vergangenheit, aus der man ausgeschlossen wurde. Leseprobe
Allein der Präzision dieses sich ins Gedächtnis Rufens einer unerhörten Gefühlskonstellation haftet etwas Alarmierendes an. Ins Positive gewendet, könnte man von einer erhöhten geistigen Wachsamkeit, einer gesteigerten Präsenz sprechen, die sich durch das Gesamtwerk Goldschmidts zieht, hier seinen Höhepunkt erreicht. Und indem er einmal mehr eintaucht in das ihm vom Schicksal zugewiesene Schattenreich des Exils, das Gewesene mit dem geschärften Blick sowie luziden Bewusstsein des geistig hellwachen Hochbetagten in Augenschein nimmt, offenbart sich die ganze Bandbreite des Unfassbaren, die ganze Bandbreite der Ohnmacht.
Für Georges-Arthur Goldschmidt wiederum Anlass, anders über Bedingungen und Belange des Menschseins in seinem ganz spezifischen Kontext nachzudenken. Exemplarisch etwa in der Rückbesinnung auf all die frechen freien Geister der französischen Kultur des 17. Jahrhunderts, La Fontaine, La Bruyère, Pascal, Voltaire und Rousseau, die ihn Widerborstigkeit lehrten und wegweisend für ihn waren, selbstständiges Denken zu erlangen. Oder in tiefgreifender Erkenntnis, wie über den nie ganz zu erschließenden Wesenskern eines jeden – weit über vermeintliche ‚Nabelschau’ hinausweisend:
Jeder Mensch fühlt in sich selbst das stumme Raunen seines Selbstgefühls, er allein weiß, wie er selbst ist, wie es in ihm aussieht, wie sein Name nichts von ihm aussagt. Keiner ist, was man ihn zu sein bestimmt ..., was man ihm als Wesenszug aufgesetzt hat ... Jeder ist immer nur, was er ist und von dem er allein weiß, daher die Heiligkeit des menschlichen Seins, die unersetzbare Einmaligkeit eines jeden Menschen ... Leseprobe
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
* LESART I Beitrag vom 23.04.2020, Georges-Arthur Goldschmidt im Gespräch mit Andrea Gerk
© Erna R. Fanger
„Die unwürdige Greisin“ reloaded Benjamin Myers: „Offene See“, DuMont Buchverlag, Köln 2020. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Angelegt als Coming-of Age-Roman, ist es die Geschichte des indessen gealterten Schriftstellers Robert – zugleich Ich-Erzähler –, beginnend kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Er will raus aus der Enge der kleinen Welt der Bergarbeiter, wo er zuhause ist, bricht auf. Sein Ziel: die See. Doch kurz bevor er es erreicht, bleibt er durch einen Zufall bei der anarchischen Dulcie hängen. Eine Begegnung, die richtungsweisend für sein zukünftiges Leben als Schriftsteller werden soll. Dulcie wiederum legt zugleich eine andere Lesart nahe, gemahnt die ältere Protagonistin doch, unkonventionell, hedonistisch und voller Eigensinn,an Brechts„Die unwürdige Greisin“. In ihr, lebenserfahren, klug, gebildet und rebellisch gegen jede Form von Obrigkeitsdenken, hat der jugendliche Protagonist ein Gegenüber, wie er es von da, wo er herkommt, nie gekannt hat. Und da er kein Geld, Dulcie hingegen nie endende Aufgaben gegen Kost und Logis für ihn hat, verbringt er den Sommer bei ihr und ihrem Hund Butler. Er renoviert ein baufälliges Cottage, wo er auf ein Manuskript mit hochrangigen Gedichten der deutschen, von den Nazis geächteten Dichterin Romy Landau stößt. Dabei kommt er mit einem dunklen Geheimnis zwischen dieser und Dulcie in Berührung sowie mit deren für ihn unverständlicher, entschiedener Abneigung gegen das Meer.
Dazwischen bleibt viel Zeit, die Robert und Dulcie gemeinsam verbringen, wo Dulcie, Verlegerstocher und einst selbst Inhaberin eines Verlags, die ihm so ferne wie verlockende Welt der Bücher, der Malerei, der Künste überhaupt, nahebringt. Dabei stets im Blick den Wahnwitz des Kriegs, den Abscheu gegen den Nationalsozialismus und seine verheerenden Folgen. All dies konterkariert durch eine regelrechte Feier der Sinnlichkeit, der Welt des Genusses, ob Langusten oder ein saftiger Braten, bunte Gemüse, feinste Weine, Champagner, wie so kurz nach dem Krieg rar und seitens guter Freunde ihr ‚zugeschoben’. Dulci, gezeichnet als Freigeist und Lebenskünstlerin, zieht nicht selten vom Leder, wenn es um politische Gegner oder die Welt der Kleingeister und Spießer geht. Und ja, sie ist ein bisschen übertrieben, pathetisch bisweilen, was im Übrigen auch ihrem Schützling Robert anzulasten ist. Überdies überlagert sich gelegentlich die Perspektive des betagteren Schriftstellers mit der seines Jugend-Ichs. Schwächen, die man dem Roman jedoch allein schon insofern verzeiht, als er eine glühende Hommage an das Künstlertum ist, unabhängig, frei, voller schöpferischem Elan und Aufbruchsenergie. Und in der Danksagung am Schluss bestätigt sich einmal mehr für alle, die dieses Buch so lieben und sich von ihm in seinem leidenschaftlichen Plädoyer für die Kraft des Worts anstecken ließen, der Grund: „Es ist ... allen gewidmet, die sich darum bemühen, anderen ihre Leidenschaft für die Kraft des geschriebenen Wortes zu vermitteln.“
Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem DuMont Buchverlag
© Hartmut Fanger
Von Schreiben, Freundschaft
und einem Hund
Sigrid Nunez: „Der Freund“, Roman; aus dem Englischen von Anette Grube; Aufbau Verlag, Berlin 2020
Es geht um das, was uns bewegt. Um die Suche nach Sinn, nach einem erfüllten Dasein. Und es geht um das, was vor allem diejenigen berührt, die gerne schreiben, gerne lesen, kurz diejenigen, die eher in der Welt von Lektüren zuhause sind als im wirklichen Leben. Doch was hat das alles mit einem Hund zu tun. Dem wollen wir in dem hochkarätigen Buch von Sigrid Nunez „Der Freund“ nachgehen, für das sie 2018 den begehrten US-amerikanischen National Book Award erhielt und das sie über Nacht berühmt machte.
Apollo heißt der Hund, der dem Freund der Protagonistin gehörte und den dieser ihr nach seinem Selbstmord hinterlassen hat, was sie zunächst einmal vor ganz pragmatische Probleme stellt. Zum einen darf in der Wohnung kein Hund gehalten werden, zum anderen ist diese Wohnung, wie in New York üblich, mit ihren 45 Quadratmetern viel zu klein, erst recht für eine so riesenhafte Dogge wie Apollo.
Was ist es, neben seiner enormen Größe und Liebeswürdigkeit, was uns an diesem Tier in den Bann zieht? Da ist zum einen, dass es der Hund eines Schriftstellers und Kollegen, in einer kurzen Episode auch mal Lovers war und nun zum Freund der Ich-Erzählerin und Dozentin für Create Writing avanciert. Imgrunde hat sich für die Dogge also gar nicht so viel verändert. Der Protagonistin hingegen eröffnet es die Möglichkeit, im gemeinsamen Trauern mit dem Hund die Beziehung zu dem toten Freund fortzuleben. Und darin ging es, neben Schreiben und Literatur, um fast nichts anderes als um Frauen. Wozu sich ihm als Dozent für Creative Writing reichlich Gelegenheit bot. Und so bewahrheitet sich der lapidare, bereits zum Klischee geronnene Spruch, „Wer schreibt, der bleibt“, gleich auf zwei Ebenen. Zum einen durch den Hund, in dem für die Protagonistin sein einstiges Herrchen fortlebt, zum anderen in der Arbeit der Dozentin und Autorin, die im Zuge dessen mit dem Schreiben etwas Bleibendes zu hinterlassen vermag.
Dabei liest sich das Ganze, elegant formuliert, ausgesprochen leicht. Und dies, obwohl es den Leser zugleich herausfordert, in die Tiefen der Literatur einzutauchen, wenn sie den Gedanken W.H. Audens, Samuel Becketts, Gustave Flauberts, Milan Kunderas, Georges Simenons oder Christa Wolfs nachgeht. Und es hat natürlich auch etwas so Heiteres wie Anrührendes, wenn die an Depressionen leidende Dogge lächelt, sobald ihr Rilke vorgelesen wird, oder bei Knausgärd ihre Zuneigung kundtut.
Der in zwölf Teile gegliederte Roman, auf den dieses Genre vielleicht gar nicht zutrifft, der vielmehr den Verdacht provoziert, es könnte sich auch um einen autobiographischen Text handeln, spielt auf 235 Seiten die Klaviatur der großen Themen der Literatur durch: Tod, Liebe und Sinnsuche. Spannend, heiter, traurig, wie das Leben selbst, zugleich zutiefst wahrhaftig.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Aufbau Verlag, Berlin 2020 Archiv
© Hartmut. Fanger:
Meisterhafte Präzision
William Trevor: „Letzte Erzählungen“, aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2020.
Wer „Letzte Erzählungen“ des 2002 von Elisabeth II zum Ehrenritter geschlagenen und 2016 verstorbenen irischen Schriftstellers William Trevor in Händen hält, dem wird sehr schnell klar, dass es sich hierbei um ein Werk von Rang handelt. Zehn meisterhafte Erzählungen – ein literarisches Kleinod. Nahezu jeder Satz von existentieller Dimension. Dicht geschrieben, den Leser fordernd, zugleich mitreißend und bis ins kleinste Detail genau. Darüber hinaus anrührend und zum Nachdenken animierend.
Vergänglichkeit das Stichwort. Immer wieder ist von Endlichkeit, von Einsamkeit und Tod die Rede. Einfühlsam und mit Empathie führt Trevor seine Figuren vor Augen. Melancholisch der Grundtenor. „Mitten im Leben sind mit dem Tod umfangen ...“ tönt es von Orgel und Chor während der kirchlichen Trauerfeier in „Das unbekannte Mädchen“, was zugleich Leitsatz vieler dieser Erzählungen sein könnte.
Dabei sind in den Haupterzählstrang stets Nebenhandlungen eingebettet, die sich an bestimmten Punkten, wie nach einem geheimen Strickmuster, wieder zusammenfinden. So zum Beispiel das Treffen zweier Frauen „Im Caffé Daria“, wo nach und nach herauskommt, dass sie ein und denselben Mann geliebt haben, von dem sie aus ihrer Erinnerung heraus sprechen. Eine Geschichte, in der es insbesondere um ein Haus, Schicksal, um Freundschaft, Liebe, Verzweiflung und um besagten Tod geht.
In „Mrs Crasthorpe“ wechseln sich zwei Erzählperspektiven ab. Da ist Etheridge, der seine Frau verloren hat und dies nicht fassen und akzeptieren kann. Dann die Titelheldin Mrs Crasthorpe, die in Kontrast hierzu die Rolle der ‚lustigen Witwe’ bevorzugt. Letzteres ist Etheridge natürlich zuwider. Die daraus entstehende Spannung beherrscht den gesamten Text, mündet an einer Stelle in den für das Ganze paradigmatischen Satz: „Ihre Avancen wurden von seinem anhaltenden Zorn über die gleichgültige Gier des Todes überlagert und kaum wahrgenommen.“
Paradebeispiel für mit Raffinement verschlungene Erzählperspektiven ist „Mr. Ravenswood“, wo sich besagter Titelheld mit der ihm sympathischen Bankangestellten im Restaurant einfindet und im Gespräch herauskommt, dass er vornehmlich von seiner Frau spricht, die bei einem von ihm verschuldeten Verkehrsunfall gestorben ist. Erzählt wird dies jedoch nicht aus der Perspektive des Titelhelden, sondern von der Bankangestellten in einem Moment, wo sich sie sich, im Park ein Sandwich verzehrend, eben daran erinnert.
Und doch sind die Geschichten bei allem Todesschwangeren zugleich prall gefüllt von Leben, treffen sich die Menschen in einer so hektischen Großstadt wie London auf Straßen, Plätzen und in gut besuchten Cafés. Das Ganze kunstvoll arrangiert und gewürzt mit jeder Menge sinnlicher Momente. So zum Beispiel, wenn in das ‚Caffé Daria Geschäftsleute hereinströmen, um das Frühstück nachzuholen, Freunde und Stammgäste nach Zeitungen greifen, die Croissants berühmt sind, das mittägliche Rührei mit geräuchertem Lachs als das beste von London gilt ...’
Bezeichnend, dass sich jede Seite in der großartigen Übersetzung von Hans-Christian Oeser gleich mehrfach zu lesen lohnt. Immer wieder kann man auf Entdeckungen stoßen, die einem beim ersten Lesen entgangen waren. Und immer wieder gibt es insofern auch Überraschungen. So revidiert der oben bereits erwähnte Etheridge am Ende seine Meinung von Mrs Catherope und versucht ‚das Rätsel’ um ihre Person zu ergründen: „Er ehrte das Geheimnis einer lästigen Frau und sorgte dafür, dass es gewahrt blieb.“
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2020
Siehe auch Buchtipp des Monats Dezember 2015:
William Trevor: "Ein Traum von Schmetterlingen" und Archiv
© Erna R. Fanger
Präsenz der Poesie
Pascal Mercier „Das Gewicht der Worte“, Carl Hanser Verlag,München 2020.
Hier war sich das Feuilleton landauf landab einig, und das nicht ohne Häme: zu redundant, das Personal, lauter Feingeister, zu blass, Bildungsbürgertum ... etc. Zugegeben, der Plot wirkt konstruiert, die Figuren in ihrer ethisch-moralischen Überhöhung unfreiwillig überzeichnet.
Warum wir nichtsdestotrotz eine Lanze brechen für das Werk, ist die Begeisterung für Sprache, die es transportiert – ein glühendes Plädoyer für ‚das Gewicht der Worte’, das trägt. Und es ist das Vergnügen am Sinnieren über Wahrnehmung und Perspektiven, über Lust und Last, die Schreibende anstachelt, die Welt auf ihre ganz eigene Weise immer wieder von neuem durchzubuchstabieren. Und es mag sich bei Lesern und Schreibenden jenseits der Hoheit des Literaturbetriebs ähnlich verhalten wie zwischen Laien- und professionellem Chor. Letzterer mag Ersteren an Perfektion übertreffen, aber die Liebe zum Singen, ohne jeden Sachzwang, wie dem Laienchor substanziell eigen, diese hochtrabende Freude, transportiert einen Zauber, der nicht nur nicht zu verachten, sondern mitunter durchaus auch nicht zu überbieten ist. Und es sind immer wieder Sätze wie dieser: „Jetzt öffnete Kenneth Burke im Nachbarhaus ein Fenster, blieb stehen und zündete eine Zigarette an; auch ihre glühende Spitze hatte, wie die Straßenlaternen, im Nebel einen feinen milchigen Hof“Leseprobe, die uns in ihrer bestechenden Präzision und poetischen Präsenz in den Bann ziehen.
Von Kind an von Sprachen fasziniert, lernt Protagonist Simon Leyland alle, die rund um das Mittelmeer gesprochen werden, heiratet schließlich Lydia, eine Verlegertochter aus Triest, und übernimmt später zusammen mit ihr den Verlag, was den in London ansässigen Briten nach Italien verschlägt. Sie haben eine Tochter, die eigentlich Ärztin werden will, jedoch zunehmend vom Gesundheitssystem enttäuscht ist und schließlich Abstand davon nimmt. Zu Beginn des Romans, 24 Jahre später, nachdem er London verlassen hatte, kehrt er dorthin zurück. Lydia ist inzwischen verstorben. Den Verlag hatte er zunächst alleine betrieben. Bis er ihn in einer Art Kurzschlusshandlung angesichts einer tödlichen Diagnose, die sich alsbald als Irrtum herausstellen sollte, kurzerhand verkauft hat. Ein Onkel, Professor für orientalische Sprachen, hat ihm sein Haus nahe London vererbt, und mit Kenneth Burke vom Nachbarhaus, der sich in seinen letzten Jahren um diesen gekümmert, alles für ihn geregelt hat, zugleich einen Freund.
An dieser Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt setzt die Erzählung ein. Dabei kreisen seine Gedanken um die Frage, was er aus der Zeit seines Lebens gemacht habe: „Es war ein Dunkel nach dem Ende eines Lebens, ein Dunkel, in dem die Zeit nicht mehr floss. Er würde nachher überall Licht machen und sie von neuem zum Fließen bringen.“LeseprobeDabei werden nicht nur die äußeren Stationen Leylands reflektiert, sondern zugleich neue Perspektiven entworfen. Denn hat Leyland sich bislang nur in Briefen an seine verstorbene Ehefrau Lydia schreibend Ausdruck verschafft, denkt er jetzt daran, weiterzugehen und selbst Erzählungen zu schreiben. Begleitet ist dieser Prozess von überbordendem Gedankenreichtum über die geheimnisvoll anmutende, von Worten ausgehende Schwingung, von ihrer Macht, die ebenso zu verschleiern und zu verdunkeln, als zu erhellen in Begriff steht:
"Wenn man in Gegenwart anderer über sich spricht, sagt man nie genau das, was man eigentlich sagen möchte: Selbst wenn man sich dessen nicht bewusst ist, hemmt einen die Rücksicht, entweder die Rücksicht auf die Wirkung der Worte in den anderen, oder die Rücksicht auf die Art und Weise, wie man für die anderen durch diese Worte erscheinen würde. Und nachher hat man, statt mit sich selbst in der Klarheit einen Fortschritt gemacht zu haben, mit diesen Wirkungen bei den anderen zu kämpfen".Leseprobe,
Stellen wie diese, wo Mercier den Worten und ihrer Wirkmächtigkeit auf den Grund geht, bergen für den literatur- und sprachaffinen Leser so manchen Schatz, den es in diesem Werk, allerhand Unkenrufen zum Trotz, mannigfaltig zu heben gibt.
"Und nun war ja etwas Neues dazugekommen: das Schreiben, die Arbeit an der eigenen Phantasie und die Suche nach den eigenen Worten, der eigenen Stimme. Das war etwas, was eine eigene Zukunft in sich trug. Wie lange würde sie dauern?"Leseprobe
.Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Carl Hanser Verlag, München 2020 Zum Archiv
Vier Freundinnen und ein Mann, der alles verändert
Julia Holbe: „UNSERE GLÜCKLICHEN TAGE“, Penguin Verlag, München 2020
Es sind die Szenen einer innigen Freundschaft zwischen vier Frauen, die dieses Debut der Luxemburger Autorin und einstigen Lektorin des renommierten S. Fischer Verlages so lesenswert machen. Authentisch führt Julia Holbe in „UNSERE GLÜCKLICHEN TAGE“ die alljährlich sich wiederholenden, unbeschwerten Sommerferientage an der französischen Atlantikküste vor Augen. Ein Meer voller Träume, Gemeinsamkeit, gegenseitigem Verständnis und Zusammenhalt. Urlaube, wie sie im wahrsten Sinne des Wortes im Buche stehen. Lange Abende am Strand, gutes Essen und so manches Glas Wein, das man genießt. Aber auch von Verrat und Tod und Trennung ist die Rede.
Neben anschaulichen Naturbeschreibungen ist es vornehmlich die aus den Fugen zu geraten drohende Gefühlswelt der Protagonistin und Ich-Erzählerin Elsa, die den Leser in den Bann ziehen. Sie verliebt sich ausgerechnet in Sean, den einzigen Mann in der Runde. Sogar ihre Heimat würde sie für ihn verlassen und für immer mit ihm nach Irland ziehen. Jener geheimnisvolle Sean, der kommt und geht und unverhofft wieder in Erscheinung tritt, um im nächsten Moment schon wieder zu verschwinden. Die Begegnung mit ihm hat für Elsa alles auf den Kopf gestellt, in ihr eine ‚schreckliche, entsetzliche Sehnsucht’ geweckt, am Ende das Gefühl, ‚nichts mehr im Griff’ zu haben'.
So berührend wie treffend der grundlegend melancholische Tenor, der sich in den tragischen Handlungsverlauf einschreibt. Und es ist die Magie, die dem Ganzen anhaftet, sei es der Landschaft, dem Meer und dem Sommerhimmel, sei es dem Verliebtsein, was wiederum "Lust am Text“ evoziert. So ist Elsa der Meinung, dass Sean ‚ohne Zweifel über magische Fähigkeiten’ verfügt oder der Sommer für sie‚ seit ihrer Kindheit etwas Magisches gewesen sei’.
Geschickt hält die Autorin den Leser bei der Stange, indem sie vor allem in dem einen wichtigen Punkt über weite Strecken nur in Andeutungen verfährt: Es muss etwas Gravierendes, alles infrage Stellendes in der Beziehung zwischen Elsa und Sean vorgefallen sein. Doch was, das soll an dieser Stelle nicht verraten werden.
Ein Buch, das einerseits in Ferienstimmung versetzt, andererseits zum Nachdenken über die Phänomene Liebe und Tod anregt.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Julia Holbe: „UNSERE GLÜCKLICHEN TAGE“
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem
Penguin Verlag
© Erna R. Fanger
Friedrich Hölderlin – Göttersucher
„Friedrich Hölderlin. Bald sind wir aber Gesang“. Eine Auswahl von Navid Kermani, Verlag C. H. Beck textura, München 2020.
Eine Offenbarung, zugleich Meilenstein für Liebhaber sowohl der Dichtung Hölderlins als auch der Buchkunst ist die zwischen 1975 und 2008 von D. E. Sattler herausgegeben Ausgabe seiner Werke im Verlag Stoemfeld/Roter Stern. Zumal darin verschiedene Fassungen berücksichtigt sind, selbst handschriftliche, sowie Notizen und Bruchstücke. Umso mehr trägt dieses Vorgehen dem prozessualen und fragmentarischen Charakter von dessen Dichtung Rechnung, im Gegensatz zu den vorausgehenden Werk-Editionen, die eine Abgeschlossenheit suggerieren, die Hölderlin weniger entspricht. Und findet Kermani in jüngeren Jahren kaum Zugang zu dem melancholischen Göttersucher mit dem ‚enervierend’ hohen Ton, leitet besagte neue Ausgabe einen Wendepunkt ein in Kermanis Hölderlin-Rezeption. So erkennt er jetzt in ihm den verzweifelt Suchenden, Ringenden. Sei es um seine Verbindung zu den Göttern, sei es um den Zugang zur Poesie. Nicht zuletzt ringt Hölderlin um die Anerkennung Schillers, den er glühend verehrt und der ihn nicht ernst nimmt, in dem Brief an Schiller unter die Haut gehend dokumentiert.
Und beginnt Kermani sein Nachwort noch mit „Wir sind es gewohnt, in Dichtungen uns wiederfinden zu wollen, Auskunft in ihnen zu suchen über unsere eigenen Fragen, den eigenen Schmerz“ und auf das prophetische Potenzial von „Nietzsche, Kafka, Beckett“ verweist, unterstellt er Hölderlin das Gegenteil:
„Sein Werk weist nicht in die Zukunft, es blitzt der modernen Zivilisation, just auf dem Gipfel der Aufklärung, etwas Anfängliches, unwiderruflich Zerstörtes darin auf – der Mensch, der sich als Teil der Schöpfung, aber damit auch heillos höheren Mächten ausgesetzt sieht (...)“
Und geht im Zuge emanzipatorischer Bestrebungen der Neuzeit Subjektivität als wesentliches Merkmal mit Literatur einher, spricht Kermani Hölderlin dies dezidiert ab. Vielmehr bescheinigt er der Klage Hölderlins über den Verlust dieser Einheit zwischen Subjekt und Schöpfung, worin zugleich die Einheit zwischen Subjekt und Objekt anklingt, das Fehlen jeder Subjektivität. Stattdessen sind es Stimmungen und Empfindungen, angesiedelt in einem vielstimmigen poetischen Bedeutungsraum. Damit stellt er das individuelle Leiden Hölderlins am Verlust dieser Einheit in einen übergeordneten Zusammenhang und identifiziert es als Leiden an der Moderne, die zugleich – nach dem Mythos’ der Vertreibung aus dem Paradies – als zweiter Sündenfall betrachtet werden kann.
Die Auswahl, die Kerman hier vorlegt, ist, wie er bekennt, rein subjektiv. Dabei folgt er seiner ureigenen Liebe zur Literatur. Und im Zuge dieser Liebe finden sich unter den von ihm vorgestellten 28 Gedichten eben nicht nur die bekannten, sondern auch viele weniger rezipierte, etwa aus Hölderlins späten Jahren; gefolgt von Auszügen aus dem „Hyperion“, dem „Tod des Empedokles“; daneben Ausätze und Aphorismen sowie Übersetzungen. Einen intimen Blick in die existenziellen Nöte und das Ringen um Integrität gewähren die Briefe von 1792 bis 1828, des Weiteren eine Stammbucheintragung „Für einen Unbekannten“ aus dem Jahr 1840. Dabei stützt sich Kermani auf die gleichwohl renommierte dreibändige Ausgabe „Sämtliche Werke und Briefe“, herausgegeben von Michael Knaupp im Carl Hanser Verlag aus dem Jahr 1992/93.
Sich in das Werk Friedrich Hölderlins zu vertiefen, ist ein gewiss so zeitaufwendiges wie lohnendes Unterfangen. Wer sich hingegen außerstande sieht, in das Gesamtwerk einzutauchen, dem Hölderlin jedoch nichtsdestotrotz ein Anliegen ist, darf sich mit dieser Auswahl glücklich schätzen.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verlag C.H. Beck!
© Hartmut Fanger www.schreibfertig.com: Geliebte Helden ...
Gudrun Hammer: "Lieberkühn", edition wohlwill, Hamburg 2017
Bekanntermaßen haben es Kurzgeschichten, Storys oder Erzählungen nicht gerade leicht, an den Leser gebracht zu werden. Ein Phänomen, zumal es sich dabei in der Regel um kleine Kunstwerke handelt, die dem Autor einiges Knowhow abverlangen. Nicht zuletzt geht es darum, mit möglichst wenigen Worten möglichst viel auszusagen und dabei beredt zu verschweigen, was die Fantasie des Lesers umso mehr anregt, diesen aktiv ins Geschehen zu involvieren.
Gudrun Hammer beweist in ihrem 13 Geschichten und 187 Seiten umfassenden Band „Lieberkühn“, dass sie ihr Metier beherrscht. Und sie liebt ihre Figuren. Sei es, wenn in „Anettes Reich“ vom Atelier einer Malerin außergewöhnlichen Charakters die Rede ist, oder in „Schuldlos“ davon berichtet wird, wie Marion Giese ihre Einstellung zu dem verstorbenen Chef und Psychiater Dr. Broszat auf ihre ganz eigene Weise nahebringt. Gewagt dann am Schluss der Teil über „Die Ängste des Seemanns vor dem Land“, was allein schon von der Namensgebung her des Kapitäns, „Hammer“, autobiographische Züge erwarten lässt.
Und immer wieder entführt uns die Autorin in die Welt der Wörter und Buchstaben. Sei es in der Titelgeschichte „Lieberkühn“, wo sich die Protagonistin Beatrice im Zuge der Untreue und Unehrlichkeit ihres Partners dessen Briefe im wahrsten Sinne des Wortes einverleibt. Oder Hans, dem angesichts der Lektüre des Manuskriptes seiner schreibwütigen Partnerin Greta im Umfang von neunhundertundsechs Seiten der Kopf schwirrt und dem die Buchstaben vor seinen Augen tanzen. Greta wiederum, die, sich ihren Traum erfüllend, völlig in ihren Geschichten und Romanen aufgeht, selbst des Nachts im Traum mit ihren Figuren spricht und ihn am Tage kaum mehr wiedererkennt. Überdies verleiht dem Ganzen manch’ literarische Anspielungen Substanz. So etwa in „Die Suche“, wo der in einer Krise steckende, weithin bekannte Erfolgsautor Martin W. die Hamburger Bücherszene nervt. Oder gleich zu Beginn, wo nicht ohne ironischen Tenor Arthur Schnitzlers „Der Reigen“ ins Spiel und in Zusammenhang mit den dort um den Beischlaf konstruierten Dialogen gebracht wird. Alles in allem ein Lesevergnügen par excellence, raffiniert eingefädelt und stets mit Augenzwinkern.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt der edition wohlwill
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© Erna R. Fanger
Mikrokosmos des Alltäglichen
Stewart O‘ Nan: „Henry Persönlich“, Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel.
Mit diesem 500-Seiten Schmöker wendet O’Nan den Blick noch einmal zurück, handelt es sich doch um das letzte Buch einer Art Trilogie rund um das Leben der Maxwells, beginnend mit Abschied von Chautauqua (2005), gefolgt von Emily allein (2011) – zum Bestseller avanciert –, in dem ihr Leben als Witwe nach dem Tod von Henry zur Sprache kommt.
Wobei „Henry persönlich“ ein Phänomen ist. Es passiert im Grunde nichts. Nichts Nennenswertes. Vielmehr handelt es sich um das Altersporträt des Titelhelden Henry Maxwell, einem ehemaligen Ingenieur, der seinen handwerklichen Fähigkeiten mit der ihm eigenen Akribie nun in seinem Ruhestand im Eigenheim frönt. Zugleich liegt uns hier das Porträt des Vertreters einer ‚aufgeräumten‘ amerikanischen Mittelschicht vor, deren Leben konventionell in geordneten Bahnen verläuft. Allein ist es Stewart O’Nans detailgetreuer Blick auf das Innenleben seines Helden, geprägt von Empathie und Zärtlichkeit, der den Leser in den Bann zieht. Auf Anhieb gewinnt der mit Alter und Hinfälligkeit kämpfende Protagonist umso mehr unsere Sympathie.
So erlebt der Leser in an die 100 überschaubaren kleinen Kapiteln mit Henry und seiner Familie – vornehmlich seine Frau Emily, mit der er seit fast 50 verheiratet ist, und der kauzig gezeichneten, ledigen älteren Schwester Arlene – den Jahreskreis. Dabei nehmen wir teil an den sich wiederholenden Ritualen. Vom Valentinstag über Ostern, Sommerferien in Chautauqua, Thanksgiving und Weihnachten – wobei in den Ferien und jährlich wiederkehrenden Festen stets das Wiedersehen mit den geliebten Enkeln den Mittelpunkt bildet. Und so beschaulich und wohl sich der Alltag von Henry und Emiliy gestalten mag, lebt das Ganze letzten Endes von der Spannung des guten Lebens, konterkariert durch die Angst vor sozialem Abstieg, wie in unmittelbarer Umgebung spürbar, nicht zuletzt aber die Erfahrung von Hinfälligkeit und der Furcht vor dem nahenden Tod. ‚Es kann jederzeit passieren’, meint er zu Emily, die sich darüber erbost und sich dem Gedanken energisch verweigert. Auch macht ihm etwa zu schaffen, als er ein Verkehrsschild übersieht und ‚um ein Haar’ frontal mit einem Schulbus kollidiert. Als er Emily zum Valentinstag feudal zum Essen einlädt, kämpft er zwischen kulinarischer Genuss-Kultur, Champagner und Krabbencocktail mit Magenproblemen: „Als er sein zweites Glas Champagner zur Hälfte geleert hatte (...) sah er plötzlich im Fenster sein Spiegelbild, seinen gespenstischen Zwilling, der über dem Abgrund schwebte.“Leseprobe Und während er auf dem Rückweg auf die Kabine wartet, die sie von der Anhöhe, wo ihr Lokal lag, wieder zurück ins Tal brächte, nimmt er die stetig sich verändernde, unter ihnen sichtbare Skyline von Pittsburgh wahr, ‚sich mal wieder des Gefühls erwehrend’, „der Vergangenheit anzugehören“. LeseprobeGanz zu schweigen von der alkoholkranken Tochter Margaret, deren Ehe gefährdet ist und um die er und Emily sich stets sorgen.
Zugleich bilden Erinnerungen die Kehrseite des Buches, die allenthalben aufbrechen und in denen Kindheit und Jugend Henrys zum Tragen kommen. Nicht zuletzt die einschneidende Erfahrung des Zweiten Weltkriegs in Europa. Aber auch seine Sozialisation bis hin zu den Ahnen kommt zur Sprache und bildet in der Gesamtheit das Mosaik eines ganzen Lebens. Eines Lebens, das, obschon nicht ohne Drama, am Ende seinen Sinn zu erfüllen scheint, den vom Schicksal zugewiesenen Platz einzunehmen und mit Leben zu füllen. Sei es innerhalb der Familie, sei es beruflich oder in der Gemeinschaft von Nachbarn, Freunden, innerhalb der Kirchengemeinde, wo Henry sich im Vorstand engagiert.
Mit zunehmender Lektüre – und das mag ihr Faszinosum ausmachen – werden wir Zeuge, wie der klischeebehaftete Begriff „Alter“ sich mit Leben füllt. Berührend und komisch zugleich etwa, wenn Henry im Zuge eines Kirchenbesuchs mit sich selbst ins Gericht geht – sein Knie schmerzt und er will sich partout nicht helfen lassen:
Er musste zugeben, dass er immer zu stolz sein würde. Immer glauben würde, im Recht zu sein. Nicht zuhören würde. Groll hegen würde. Er musste netter zu Margaret sein, und aufhören, sich selbst zu bemitleiden, weil er alt und nutzlos war. „Amen“ sagte er zusammen mit der Gemeinde, doch ihm fiel noch mehr ein. Verbitterung. Missgunst. Falschheit. Wenn man einmal anfing, seine Sünden aufzuzählen, nahm es kein Ende. Leseprobe
Was Henry jedoch nicht abhält, voller Hingabe den bescheidenen Freuden des Alltags zu frönen. „Am Ende des Tages hatte er gern das Gefühl, etwas geschafft zu haben. Nichts genoss er so sehr, wie im Bett zu liegen und eine Liste der Dinge aufzustellen, der er am nächsten Tag erledigen musste.“ LeseprobeAber auch ein mit Puderzucker bestreuter Zitronenkuchen konnte ihn beglücken oder der nach langen Wintertagen nahende Frühling:
Die Bäume trieben Knospen, helle Wolken schwebten durch den blauen Himmel, und obschon es nicht stimmen konnte, glaube er zu spüren, dass die Welt sich drehte und er sich mit ihr. Er sah es als eine Verheißung. Leseprobe
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag GmbH Hamburg
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© Hartmut Fanger
Von der Suche nach Sinn und Erkenntnis
Paolo Cognetti: Gehen ohne je den Gipfel zu besteigen.Penguin Verlag, München 2019:
Mit Gehen,ohne je den Gipfel zu besteigen knüpft Cognetti inhaltlich an sein erfolgreiches Romandebut Acht Berge(2018) an. Wieder geht es um das Erlebnis der Bergwelt. Diesmal jedoch nicht in Romanform, vielmehr werden wir Zeuge einer Reise des Autors durch den Himalaya, und zwar ganz im Sinne des bewährten buddhistischen Mottos „Der Weg ist das Ziel“. Und dieser Weg führt, gleichwohl in buddhistischer Tradition, nirgendwo hin als zu sich selbst. In der Einsamkeit der entlegensten Regionen der Bergwelt Nepals kommt es ihm dementsprechend nicht darauf an, etwaige Gipfel zu erklimmen oder gar den leuchtenden Kristallberg zu erspähen. So erweist sich besagtes Unternehmen zunehmend als Pilgerreise, auf der dementsprechend das Gehen selbst zur Mission wird. Als Vorbild hierzu diente ihm u.a. das Buch „Auf der Spur des Schneeleoparden“ von Peter Matthiessen (1978), das nach Cognetti heute noch in allen Buchhandlungen Kathmandus erhältlich ist. Nicht nur hat es Cognetti letztlich zu dieser Reise inspiriert, sondern begleitet es ihn überdies auf Schritt und Tritt. Zu allem hin ist er mit fast vierzig Jahren genauso alt wie Matthiessen, als dieser einst seine Reise antrat. Spannend schildert er den Werdegang seines Vorbilds. So hatte sich Matthiessen einst wie Hemingway oder Fitzgerald in Paris niedergelassen, wo er zu den Gründern der legendären Literaturzeitschrift „Paris Review“ gehörte, schließlich zum Umweltschützer avancierte, um sich später, nach umfangreicher Drogenerfahrung, dem Buddhismus zuzuwenden.
Cognettis Weg in Nepal wiederum ist insofern nicht unwesentlich von der Erfahrung meditativer Einsichten und tiefgreifender Erkenntnis geprägt. „Selbst wenn man nicht weiß, wonach man sucht, ist ein Wildbach der beste Weg, dem man nur folgen kann“, heißt es an einer Stelle. „Er gibt unbeirrbar die Richtung vor, führt bis zu seiner Quelle, und während man zusehen kann, wie er immer klarer wird, spürt man, wie man nicht nur seiner, sondern auch der eigenen Läuterung entgegengeht!“
Dabei trifft er immer wieder auf tibetische Klöster und Mönche, wie zum Beispiel Shey Gompa, für ‚den vierzig Jahre wie in einem Wimpernschlag verflogen’ sind: „(...) ganz ohne Entdeckungen und Erfindungen, Kriege, Revolutionen, Jugendbewegungen, untergegangene Reiche und Ideologien, ganz ohne Musik und Literatur.“ Und immer wieder macht er Entdeckungen, die ihn staunen lassen. So zum Beispiel die größte Ansammlung von Gebetssteinen, die der Autor auf einem Gelände hinter einem Kloster findet, wo er eigentlich einen Friedhof vermutet hatte.
Nicht nur veranschaulicht durch die plastischen Beschreibungen
der Bergwelt, des kargen Landes und der darin nicht selten anzutreffenden schillernden Persönlichkeiten, erzeugen darüber hinaus die mit feinem Pinselstricht geführten, detailgetreuen Zeichnungen Cognettis zugleich eine unmittelbare Nähe zu dem Autor und seinem Kosmos.
Unbedingt empfehlenswert und denjenigen als Lektüre zwischen den Jahren ans Herz gelegt, die nach Sinn, wahrhafter Natur und meditativem Bewusstsein streben.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Penguin Verlag, München 2019
© Erna R. Fanger:
Am Anfang steht das Anderssein
Ilma Rakusa: „Mein Alphabet“, Literaturverlag Droschl GmbH, Graz 2019
A wie „Anders“ steht in diesem poetischen Alphabet nicht nur für den Anfang, sondern scheint zugleich Programm zu sein. Denn das ist eine der ersten Erfahrungen der Autorin als Schulkind, festgehalten in diesem sehr persönlichen Buch: Sie ist anders als ihre Mitschülerinnen. Man zeigt mit dem Finger auf sie, grenzt sie aus. Sie hingegen bleibt „draußen am Zaun“. Dort lernt sie, was wesentlich für ihr späteres Leben als Schriftstellerin sein wird: zu beobachten, in Berührung mit der heilenden Kraft der Natur zu kommen ebenso wie mit ihren Träumen und ihrer Fantasie. Allesamt erweisen sie sich als tragende Kraft durch Schatten und Licht, von der die hier unter besagtem Motto versammelten Kurzprosatexte und Gedichte zeugen.
Tauchen wir ein in die Lektüre, beginnt, jenseits von Hektik und Aufgeregtheit, die derzeit den öffentlichen Diskurs dominieren, eine andere Zeitrechnung. Nämlich die des Kairos, Zeit des Eingedenkens, statt des Kronos‘, des chronologischen, linearen Aspekts der fortschreitenden Zeit. Und eine eigentümliche, ja beinahe schon Sucht erzeugende Ruhe geht von den poetischen Miniaturen des Rakusaschen Kosmos‘ aus, getragen von einer Fülle an Referenzen an Literaturen und ihre Autoren, an bildende Kunst oder die Entdeckung auf Reisen unterschiedlicher Kulturen, an Naturbeobachtungen. Sei es die Erhabenheit ehrfurchtgebietender Berge, sei es die eher ängstigende Wildheit von ‚Atlantik, Pazifik und anderer Ozeane‘ im Gegensatz zum geliebten Mittelmeer der Kindheit in und um Triest.
Und wer einen Zipfel vom Paradies erhaschen will, möge der Lektüre des G wie Granatapfel folgen. Hier liegt die Schönheit besagter Frucht weniger im Auge des Betrachters als vielmehr an der sprachlichen wie faktischen Präzision, mit der Rakusa sie uns nahebringt. Sei es im Hinblick auf die changierende Farbvielfalt, dem Strahlen, „sein Kelchblatt wie ein Krönchen hochreckend“, oder wenn in seinen diversen ,Kammern mit rubinrot leuchtenden Perlen sich ein Schatzkästchen auftut‘. Wobei eine einzelne Frucht bis zu 400 Samen birgt – ‚an ein Wunder grenzend‘. Und wer einmal aus den Augen Rakusas Malewitschs „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund« (1915)“ in Augenschein genommen hat, wird, wie Rakusa selbst, eines ‚Erweckungserlebnisses‘ teilhaftig, von dem sie uns wissen lässt: „… es initiierte mich in die gegenstandslose Malerei.“ Wobei die religiöse Diktion kein Zufall ist, vielmehr erfahren wir, dass dieses Schwarz, ‚in seiner Vieldeutigkeit vibrierend, für Malewitsch selbst Ikone war, die er wie ein Heiligenbild in seinem Haus aufhängte‘, wo man seinem ‚dynamischen Schweigen, seinem Rhythmus und seiner Erregung‘ huldigen konnte.
Den Schluss bilden, dem Z gemäß, „Zwetajewa“ und „Zaun“. Marina Zwetajewa (1892-1941), die große russische Dichterin, Dramatikerin und Essayistin. „Fast bin ich mit ihr befreundet, so viele Jahre habe ich mich lesend und übersetzend mit ihr beschäftigt, sie in imaginären Gesprächen um Rat gefragt.“ Schwester im Geiste Rakusas, zugleich Art Spiegelfigur. Zu ihr entfaltet sich allein im Zuge der Herausgabe und Übersetzung ihrer Werke im Suhrkamp Verlag eine so innige Beziehung, dass man die beiden Poetinnen vor dem geistigen Auge zusammen sieht wie zwei eng miteinander vertraute Freundinnen:
»Marina!« Sie schaut mich an. Wachsam. Hinter der Wachsam-
keit erkenne ich tiefe Müdigkeit. Aber es kommt keine Klage. Nur
der Satz, sie müsse noch auf den Markt. »Gehen wir zusammen.«
Last but not least „Zaun“, womit sich der Kreis schließt: „Sie hingegen bleibt „draußen am Zaun“ (siehe oben). Wobei sie zwischen dem poetischen Holzzaun und dem unerbittlichen aus Metall unterscheidet, wo kein Geflüchteter mehr durchkommt. Dem wiederum setzt sie ihr ganz eigenes Plädoyer entgegen: „„Ich plädiere für löchrige Zäune, die symbolisch einhegen. Wie ein zärtlicher Wink. Und dich zum Schauen einladen. Komm, komm …“
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Literaturerlag Droschl in Graz
Buchtipp des Monats Juli 2019
© Hartmut Fanger
Von der abgründigen Schönheit der Kunst
David Foenkinos: „Die Frau im Musée d’Orsay“, Penguin-Verlag, München 2019, aus dem Französischen von Christian Kolb.
Von Beginn an lebt das Buch von dem Geheimnis umwobenen Protagonisten, Professor Antoine Duris. Wie kommt es, dass er plötzlich seinen hochdotierten Job an der Hochschule der Schönen Künste von Lyon kündigt und in Paris als Wärter im Musée d’Orsay ein neues Leben beginnt? Warum würde er am liebsten ganz verschwinden? Im digitalen Zeitalter so gut wie unmöglich. Mit Spannung verfolgt der Leser all die Hintergründe, die nach und nach zutage treten. Erzählt in diesem beschwingt leichten Tenor, der uns in französischen Lektüren stets bezaubert, bei Foenkinos allerdings bisweilen in den Kitsch driftet und sprachlich nicht immer frei von Banalitäten ist. Nichtdestotrotz gelingt es ihm, den Leser tief zu berühren angesichts des tragischen Schicksals der jungen talentierten Schülerin des Professors und Malerin Camille. Einst von Kunstlehrer Yves, dem Mann der besten Freundin ihrer Mutter, vergewaltigt und zum Schweigen erpresst. Doch der Roman zeigt auch, dass die schönen Künste eine heilende Wirkung auf die Seele haben können. So findet Duris schließlich durch die Bekanntschaft von Camille und deren Bilder wieder zu seiner eigentlichen Passion als Professor zurück. Damit steht der Liebe zu Museumsdirektorin Mathilde Mattel nichts mehr im Wege. Seine ehemalige Frau hingegen erwartet ein Kind von einem anderen.
Spannend im Übrigen, wenn Duris zwar unerkannt bleiben will, sich dann aber als Wärter dazu hinreißen lässt, einen Museumsführer vor versammeltem Publikum zu berichtigen. Unkonventionell arrangiert überdies, wie aus der Beziehung zu Museumsdirektorin Mathilde langsam Zuneigung erwächst, nachdem es zuvor alles andere den Anschein hat. Sinnfällig das Figurengeflecht rund um Camille. Mit Ausnahme ihrer Psychologin weiß keiner aus ihrem Umfeld, was ihr eigentlich widerfahren ist. Dies mag nicht zuletzt auf die Isolation des Individuums im Digitalen Zeitalter verweisen, wo der Mensch zwar gläsern ist, zugleich aber ein Mangel an tragfähigen Beziehungen zu herrschen scheint, was die Katastrophe, auf die Camille zusteuert, vielleicht hätte verhindern können.
Eine leichte, unterhaltsame Sommerlektüre, in der das Dunkel des Bösen mit dem Licht der Schönen Künsten treffend kontrastiert.
Aber: Lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Penguin-Verlag
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Siehe auch Arie Anwar "Kreise ziehen"
Buchtipp des Monats Mai 2019
© Erna R. Fanger
Herkunft – Süß-bittere Zufälle
Saša Stanišić: “Herkunft“, Luchterhand Literatur Verlag, München 2019
Vielsagend eine von vielen Definitionen Stanišićs von Herkunft, zum Besten gegeben auf seiner so gut wie ausverkauften Lesung im Hamburger Thalia Theater am 17. März 2019: eine Art überschätztes Kostüm.‚Kostüm’, abgeleitet vom lateinischen „consuetudo“, dt.: Gewohnheit, Herkommen, Sitte. Herkunft meint demnach das, was wir gewohnt sind, wowir herkommen, welche Sitten wir mitbekommen haben. Doch Stanišić greift tiefer, stellt Fragen und infrage: „Provenienz der Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt? ... Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist.“
Die zentralen, hier ins Spiel gebrachten realen Orte, die die Herkunft des Ich-Erzählers ausmachen: 1. Višegrad, Klein- und Geburtsstadt Stanišićs; 2. Oskoruša, vergessenes Dorf in den Bergen mit überalterten Bewohnern, woher einst sein Großvater stammte, jedoch mit einem bemerkenswerten Friedhof, wo jedes zweite Kreuz mit dem Namen des Autors, Stanišić, versehen ist, und die Toten, auf deren Gräbern man Schnaps trinkt und Picknick macht, eine wunderbare Aussicht genießen; 3. Heidelberg, erste Station nach der Flucht aus Bosnien-Herzegowina, wo der Ich-Erzähler seine Jugend verbringt, wo ein Lehrer seine Gedichte in jugoslawischer Sprache liest und ihn ermutigt, auf Deutsch zu schreiben, und damit offenbar den Grundstein für seine Schriftstellerkarriere gelegt hat. Doch was sind Orte im geographischem Sinne im Gegensatz zu den inneren – im Kosmos von Stanišić ebenso Facetten von Herkunft wie Erinnerung und Fiktion, das was uns die Fantasie zuspielt.
Herkunft, zugleich einAspekt von Heimat und allein schon insofern überschätzt, als es das ist, woran der Mensch sich klammert. Als solches muss es Konstrukt bleiben, weil es der Wirklichkeit – in stetigem Wandel begriffen – nicht standhält.
Der Kern von Herkunft wiederum ist das Land der Kindheit. Bei Stanišić steht dafür in erster Linie Großmutter Kristina – der Großvater bleibt Leerstelle. Später wird er in Schuhkartons nach ihm suchen und in alten Schubladen, wo die Großmutter Dokumente von ihm aufbewahrt. Und in „einem Gläschen Cognac“, einem Cognac des Großvaters, älter als der Ich-Erzähler. Die Großmutter hingegen scheint immer präsent und ist in einer herzzerreißenden Szene auch Ausgangspunkt von „Herkunft“, zugleich Anlass einer umfassende Spurensuche in eigener Sache. Da hat sie das Vergessen bereits eingeholt, da weiß sie schon nicht mehr, wer sie ist. Mit dem Begräbnis der Großmutter endet der Roman nach mehreren Anläufen, überhaupt zu einem Ende zu gelangen. Denn „Herkunft“ ist ein Anschreiben gegen das Aufhören, gegen das Schwinden der Erinnerung und letzten Endes gegen den Tod, immer und immer wieder, gegen das Aufhören von Geschichten. Wie auch ‚die Lücken der Großmutter mit Geschichten gefüttert werden’, wie Stanišić seinem Hamburger Lese-Publikum verrät.
Und in dem Maße, wie die Großmutter ihre Erinnerungen verliert, klaubt der Ich-Erzähler sie offenbar wieder zusammen. In einem Wettlauf mit der Zeit, die über alles hinwegzufegen scheint. Nicht zuletzt, und das ist das Tragische, über die Beziehung zu der geliebten Großmutter. Sie sind sich fremd geworden im Zuge der räumlichen Trennung des Exils. Unvermeidlich. Die Brücke zwischen den Generationen scheint im Extremfall von Krieg und Flucht schneller aufgebraucht. Familienbande zerbrechen. Und man wird das Gefühl nicht los, als verlöre in gleichem Maße, wie sich dieser Bruch sich vollzieht, wiederum die Großmutter ihr Gedächtnis. Szenen aus Dekaden zuvor, wie einst das Warten auf ihren Mann Pero, wiederholen sich im Jahr 2018, die zeitliche Differenz dazwischen aufgehoben.
Aber das sind nur Grundpfeiler dieses genial organisierten Erzähl-Mosaiks, das uns Wirklichkeit vielfach widerspiegelt. Nicht linear, chronologisch, umkreist Stanišić vielmehr die Gegenstände des Erzählens immer wieder aus unterschiedlichen Blickwinkeln, durchwirkt von Erinnerungssplittern, Fragen, magischen Momenten und Geheimnis. Kein Roman im herkömmlichen Sinn also, verweben sich hier Erinnerung und Erfindung mit Zeit- und Migrationsgeschichte, Reflexion und Assoziationen. Auf die Frage hin der Großmutter, ob „Herkunft“ „ein Buch über uns“ sei, antwortet der Autor etwa:
„Fiktion (...) sagte ich, bilde eine eigene Welt, statt unsere abzubilden, und die hier (...) sei eine Welt, in der Flüsse sprechen und Urgroßeltern ewig lebten. Fiktion (...) sagte ich, ist ein offenes System aus Erfindung, Wahrnehmung und Erinnerung, das sich am wirklich Geschehenen reibt.“
Aber: Lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Luchterhand Literatur Verlag, München!
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Buchtipp des Monats März 2019
© Erna R. Fanger
Vom Aufstieg und Fall eines Gurus
T. C. Boyle: “Das Licht“, aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag, München 2019.
Mit „Das Licht“ knüpft T.C. Boyle an frühere Romane an, in deren Zentrum eine Kultfigur steht, etwa Kellog oder Alfred Kinsey. Und wie immer geht es bei diesem Setting darum, wie nah die jeweiligen „Jünger“ dem verehrten Guru stehen, und damit um das Gerangel, zum inneren Kreis zu zählen. Letzteres ist auch das Ansinnen des Protagonisten Fitz, einer der Harvard-Doktoranden um den legendären Drogenprofessor Timothy Leary im Fach Psychologie. Der hat mit Drogen zunächst mal so gar nichts am Hut. Vielmehr hegt er die typischen Karriereträume eines Spießers. Schließlich hat er Frau und Kind. So sind ihm die ‚Sessions’ seiner Studienkollegen, wo es statt um die Erforschung von harten Fakten um Selbstversuche im Zuge von Drogentrips geht, nicht nur fremd, sondern äußerst suspekt. Und er nimmt das lediglich aus Furcht auf sich, sonst womöglich seinen Platz im ‚Inner Circle’ einzubüßen.
Doch schnell ist er infiziert vom Sehnsuchtsvirus der Bewusstseinserweiterung, der die Ränder einer ganzen Generation erfasst hat, die Ränder, von denen jedoch immer schon die entscheidenden Impulse ausgegangen sind: der Sehnsucht, die Ketten von Materialismus und Spießbürgertum zu sprengen, wie sie nach der einschneidenden Erfahrung des Zweiten Weltkriegs für Europa und die USA prägend waren. Und so sollte nach seiner Entdeckung 1943 seitens des Schweizer Chemikers Albert Hof LSD zu Beginn der 60er Jahre in den USA bahnbrechend das Feld der Psychologie und von dort aus die Welt revolutionieren. Es galt am Ende gar als der direkte Weg zu authentischer Gotteserfahrung, mystischer Verklärung in der Gemeinschaft Gleichgesinnter und markierte die Geburt der Hippiebewegung.
T.C. Boyle, selbst drogenerfahren und eben dieser Generation zugehörig, schildert das Ganze aus der Perspektive des Kenners der Szene, der erhellende Blick auf die Ereignisse von damals von wohlwollender Distanz. Der einst bissige Sarkasmus, abgelöst von feiner Ironie. Dabei zeigt er die Figuren dem Stand ihres sozialen und entwicklungspsychologischen Kontexts gemäß, ohne sie zu diskreditieren. Was von ihnen zu halten sei, wird jeder Leser für sich entscheiden. Ein unaufgeregter Blick, getragen von nachsichtigem Humor für die Irrwege, die hier beschritten werden. Irrwege, wie sie auch von anderen Communitys der 60er Jahre, etwa den Bhagwan-Anhängern oder der Mühl-Kommune, bekannt sind, und die augenscheinlich allesamt zum Scheitern verurteilt waren.
So artet der hoffnungsvolle Aufbruch in ein neues Zeitalter der Bewusstseinserweiterung – statt sorgsamer Erforschung und Dokumentation der Experimente mit LSD-Trips – aus in Partyexzesse. Exemplarisch für das Scheitern der Bewegung Doktorand Fitz, dem im Zuge des Prozesses zwischen Aufstieg und Fall der Community nicht nur seine Dissertation aus dem Blickfeld gerät, sondern auch Frau und Kind, während er nach einem experimentellen Partnertausch der 19 Jahre jüngeren Lori verfällt. Ganz zu schweigen von Guru Leary, der das hehr angelegte Experiment wegen eines Models verlässt, dem er wiederum verfallen ist.
Die Rezensionen und Meinungen über Machart und Stil überschlagen sich – von unumwundener Bewunderung über manch Häme des deutschen Feuilletons, wie es im Buche steht. Was die Faszination von „Das Licht“ eigentlich ausmachen mag, ist, dass darin eine Menschheitssehnsucht verhandelt wird, die noch lange nicht abgegolten scheint und in dem ernsthaften Versuch besteht, wenn nicht das Paradies auf Erden zu installieren, so diese doch zu einem Ort zu machen, der allen Bewohnern ein würdiges Leben gewährt. Diese Vision, der 68er-Generation zugeschrieben und von dieser einst mit Macht vorangetrieben, ist offenbar aus dem Menschheitsgedächtnis nicht zu tilgen. Auch wenn Unkenrufe aus den Reihen der Etablierten uns dies unablässig – gleichwohl mit Macht – auszureden versuchen. Umso berauschender, diese Aufbrüche in Boyles fiktiver Chronik der Ereignisse jetzt nacherleben zu können und sie einmal mehr aufflammen zu lassen.
Dass die LSD-Forschung, nachdem sie lange ein Schattendasein führte, indessen neue Wege einschlägt und evidente Erfolge in der Arbeit mit Sterbenden erzielt hat ebenso wie in der Behandlung von Suchtkrankheiten und Depressionen, bezeugt einmal mehr, dass Boyle hier nur eine Etappe auf einem Weg nachgezeichnet hat, der noch lange nicht zu Ende sein mag. Nicht verschwiegen sei an dieser Stelle das herausragende Werk des exzellenten Journalistik-Professors Michael Pollan, „Verändere Dein Bewusstsein“, Antje Kunstmann-Verlag, das im Übrigen nahezu zeitgleich mit Boyles „Das Licht“ auf dem deutschen Büchermarkt Furore macht und gerade dabei ist, die Sachbuchbestenliste zu erobern. Ein Zufall?! (Siehe hierzu auch unser Sachbuchtipp des Monats März)
Aber: Lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Hanser Verlag, München
© Erna R. Fanger & Hartmut Fanger
Poetischer Abgesang
Einer Grande Dame der Literatur
Elisabeth Borchers: „Nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Ein Fragment“, herausgegeben von Martin Lüdke, Mitarbeit Ralf Borchers. Weissbooks GmbH, Frankfurt am Main 2018
Die aus dem Nachlass publizierten Erinnerungen der 2013 verstorbenen Elisabeth Borchers – bedeutende Lyrikerin und legendäre Suhrkamp-Lektorin – geben vordergründig zunächst einmal Einblick hinter die Kulissen des Literaturbetriebes. Wir werden Zeuge vom Umgang mit Schriftstellern ebenso wie von der Zusammenarbeit zwischen Autor und Lektor. Abgerundet wird das Ganze durch den so erhellend wie feinsinnigen Essay des Literaturwissenschaftlers und Kritikers Martin Lüdke.
Aufhorchen lässt gleich der Titel „Nicht zur Veröffentlichung bestimmt“. Wie gelangt das Fragment dennoch an die Öffentlichkeit. In erster Linie ist dies dem Autor Arnold Stadler zu verdanken, der Elisabeth Borchers noch zu Lebzeiten dazu ermutigt und ihr bis zum Schluss beratend zur Seite gestanden hat. Ihr Sohn Ralf Borchers und Martin Lüdke haben das Fragment nun – fünf Jahre nach ihrem Tod – in dem von Borchers ehemaligen Suhrkamp-Kollegen geführten Weissbooks-Verlag auf den Weg gebracht. Ein Buch, von dem sich neben Literaturbegeisterten nicht zuletzt Leser mit eigenen Schreibambitionen einiges versprechen dürften. So erfährt man zum Beispiel spannende Details aus dem offenbar grundlegend konfliktiven Verhältnis zwischen Lektor und Autor. Ebenso wie von dem nicht selten zutage tretenden Widerspruch, einerseits zwischen Autor und Werk, andererseits zwischen literarischen Kriterien des Verlags und dem Postulat, zugleich marktstrategischen Gesetzen gerecht zu werden. Borchers, als Lektorin hier in der Position ‚zwischen den Stühlen’, fühlt sich in diesem Ränkespiel bisweilen wiederum bis hin zur ‚Selbstverleugnung’ genötigt.
Wie auch immer, erfährt der Leser eines: Selbst bei hoch anerkannten Autoren wird nur mit Wasser gekocht. Und auch der Autor mit großem Namen ist kaum in der Lage, ständig Meisterwerke zu fabrizieren, wie der Öffentlichkeit suggeriert und vom Autor schließlich selbst geglaubt wird.
Mit scharfer Zunge nimmt Borchers im Übrigen keinerlei Rücksicht auf ehrwürdige Meriten und bezichtigt etwa so arrivierte wie augenscheinlich unumstößliche Ikonen des Literaturbetriebs der Hochstapelei, sei es Martin Walser, Jurek Becker, Max Frisch, Uwe Johnson oder Marie-Luise Kaschnitz. Mit Letzterer geriet das Verhältnis Lektor-Autor am Ende regelrecht zum Gefecht, wobei es dann weniger um das Werk, die Arbeit am Text, als viel mehr um Macht und Einfluss ging, wie Borchers selbst zugibt.
Weniger Enthüllungsbuch über die Verlagslandschaft entpuppt sich das Ganze bei fortschreitender Lektüre jedoch als Zeugnis zunehmender Vereinsamung der Autorin und ihres Ringens mit den Beschwernissen des Alterns. Letzteres beklagt zum Teil in Reflexion der nüchternen Betrachtungen desselben in den Worten der Bibel bei Prediger Salomon oder aber der Klage der Psalmisten. In ihren eigenen Worten gibt sie selbst ergreifend zum Besten:
„Ich habe die Welt abgesucht nach Möglichkeiten, nach Haltepunkten. Wie leer die Welt in solchen Stunden ist. Man wirft Netz um Netz aus, sie bleiben leer. Wie ein leer geschöpftes Meer.“
Berührend überdies die Literarisierung von Wunschvorstellungen, die immer wieder in die Realität der Autorin überzugehen scheinen. So etwa im Hinblick auf die Wucht einer unerwidert bleibenden, großen Altersliebe, die Borchers umtreibt und ihre Spuren im Text hinterlässt. Die Enttäuschung über den ausbleibenden Anruf, das unermessliche und zugleich trügerische Glück, mit dem Geliebten ‚gern in Kirchen’ zu weilen, ist dieser doch in den meisten Fällen präsent allenfalls als Abwesender und bleibt für Borchers unverfügbarer Sehnsuchtsort.
„Ein eigenartiges Gefühl, ganz allein in einem so um sich greifenden Raum [einer Kirche] zu sein ... Ich habe in diesen Raum hinein geredet: da bin ich, ganz allein, bitte ... Ich versuchte dich anzurufen. Keine Antwort und das Handy mit der stereotypen Aufforderung: versuchen Sie’s später noch einmal ... Ach ist ein Synonym für Nichtausgesprochenes. Ach. Nichtauszusprechendes“.
Mit „Nicht zur Veröffentlichung bestimmt“ wird uns die „Femme de lettres“ Elisabeth Borchers in Erinnerung bleiben, als scharfe Kritikerin ebenso wie sanftmütig-sehnsuchtsvoll Liebende und stets vortreffliche Lyrikerin.
Aber: Lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
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Buchtipp des Monats
Januar 2019
© Erna R. Fanger
„Zeugnis wider das Verschweigen“
Barbara Schirmacher: „Ein aufrechter Mensch. Mein Großvater Otto Globig“.BoD, Norderstedt 2018.
„Mein Großvater war einer der kleinen Leute. Er führte ein anständiges, unauffälliges Leben, wie unzählige andere auch. Dennoch wurde er verurteilt ...“, so Barbara Schirmacher. Doch eigens für die Anständigen, die sich unter der Gewaltherrschaft Hitlers nicht wegduckten, wurde 1934 das so genannte „Heimtückegesetz“ erlassen. Vornehmlich zur Abschreckung und Einschüchterung sollte es dienen und war die Handhabe gegen jedwedes kritische Wort.
Selten ist es das gelingende Leben, das Menschen dazu bewegt, ‚zurFeder zu greifen’, in Wort und Schrift festzuhalten, was sonst dem Verschwinden preis gegeben wäre, Fragen nachzugehen, die im Raum stehen, ohne je gestellt worden zu sein. Aus guten oder schlechten Gründen. Und nicht selten ist es eine Art Lebensschmerz, der im Niederschreiben verhandelt wird. Ein Schmerz, der als Schatten eines diffusen Schweigenebels häufig nicht nur über der Existenz des Schreibenden hängt, sondern über Generationen hinweg Familien zu bedrängen und beschweren vermag.
Wie es Barbara Schirmacher in unbeirrbarer Kleinarbeit gelingt, dieses Schweigen über Jahrzehnte hinweg zu brechen, davon erzählt sie in der hier vorliegenden Spurensuche. Dabei schildert sie so eindringlich wie berührend ihren Kampf, dem Großvater auf die Spur zu kommen, der sich, einem befreundeten jüdischen Arzt die Treue haltend, den Nazis verweigert hat und damit in eine Spirale der Isolation geriet, die ihn und mit ihm seine Familie in den Abgrund riss. Ein Schicksal, das totgeschwiegen, dem Vergessen anheim gefallen wäre. Hätte nicht der Zufall der Enkelin den Anstoß gegeben, über Jahre hinweg so hartnäckig wie beharrlich jedem noch so kleinen Indiz nachzugehen, um die undurchdringlich anmutende Mauer, diesen Widerstand aus Schuld und Scham und Schweigen, der die Familie von der Wahrheit um seine Person zu trennen schien, Stück für Stück aufzubrechen. Nach dem Motto von Ingeborg Bachmann, „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“*, ist es ihr in dem ergreifenden Dokument gelungen, den von den Nazis unrechtmäßig Verurteilten und Gedemütigten zu rehabilitieren. Über den Tod des Großvaters hinweg scheint sich dabei zwischen diesem und seiner Enkelin ein so inniges wie zärtliches Verhältnis zu entspinnen.
Eine ergreifende Lektüre und zugleich Indiz, dass jede tiefere Wahrheit ans Licht dringen will. Nicht dass dies den Schmerz um das tragische Schicksal des Großvaters milderte, ist doch die Nähe, die seine Enkelin nach und nach im Zuge des Schreibens zu ihm herstellt, selbst für den Leser hautnah spürbar. Was bleibt, ist die so überzeugende wie tröstliche Botschaft: Über die Zeiten hinweg hält die Liebe der Wahrheit stand, unverbrüchlich und schön.
*Rede Ingeborg Bachmanns zur Verleihung des Hörspielpreises der
Kriegsblinden vom 17. März 1959 in Bonn
Aber: Lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Buchtipp des Monats
September-Oktober 2018
© Hartmut Fanger www.schreibfertig.com
Ein Debüt-Roman der extraklasse. Aufregend, erschütternd und in atemberaubender Handlung bis zur letzten seite spannend!
Gabriel Tallent: „Mein Ein und Alles“, Penguin Verlag München 2018, aus dem Amerikanischen von Stephan Kleiner
Die US-amerikanischen Kritiken überschlagen sich nicht umsonst. Und es ist auch nicht von ungefähr, dass der Roman von Gabriel Tallent „Mein Ein und Alles“ nach Erscheinen wochenlang auf der Bestsellerliste der New York Times stand und schon jetzt für so renommierte Literaturpreise wie den Los Angeles Times Book Prize for First Fiction nominiert ist. Ein Roman der Extraklasse, der den Leser von Beginn an den Atem anhalten lässt. Seite für Seite ungemein spannend. Nahezu berauschend die Schilderungen der Landschaft, des Waldes, mit allem, was dazu gehört. Tallent verfügt über ein unglaubliches Naturverständnis, das hier in jedem der 31 Kapitel voll zur Geltung kommt. Zwingend die Sprache. Der gesamte von Stephan Kleiner übersetzte Roman ist im Präsens geschrieben, wodurch der Leser stets dicht dran ist am Geschehen.
Dabei handelt es sich um die Geschichte der vierzehnjährigen Turtle alias Julia Alveston, von ihrem Vater Martin auch Krümel oder Luder genannt. Letztere Bezeichnung kommt nicht von ungefähr. Denn so hat der Vater es ihr eingeimpft. Ein Vater, der sie mit Liebesentzug erpresst, missbraucht, brutal misshandelt, vergewaltigt und ihr mit seinem eigenen wie ihrem Tod droht. Ebenso lehrt er sie den Umgang mit Schusswaffen, was ihm am Ende im Rahmen eines großen Showdowns zum Verhängnis werden soll.
Turtle scheint völlig auf sich allein gestellt. Schulleitung und Lehrerin spüren zwar, dass etwas nicht in Ordnung ist, unternehmen jedoch kaum etwas. Ja es hat sogar den Anschein, dass sie dem brillanten Intellekt des Vaters nicht gewachsen sind. Allein die zwei Jungen, denen sie aus dem Wald hilft, nachdem sich diese verlaufen hatten, bringen Verständnis für sie auf. Einer von ihnen, Jacob, verliebt sich am Ende in sie. Doch die Liebe steht unter einem bösen Stern, solange Turtle bei Martin lebt. Dieser will sie um keinen Preis loslassen. Schließlich sei sie ‚sein Ein und Alles’, wie bereits der Titel verrät.
Etappe für Etappe nimmt der Leser am Entwicklungsprozess von Turtle teil, lernt ihre Schwächen, vor allem aber ihre Stärke kennen. Ebenso nimmt er die Vernachlässigung des Mädchens und Brutalität des Vaters ihr gegenüber wahr. Als dieser sich am Tod des Großvaters, den Turtle geliebt hat, schuldig macht und dessen Habe verbrennt, will sie zunächst nur noch sterben. Am Ende jedoch wird klar, dass dies der entscheidende Wendepunkt in ihrem Leben ist, aus dem sie letztlich Kraft schöpft, um sich gegen den Vater zur Wehr zu setzen.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl.
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Pinguin Verlag
Buchtipp des Monats Juli 2018
© Hartmut Fanger schreibfertig.com
Nicht nur für Beatles-fans
David Foenkinos: „Lennon“. Aus dem Französischen von Christian Kolb. Deutsche Verlags-Anstalt. DVA, München 2018
Wer die 60er und 70er Jahre verstehen will, der kommt an den Beatles schon zwangsläufig nicht vorbei, nicht an deren Musik und Lebensphilosophie, ebensowenig wie an den Schlagzeilen. Zweifellos waren die Fab Four aus Liverpool weltweit populär. Und der Protagonist war ihr Bandleader John Lennon. Es kommt deshalb auch nicht von ungefähr, dass der gegenwärtige Popstar unter den französischen Autoren, David Foenkinos, einen Roman über die Ikone verfasst hat, der Dank seiner präzisen und umfangreichen Recherche nahezu wie eine Biografie anmutet. Das Ganze mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen. Für Fangemeinde, Popwelt und Literaturinteressierte ein Grund zur Freude. Im Übrigen liest sich der Roman ausgesprochen gut und vermittelt das außergewöhnliche Leben Lennons aus der Ich-Perspektive, was besonders nah an die Hauptfigur heranführt.
David Foenkinos John Lennon. Fast kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als wäre der Autor eine Symbiose mit dem Gegenstand seines Interesses eingegangen. Authentisch, originell und treffend werden im Rahmen von 18 Sitzungen einer Psychoanalyse, zugleich Kapitel, Höhen und Tiefen im Leben John Lennons ausgelotet. Frappierend, wenn der Leser bisweilen das Gefühl nicht los wird, als würde John Lennon ihn von der Couch aus direkt ansprechen, und so unmittelbar aus dessen Leben erfährt. John Lennon reflektiert: von der Kindheit des Protagonisten bis hin zum Beginn der Beatles, von den ersten großen Erfolgen bis hin zu Yoko Ono, vom „Bombenlärm“ des Zweiten Weltkriegs bis hin zu „Give Peace a Chance“, vom ‚ersten Joint’ mit Bob Dylan bis hin zur Heroinsucht. Ein langer Monolog, der jedoch mit keiner Zeile langatmig wird. Im Gegenteil. Mitreißend, von Lennons Umgang mit dem Ruhm, seinem Verhältnis zu Paul McCartney zu erfahren, von seinem Protest gegen den Vietnamkrieg und seinem Kampf darum, während der Zeit Richard Nixons in Amerka bleiben zu dürfen. Zahlreiche nicht weniger berühmte Zeitgenossen treten in Erscheinung oder werden zumindest erwähnt. Sei es George Harrison, Ringo Starr, Mick Jagger, Frank Sinatra, Allen Ginsberg oder Fred Astaire. Nicht zu vergessen, Maharishi-Jogi.
Und es wundert dann auch nicht, wenn Foenkinos im Nachwort bekennt, dass John Lennon ‚ein Teil seines Lebens sei, seine Musik ihn überhall hin begleite und er ihn wahnsinnig bewundere’. Dies ist dem mit Herzblut geschriebenen Roman sehr wohl anzumerken und gewiss zugleich auch sein Stärke. Überraschend, dass Foenkinos erst 1974 geboren ist, er also einen Großteil von Lennons Leben erst im Nachhinein hatte kennenlernen können. Zu allem hin bestand die Schwierigkeit, dass nach Foenkinos ’Lennon seine Biografie selbst wohl mehrmals umgeschrieben hat’. Umso beachtlicher die Leistung. Foenkinos ist mit „Lennon“ ein großer Wurf gelungen.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt der Deutschen Verlags-Anstalt DVA!
Buchtipp Monat Mai 2018
© Hartmut Fanger www.schreibfertig.com:
Elende Zustände - Schillernd erzählt
- Der Russland-Roman von Arthur Isarin
Arthur Isarin: „Blasse Helden“, Albrecht Knaus-Verlag, München 2018
Ein außergewöhnlicher Autor mit einer ebenso außergewöhnlichen Biographie. Dies beginnt schon mit seinem Namen, Arthur Isarin, einem Pseudonym. Geboren in München, hat er Philosophie, Politik und Ökonomie studiert und war in den USA, England, Russland und im Kasachstan tätig. Derzeit arbeitet und schreibt er in Queensland, Australien. Mit „Blasse Helden“ liegt nun sein Roman-Debut vor.
Das Ganze spielt unmittelbar nach dem Zerfall der Sowjetunion und wird aus der Perspektive des Protagonisten Anton erfahrbar gemacht, eines Deutschen, der in Moskau sein Glück sucht, von dort aus geschäftlich auch Station in Sibirien und der Ukraine macht. Eine Phase, einerseits mit den Hoffnungen der großen Umgestaltung unter dem Stichwort Perestroika verbunden, gefolgt jedoch zugleich von den Schattenseiten, wie es sich im Zuge der 90er Jahre erwiesen hat: die chaotischen Verhältnisse der sogenannten Jelzin-Jahre, kurz vor Beginn der Putin-Ära. Wobei Putin im Gegensatz zu Jelzin zugeschrieben wurde, besagtes Chaos unter Kontrolle zu bringen, weshalb er vermutlich bis heute das Zepter in der Hand hält. Zunehmend erhellt die Lektüre Hintergründe, warum er als Mitglied des KGB einen als liberal einzuschätzenden Jelzin ablösen und die Macht ergreifen konnte. Dabei gelingt es dem Autor neben einem gehörigen Maß an Zeitkolorit und jeder Menge packender Episoden ein umfassendes Sittengemälde zu präsentieren. Für Westler ein so befremdend wie exotisch anmutendes Land. Die Gesellschaft dort, einerseits scheinbar weit entfernt von Zivilisation, ja archaisch anmutend, andererseits vom aufkommenden Kapitalismus geradezu verroht. So kann es durchaus passieren, dass mitten in der Stadt Heckenschützen vor Theatern und anderen öffentlichen Einrichtungen ein Blutbad anrichten, ebenso wie Hinrichtungen in Restaurants gang und gebe sind oder marodierende Banden mit den zweifelhaften Mitteln einer angeblichen Kernsanierung den angeschlagenen Immobilienmarkt übernehmen, gar ganze Institutionen enteignen. Von gängiger Korruption, Prostitution, Anarchie, Betrug und „flächendeckendem Alkoholismus“ ganz zu schweigen. Hinzu kommt der zunehmende westliche Einfluss, der alte Ordnungen hinfällig werden lässt und das Chaos vollends entfacht. Wildwest in Russia ...
Ein Roman dementsprechend mit jeder Menge Action, voller skandalöser, spektakulärer Ereignisse und Details, die in ihrer Gesamtheit einen nahezu atemlosen Handlungsablauf ergeben. Sei es, wenn auf einer simplen Party ein echter Bär samt Bärenführer auftaucht – für Moskauer Verhältnisse nicht ungewöhnlich, kann man dort doch Bären für derartige Veranstaltungen sehr wohl mieten. Oder wenn in dem ukrainischen Nikolajew Quarantäne aufgrund von Cholera ausgerufen wird, die eine ganze Stadt lahmlegt, sich der Protagonist indessen die Zeit mit Gogols „Die toten Seelen“ vertreibt, das sich als ‚vernichtende Zivilisationskritik’ erweist.
Nicht von ungefähr ist von daher mit „Gogol“ gleich ein ganzes Kapitel überschrieben. Wie den Roman überhaupt zahlreiche Referenzen an Schriftsteller durchziehen. Hatten doch, neben den üblichen russischen und deutschen Klassikern, erst seit der Perestroika eher der westlichen Avantgarde zugeschriebene Autoren wie Henry Miller oder Jack Kerouac ihren Platz in den Bücherregalen eingenommen. Aber auch schillernde Meister ihrer Zunft wie John le Carré oder der von existenzialistischer Philosophie infizierte Albert Camus werden von Anton in der Auseinandersetzung mit den extremen Erfahrungen, die er als Deutscher in Moskau macht, herangezogen. Franz Kafka wiederum verwendet er auf einer Polizeiwache gar als Pseudonym, was allerdings keinem weiter auffällt. Nicht zuletzt gilt die Bewunderung Antons dem russischen Dichter Michail Lermontow, einem der bedeutendsten Vertreter der russischen Romantik mit einem beachtlichen poetischen Werk, der sich im 19. Jahrhundert mit seinem Roman „Ein Held unserer Zeit“ in die Literaturgeschichte eingeschrieben hat und dessen Bild in seiner Wohnung hängt. „Die schwarzen Augen Lermontows, ungeheuer groß und alles durchdringend“.
Als ‚ungeheurer groß’, um nicht zu sagen monströs, ‚und alles durchdringend’ könnte man gleichwohl die Öffnung Russlands vom Kader-Kommunismus hin zum Turbo-Kapitalismus der neunziger Jahre charakterisieren, wie von Isarin vor Augen geführt. Wobei im Zuge dessen aber auch die kulturellen Errungenschaften im Zuge der Öffnung zum Westen hin nicht verschwiegen werden sollen: etwa der Auftritt künstlerischer Größen wie des berühmten Alban-Berg-Quartetts oder der in Wuppertal Schule machenden Pina Bausch und ihres Tanztheaters sowie der Besuch eines Models von Weltrang wie Claudia Schiffers.
Abgesehen von der gelegentlichen Neigung des Autors zu klischeehaften Redewendungen, eine so rasant wie fesselnde Lektüre. Überdies von bemerkenswertem Erkenntnisgewinn, zumal was die Zustände im heutigen Russland Putins anbelangt. Dabei nicht ohne schwarzen Humor, was der Lektüre zusätzlich ihren Reiz verleiht!
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl.
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Albrecht Knaus-Verlag
Datei zum Herunterladen im Archiv Arthur Sarin
unseren aktuellen Sachbiuchtipp Barbara Ehrenreich
Siehe auch unseren aktuellen Buchtipp für Junge Leser
unseren aktuellen Lyrik-Buchtipp
Buchtipp des Monats Februar 2018
© Hartmut Fanger schreibfertig.com
Zwischen Heldenreise und Politthriller
Thorsten Oliver Rehm: „Der Bornholm-Code“.
Ruhland Verlag, Bad Soden 2017
Im Zentrum dieses über 500 Seiten starken Debutromans von Thorsten Oliver Rehm steht der sympathisch gezeichnete, von Idealismus beseelte Unterwasserarchäologe Dr. Frank Stebe. Im Wissenschaftsstreit um die Nibelungensage fördert er spektakuläre Ergebnisse zutage. Nicht ahnend, dass er damit ins Visier des nebulösen Institutes für Unterwasserarchäologie Ostsee (IUAO) gerät, das sich als Geldgeber dieser Forschung erweist und mit der Elite von Wirtschafts- und Finanzwelt kooperiert. An dessen Spitze wiederum treibt ein so fanatischer wie im Geheimen operierender und mit krimineller Energie ausgestatteter Magnat von ultrarechter Gesinnung sein Unwesen, der seine Gegner im Zweifelsfall von angeheuerten Killern eliminieren lässt. Den dem Nibelungenschatz zugeschriebenen Artefakten, auf die Stebe, motiviert von brennendem Erkenntnisinteresse, an unvermuteter Stelle stößt, unterstellt er magische Kräfte. Nichts kann ihn davon abhalten, in deren Besitz zu gelangen, wobei er bereit ist, buchstäblich über Leichen zu gehen, mit dem Ziel, weltweit seine totalitären Machtbefugnisse zu etablieren. Ohne zu wissen, dass er mit einem in seinem Fanatismus skrupellosen Gegner um besagte Artefakte konkurriert, geraten am Ende nicht nur Stebe, sondern auch seine Frau, die kurzerhand gekidnappt wird, in Lebensgefahr. Ab jetzt nimmt die ohnehin von der ersten Seite an packende Lektüre zunehmend Fahrt auf, lässt den Leser nicht mehr los. Zugleich klärt sich indessen aber auch, warum Stebes früherer Mentor, Freund und Vertrauter, Robert Sailer, mit dem er einst in geheimer Mission nach den einschlägigen Beweisstücken tauchte, bei einem bis dato nicht ganz geklärten Unfall ums Leben kam. Seinerzeit Grund für Stebe, besagtem Institut, dem es offenkundig weniger um wissenschaftliche Erkenntnis als vielmehr um Profit geht, den Rücken zu kehren.
Dies sind die Zutaten zu der abenteuerlichen Story, die zunehmend zu einem Politthriller avanciert, immer wieder von temporeichen Dialogen getragen, und jeder Menge Action. Wobei es dem Autor mit den Verflechtungen zwischen rechtslastigen Kräften, die wiederum mit Wirtschafts- und Finanzwelt in Verbund stehen, gelingt, gesellschaftliche Strömungen aufzunehmen, die derzeit europaweit drohen, die Demokratie zu untergraben, und diese literarisch auszufantasieren. Zugleich bestechen die akribisch recherchierten frühgeschichtlich und archäologischen Daten und Fakten, mit denen der Autor hier aufwartet. Desgleichen seine dezidierte Kenntnis der Taucherwelt. Dies alles macht, neben dem unbestrittenen Unterhaltungswert der Lektüre, ihre Substanz aus.
Nicht durchgehend gelungen scheint wiederum die Verschlingung zwischen dem Aspekt der Heldenreise, Entwicklungsgeschichte, und Abenteuerroman, Politthriller. So vor allem am Schluss, wo ein bisschen zuviel auf die Gefühlstube gedrückt, Stebe als Held und Gutmensch allzu glatt in Szene gesetzt wird. Da ‚strahlen’ die Helden einen Tick zu viel, ist von ‚leuchtenden Augen’ oder gar ‚dem Glanz der Freude’ die Rede. Hier wäre weniger mehr gewesen, hätte ein etwas strikteres Lektorat seitens des Verlages dem Ganzen gut getan.
Aber all dies tut dem Lesevergnügen des beachtlichen Debuts, sei es im Hinblick auf die durchweg fesselnde Story, sei es im Hinblick auf besagten Erkenntnisgewinn, keinen Abbruch. Und dazu kann man dem Autor nur gratulieren!
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Ruhland Verlag!
Buchtipp des Monats Januar 2018
© Erna R. Fanger www.schreibfertig.com:
Das Richtige tun heißt, gar nichts zu tun, der richtige Ort dafür ist ein Versteck,
und der richtige Zeitpunkt dafür ist so oft wie möglich.
Tony Cock: „Verhaltensökologie“ in: „Die Biologie von Landmolluskeln“
Von der genügsamen Vielfalt des Lebens
Elisabeth Tova Bailey: „Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“. Aus dem Englischen von Kathrin Razum. Piper Verlag GmbH, München 2014
2010 im amerikanischen Original, „The Sound of a Wild Snail eating“, erhielt das schmale Buch in hoch poetischer Diktion etliche Preise, die wichtigsten: der National Outdoor Book Award (2010) und der William Saroyan International Prize for Writing (2012). Es ist die Chronologie einer schweren Virus-Erkrankung, von der sich die 34-jährige amerikanische Journalistin, ehemals Gärtnerin, auf dem Rückweg von einer Europareise jäh befallen findet. Einer Viruserkrankung, die entscheidende Körperfunktionen blockiert und ihren Organismus über Monate hinweg lahm legt und sie zwanzig Jahre lang in Schach halten soll. Jäh brechen Gewissheiten von Lebenssinn und Kontinuität zusammen. Die Ich-Erzählerin stürzt in ein Vakuum, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint, eine andere Zeitrechnung setzt ein:
Ich schaffte es mit Mühe und Not, den einzelnen Moment zu bewältigen, und jeder dieser Momente zog sich hin wie eine endlose Stunde, doch zugleich verstrichen ganze Tage unbemerkt. Auch ungenutz durchlebte Zeit vergeht, als hätte die Zeit einen unstillbaren Hunger und vertilgte den Tag komplett, ohne einen Krümel, eine Spur, eine Erinnerung zu hinterlassen.
Bis ihr eine Freundin einen Blumentopf mit Ackerveilchen mitbringt, in den sie eine kleine Waldschnecke gesetzt hat. Wenig begeistert zunächst, entspinnt sich allmählich, in gebotener Langsamkeit, zwischen der nur in der Horizontale lebensfähigen Ich-Erzählerin und besagter Schnecke ein verschwörerisch, ja geheimnisvoll anmutendes Miteinander, beginnend mit Beobachtungen des Fressverhaltens ihres kleinen Mitbewohners und der Geräusche, die das Wesen dabei machte: „Das leise, anheimelnde Gräusch der Schnecke beim Fressen gab mir ein Gefühl von Gemeinschaft, von Zusammenleben.“ Und wie wenig es der Ich-Erzählerin vergönnt ist, nachts in den Schlaf abzudriften, er immer wieder unterbrochen ist und nicht selten ganz ausbleibt, wacht neben ihr die nachtaktive Schnecke, „als wäre (...) die dunkelste Zeit tatsächlich die beste Zeit zum Leben.“ Nach und nach verlagert sich der Fokus der Ich-Erzählerin: vom Abgrund ihrer lahmgelegten Physis hin zu einem kleinen Wesen, das seine Tage mit Bedacht bemisst, sich klug in seiner neuen Umgebung einrichtet. Denn Schnecke und Ich-Erzählerin ‚lebten beide in einer veränderten Landschaft, die sie sich nicht selbst ausgesucht hatten, teilten ein Gefühl des Verlusts und der Heimatlosigkeit’. Dabei ist ihr die Schnecke in dem Maaß Vorbild, in dem sie sich mit ihrer neuen Umgebung arrangiert, das Terrain austariert,
Hindernisse geschickt umgeht, sich ganz selbstverständlich anpasst. Mit Bedacht wählt sie ihre Nahrung aus, lässt dabei Vorlieben erkennen, wie für frischen Champignon oder auch Eierschalen, die ihrem Kalziumhaushalt zugute kommen. Fasziniert stellt die Ich-Erzählerin fest, wie die Schnecke nicht müde wird, immer wieder neue Schlafplätze aufzusuchen, einem ständigen Versteckspiel gleich. Indessen hat sie für ein Terrarium gesorgt, was der Schnecke offenkundig behagt. Nicht in der Lage, ein Buch zu halten, beobachtet die Ich-Erzählerin stattdessen, wie die Schnecke, den Hals über das Gehäuse reckend, dieses säubert. Oder wie begeistert sie sich über etwas Neues zeigt, wenn jemand ein Stück Birkenride, einen Moosballen für das Terrarium mitbringt.
Nach etwa einem Jahr hat sich der Zustand der Ich-Erzählerin so weit verbessert, dass sie das Studio, in dem sie zur Pflege untergebracht war, verlassen und wieder in ihr Haus zurück kann. Nach und nach erobert sie sich, an der Seite Hündin Brandy, den idyllischen Lebensraum mitten auf dem Land in paradiesischer Vegetation zurück, bevölkert von einer Vielzahl an Vögeln, darunter Kolibris, und Schmetterlingen, beobachtet vom Krankenbett aus die Natur:
... das sanfte Wehen oder heftige Tosen des Windes, die unterschiedlichen Stimmungen des Regens, das Wechselspiel von Sonne, Mond und Wolken. (...) Später stießen Fledermäuse – bloße Schemen, schwarz auf schwarz – nach abendlichen Leckerbissen herab, und aus dem Wald drangen leise, ganz leise, die Rufe der Eulen, bis schließlich unter dem uralten Licht der fernen Sterne und des zu- oder abnehmenden Mondes völlige Stille herrschte.
So war auch die Zeit herangerückt, die Schnecke in ihre natürliche Umgebung auszusetzen, zumal diese sich, Zwitter, der sie ist, indessen vielfach vermehrt hatte – auch die Beobachtung des ersten Geleges, des Schlüpfens winziger Nachkömmlinge, ein Faszinosum. Fortan widmet sich die Ich-Erzählerin der akribischen Erforschung des Geschöpfs, das sie davor bewahrt hatte, ihren Lebensmut zu verlieren. In dieser Lesart hat sie uns eine so umfassende wie verblüffende Kulturgeschichte der Schnecke beschert, in der deren biologische Besonderheiten denen ihrer Faszination, die sie auf manchen Dichter und Schriftsteller ausübte, wenig nachstehen. So leiten einzelne Kapitel immer wieder Haikus über das Leben der Schnecke von Kobayashi Issa (1763-1827) ein, belegen Zitate, u.a. von Elisabeth Bishop, Emiliy Dickinson oder Patricia Highsmith, dies. Selbst Aristoteles hatte sich bewundernd über iher scharfen kleinen feinen Zähne geäußert, nichts ahnend von deren enormer Anzahl, an die 2640! Alles an ihr erscheint mit einem Mal gigantisch im Vergleich zur äußeren Unscheinbarkeit dieses Geschöpfs. Von der Architektur ihres Hauses, über das ausgiebig lustbetonte Liebesleben, bis zur zentralen Rolle des Schleims, den sie absondert, sei es zur Fortbewegung, sei es zur Abwehr von Feinden, um nur zwei seiner vielfältigen Funktionen, die sich indessen auch die Bionik zu eigen macht, zu nennen. Die gesamte evolutionäre Entwicklung, einhergehend mit dieser verblüffenden Vielfalt an Fähigkeiten und Überlebenstechniken, deutet auf eine Überlegenheit gegenüber dem Menschen hin, angesichts derer man sich mit einem Mal dürftig vorkommen, ja Demut empfinden mag. Wie es etwa im Jahr 1607 der italienische Gelehrte Giovanni Francesco Angelita mit dem Titel seines Aufsatzes „Über die Schnecke, und dass sie ein Vorbild für das menschliche Leben sey“ bestätigt. Aus der Feder der Ich-Erzählerin vernehmen wir: „... die Schnecke verhinderte, dass mein Lebensmut schwand. Wir zwei bildeten eine ganz eigene Gemeinschaft, und das nahm der Isolation die Schärfe.“ An anderer Stelle: „Die Schnecke war mir eine echte Lehrmeisterin gewesen, ihr bescheidenes Dasein hatte mir Kraft gegeben.“
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl! Erna R. Fanger
Buchtipp Dezember 2017
© Hartmut Fanger www.schreibfertig.com:
Schwarzhumoriger Agentenroman
Jean Echenoz: „Unsere Frau in Pjöngjang“. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag, München 2017.
Es ist sein wunderbar leichter Erzählstil, der fasziniert und verführt, immer weiter und weiter zu lesen. Jene Leichtigkeit, die Steffen Richter von der ‚Neuen Zürcher Zeitung’ bereits in dem Roman „Laufen“ des französischen Erfolgsautors Jean Echenoz über den tschechischen Langstreckenläufer Emil Zatopek hervorgehoben und treffend auf die Kunst „des intelligenten Weglassens“ zurückgeführt hat. Mit „Unsere Frau in Pjöngjang“ folgt nun ein Geschenk von Echenoz an seine Fans und Freunde des heiteren Agentenromans, der rechtzeitig vor seinem 70. Geburtstag, am 26. Dezember dieses Jahres, erschienen ist. Anlass genug, um sein neuestes Werk vorzustellen.
Der mit Witz erzählte Agentenroman, in drei Teile mit insgesamt zweiundvierzig kurzweiligen Kapiteln gegliedert, erstreckt sich auf 284 Seiten. Dabei handelt es sich um die Geschichte von der attraktiven Constance, die zu Spionagezwecken entführt und schließlich zur Destabilisierung Nordkoreas nach Pjöngjang transportiert wird. Für Nordkorea scheint Constance insofern prädestiniert, als sie einst den „Monsterhit Excessif“ ihres wohlhabenden, ehemals erfolgreichen Schlagerkomponisten und Ex-Mannes Tausk gesungen hat und deshalb in Pjöngjang zum Star geworden ist.
Doch wider alle Erwartungen verläuft die Entführung ohne jede Gewaltanwendung. Vielmehr empfindet Constance, im Gegenteil, eher Zuneigung zu ihren Entführern. Insbesondere zu Paul Objat, der rechten Hand des aus der Ferne agierenden und für sie unbekannt bleibenden Generals und Befehlshabers namens Bourgeaud. Nach ihren mit sanfter Gewalt erzwungenen Aufenthalten in Paris und im Turm eines Windrades auf dem Land wird sie schließlich in Pjöngjang als Geliebte auf Gang Un-ok, einem hochrangigen Funktionär, angesetzt, dem sie so manches Geheimnis entlockt, und mit dem sie am Schluss gar fliehen muss.
Dabei lebt das Ganze wesentlich von der Erwartungshaltung des Lesers, die Echenoz geschickt aufrechtzuerhalten und zu steigern weiß. Bereits der Titel „Unsere Frau in Pjöngjang“ weist auf ein aktuell brisantes Thema hin und stimmt vor dem Hintergrund der realen Bedrohung von Kim Jong Un, dessen Raketenversuche über Japan hinweg und der damit verbundenen atomaren Gefahr, neugierig. Von der Gegenreaktion des US-Präsidenten Donald Trump ganz zu schweigen.
Doch dann flicht Echenoz zunächst ein spannendes Erzählnetz aus verschiedenen Begebenheiten der Akteure, die allesamt miteinander in Verbindung stehen. Die Handlung spielt somit über zwei Teile hinweg in Frankreich, vornehmlich in Paris.
Darin wird u.a. geschildert, wie der Gangster Clément Pognel seine Freundin, die Friseuse Marie-Odiles, umbringt, weil sie von seinen Machenschaften mit Tausk Wind bekommen hat, mit dem er vor dreißig Jahren einen Bankraub beging. Oder wir erfahren von dem Metro-Fahrer Hyacinthe, der erleben muss, wie sich ein gewisser Pélestor vor seinen Augen auf die Schienen legt und überfahren wird. Später soll Hyacinthe mit Tausk zusammen nach Simbabwe beordert werden.
Erst im dritten und letzten Teil ist überhaupt etwas von Nordkorea und Pjöngjang, von dem politischen System dort, der Landschaft und den Menschen zu erfahren. Packend, mit Tempo und Finesse, wird die Flucht von Gang Un-ok und Constance und ihren Helfern in die endmilitarisierte Zone zwischen Nord- und Südkorea in Szene gesetzt.
Von spielerischem Reiz ist, wenn sich Echenoz der Wir-Perspektive bedient. Dabei wendet sich der Erzähler in gewissen Abständen an den Leser, spricht diesen an, womit Echenoz eine Meta-Ebene erzielt, die sich ein Stück weit von der Handlung entfernt, Distanz erzeugt und auf die Machart des Romans anspielt, dem Leser einen Blick hinter die Kulissen gewährend. So zum Beispiel, wenn es heißt, dass „...Gang Un-ok perfekt Französisch [sprach], was uns entgegen kommt, denn es enthebt uns der Notwendigkeit von Dolmetschern, lästigen Nebenfiguren oder gar störenden Zeugen, wir wüssten nicht, wie wir sie danach wieder loswerden sollten“. Oder wenn er ausführt, warum es den Nordkoreaner Pak Dong-bok nicht zu beschreiben lohnt: „Wir werden uns die Mühe ersparen, diesen Pak Dong-bok zu beschreiben: Er wird eine nachgeordnete Rolle spielen und wir haben Besseres zu tun als ...“
Aber auch der Synchronizität bedient sich Echenoz gekonnt als Stilmittel. So etwa, wenn Tausk ausgiebig seine Fingernägel schneidet und pflegt und kurz darauf ein Päckchen, angeblich mit einem Finger von Constance, erhält.
Alles in allem für Leser und Freunde des schwarzen Humors, des Agentenromans, aber auch all diejenigen, die selbst gerne schreiben und sich vielleicht an einem Roman üben, ein wahres Vergnügen. Die Machart auf jeden Fall lehrreich.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Hanser Verlag!
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Siehe auch unseren Buchtipp für Junge Leser
und unseren aktuellen Sachbiuchtipp
Zwei Buchtipps im Oktober 2017:
- Ulla Hahn "Wir werden erwartet" Deutsche Verlags-Anstalt, München 2017
- David Constantine: "Wie es ist und war", Verlag Antje Kunstmann,
München 2017:
Buchtipp Oktober 2017 Ulla Hahn
© Hartmut Fanger www.schreibfertig.com
„Ich wollte in der Welt sein, Nicht in den Büchern“
Ulla Hahn: „Wir werden erwartet“, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2017
Nach „Spiel der Zeit“ hier nun mit 629 Seiten der letzte in sich abgeschlossene Teil des ungemein erfolgreichen autobiografischen Roman-Zyklus’ von Ulla Hahn: „Wir werden erwartet“. Schon das erste Werk dieser Reihe, „Das verborgene Wort“, avancierte zum Bestseller und erhielt 2002 den Deutschen Buchpreis.
Wie schon bei seinen Vorgängern handelt es sich auch bei „Wir werden erwartet“ um einen Entwicklungs- und Bildungsroman. Im Zentrum Protagonistin Hilla Palm – ‚Mädchen aus dem Rheinland und aus einfachen Verhältnissen’, das sich der ‚Arbeiterklasse’ zugehörig fühlt und in die DKP eintritt. Entscheidende Stationen ihres Lebens sowie jede Menge Zeitgeschichte bilden die Schwerpunkte. Und so mancher mag darin Teile seines eigenen Werdegangs wiedererkennen, der politischen Verhältnisse, des Ambientes einer Universität oder das einer so Großstadt wie Köln oder Hamburg. Dabei verfügt der Roman über einen enormen Fundus an kleinen und großen Details, die das Ganze plastisch und facettenreich in Erscheinung treten lassen. Zum Beispiel, wenn von dem Schrecken des Krieges in Vietnam oder von der ersten Mondlandung mit Apollo 11 die Rede ist und zumindest der Fußabdruck auf dem Erdtrabanten infrage gestellt wird. Darüber hinaus kulturelle Ereignisse wie Woodstock, die Protestsongs von Bob Dylan oder Joan Baez, die Beatles mit Liedern wie „Let it be“ oder Simon and Garfunkel mit „Bridge over Troubled Water“. Im Jahr 1971 die Verleihung des Friedensnobelpreises an Willy Brandt. Später dann die Thematisierung der mörderischen Baader-Meinhof-Gruppe, die ab 1970 die Medien beschäftigte. Nicht zuletzt die Verleihung des Friedennobelpreises an Willy Brandt im Jahre 1971.
Die Beschreibung der wie Pilze aus dem Boden schießenden Wohngemeinschaften, Hippie- oder K-Gruppen ergänzen das Bild. Von den Forderungen nach Freier Liebe, der Einführung von Mao Zedongs Lieblingsfrucht, der Mao Mango, ganz zu schweigen. Und nicht zu vergessen: die für die Zeit unabdingbaren Lektüren, wie „Das kommunistische Manifest“ von Marx und Engels, „Ein Zimmer für, sich allein“ von Virgina Woolf, Pablo Nerudas „Canto General“ oder „Die Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiß – um nur die gängigsten hier aufzuführen. Doch auch die Darstellung des universitären Betriebs der Hamburger Uni mit ihrem Philosophenturm, den Geisteswissenschaften, insbesondere des Germanistischen Seminars mit seinen Professoren ist lesenswert. Die dort und in linksliberalen Arbeitskreisen behandelten Themen, wie etwa das Werk Heinrich Heines oder die Auseinandersetzung mit der Arbeiter- und Befreiungsliteratur.
Bezeichnenderweise beginnt der in drei Abschnitte aufgeteilte Roman „Wir werden erwartet“ mit „Der Tod“, gefolgt von „Der Kampf“ und schließlich „Das Fest“. Ist es doch zugleich auch die Geschichte eines gravierenden Verlusts, der Trauerarbeit erfordert. Dementsprechend wird am Anfang viel gestorben. Einschneidend die Erfahrung, als Hugo, der enge Lebensgefährte Hilla Palms, überraschend durch einen Autounfall ums Leben kommt. Verzweiflung und Trauer beherrschen viele Seiten. Hinzu kommt der Tod von Kommilitonin und Kollegin Annegret, der Tod des ersten Mannes ihrer Mutter und weiterer Personen aus dem Umfeld. Dabei gelingt es Ulla Hahn, den Leser mitten ins Geschehen zu ziehen. Und dies mit leichter Hand und einer Fülle an Zeit- und Lokalkolorit, Witz und Charme, immer wieder eingebettet in rheinischen Dialekt. Nur so, Beruhigungspillen und Therapie inbegriffen, ist es der Protagonistin offenbar möglich, die Zeit der Trauer, zweitweise auch vermischt mit Hass auf Gott und die Welt, durchzustehen, was die Autorin so eindringlich wie authentisch vor Augen führt.
Nicht unerwähnt bleiben darf die poetische Sprache Ulla Hahns, die daran erinnern mag, dass sie ihre schriftstellerische Laufbahn als Lyrikerin begonnen hat. In den Vordergrund tritt dies vornehmlich in den Natur- oder Landschaftsbeschreibungen:
In sich logische Konsequenz dementsprechend scheint, wenn zu Beginn des zweiten Teils „Der Kampf“ in Hamburg das Gedicht als solches sowohl theoretisch als auch praktisch an Einfluss gewinnt. So erfährt zum Beispiel ein Gedicht von August Graf von Platen eine Umdichtung; gefolgt von einer Hommage in Form eines Gedichts an Gertrud Kolmar, oder wenn die Protagonistin Überlegungen anstellt, inwieweit die ‚Basis eines Gedichtes anstatt der ‚Mühen der Arbeit’ eher die ‚Freude’ daran sein sollte. Ihre Könnerschaft auf dem Gebiet stellt die Protagonistin dann mit den Gedichten „Fest auf der Alster“, „Schreibübung“ oder „Spazierfahrt in norddeutscher Landschaft“ unter Beweis.
„Der Kampf“ zeigt aber auch die unermüdliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dessen Verbrechen an der Menschheit, hebt den Einsatz Einzelner im Widerstand hervor, die verhaftet, gefoltert und im KZ einen vorzeitigen Tod erlitten hatten. Darüber hinaus den Einsatz linker Gruppierungen und Organisationen im „Kampf für eine bessere Gesellschaft“ bis hin zur Wiedervereinigung 1989. Schließlich den Bruch der ‚Genossin Palm’ mit DKP und Systemmach dem desillusionierenden Besuch in der ehemaligen DDR und als Konsequenz der Ausbürgerung Wolf Biermanns im Jahr 1976. In ihrer Funktion als Vorstandsmitglied des Schriftstellerverbandes hatte Hilla Palm dagegen protestiert.
Dem Leser jedenfalls wird mit „Wir werden erwartet“ ein Stück vitaler Zeitgeschichte der Bundesrepublik aus der Sicht einer politisch engagierten jungen Frau, Lyrikerin und Schriftstellerin, aus dem Arbeitermilieu stammend, geboten!
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
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Siehe auch den aktuellen Buchtipp: : David Constantine: "Wie es ist und war"
Siehe auch unseren Buchtipp für Junge Leser
und unseren aktuellen Sachbiuchtipp
Buchtipp des Monats November 2016
© Hartmut Fanger www.schreibfertig.com
Wahre Geschichten des Meisterspions
John Le Carré: Der Taubentunnel. Geschichten aus meinem Leben, aus dem Englischen von Peter Torberg, Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016
Ein Buch nicht nur für John-le-Carré-Fans, sondern für alle, die, über das Lesevergnügen hinaus, etwas über das Schreiben aus eloquenter Feder erfahren und sich mit dem Schriftstellerleben an sich beschäftigen wollen. So wird der Leser hier Zeuge, wie sich die unterschiedlichen Leben John le Carrés, als Spion einerseits, als Schriftsteller andererseits, miteinander verweben und dabei zutage tritt, wie er zu so manch brisantem Stoff seiner Thriller-Romane gekommen ist. Insbesondere von „Der Spion, der aus der Kälte kam’, und „Dame, König, As, Spion“, die bereits preisgekrönt verfilmt wurden. Und natürlich werden ebenso wie in seinen fiktiven Erzählungen auch hier sogenannte Überläufer, Maulwürfe und Doppelagenten thematisiert.
Dabei gibt Le Carré großzügig Auskunft darüber, welche schriftstellerischen Tricks er angewandt - und wie überhaupt er das Schreiben erlernt hat. Der große Autor Graham Greene zum Beispiel, von dem er viel profitiert hat, wird immer wieder zitiert. Eine Fülle von Episoden, in sich abgeschlossen, von reißerischer, spannender und brisanter Dramaturgie, ziehen den Leser in den Bann. Zugleich ein Stück Zeitgeschichte, so unterhaltsam wie aufrüttelnd vor Augen geführt: vom kalten Krieg nach 1945 bis hin zu dem tödlichen Attentat auf John F. Kennedy, von Perestroika unter Gorbatschow bis zum Mauerfall, von der Begegnung mit dem schillernd in Szene gesetzten PLO Chef Arafat bis hin zum 11. September 2001, von Guantánamo bis zu Edward Snowden.
Faszinierend und exotisch muten die Erlebnisse in der Opium-Höhle von Laos an, die Mission in Hongkong oder Phnom Penh sowie die zahlreichen Reisen zu den Brennpunkten der Welt: Beirut, Moskau und Jerusalem. Dabei stoßen wir immer wieder auf eine außerordentliche, nahezu unglaubliche Vielfalt menschlicher Existenz aus einer Perspektive eines Geheimagenten, die dem Durchschnittsbürger in der Regel verschlossen bleibt.
Darüber hinaus zeigt John le Carré auf, dass er als Brite, einst in Oxford dem Studium der Deutschen Sprache und Literatur verschrieben, sehr wohl bewandert war in den „Dramen von Goethe. Lenz, Schiller, Kleist und Büchner“, er von Thomas Mann und Hermann Hesse schwärmt und sich nicht zuletzt in Deutscher Geschichte auskennt. Sei es, wenn er von den Verbrechen des Nationalsozialismus vor und während des Zweiten Weltkriegs, insbesondere von Konzentrationslagern, berichtet. Oder wenn er nach dem Zweiten Weltkrieg beanstandet hat, dass ‚die alte Nazi-Garde sich auch weiterhin an die besten Posten klammerte’ und unter Adenauer üble Gesetze schuf. Von der daraus resultierenden Gegenbewegung und der radikalisierten Bader-Meinhof-Gruppe mit ihrer Roten-Armee-Fraktion ganz zu schweigen.
Historie wird bei John le Carré dann besonders plastisch, wenn er entscheidende Momente in Szene setzt. So zum Beispiel, als der einstige Kanzlerkandidat der SPD, Fritz Erler, zur Adenauerzeit den damaligen scheidenden britischen Premierminister Macmillan trifft und diesen in dessen Beisein angesichts seiner Einschätzung der Atomwaffenpolitik der USA als ‚nicht regierungsfähig’ einstuft.
Doch damit nicht genug. Immer wieder spannend lesen sich auch die Begegnungen mit zeitgenössischer Prominenz, insbesondere aus dem Filmgenre. So etwa mit den Schauspielern Richard Burton oder Alec Guinness, den Carré in einem Geleitwort porträtiert. Des Weiteren das Zusammentreffen mit den Regisseuren Sydney Pollack oder Francis Ford Coppola. Unvergesslich das Zusammentreffen mit Fritz Lang, als im Zuge dessen sich immer deutlicher abzeichnet, wie der einst gefeierte Regisseur von „M“ mit Peter Lorre als Kindsmörder, „Metropolis“ oder „Dr. Mabuse“ in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, nun, Mitte der sechziger Jahre im hohen Alter, der Blindheit nah, nicht mehr gefragt war, dies jedoch nicht wahrhaben wollte. Le Carré nahm ihm diesen Glauben nicht, als sie auf Wunsch Langs zusammenkamen, um aus dem „Kleinen Buch Ein Mord erster Klasse einen Film zu machen. Lang indessen gab sich, entgegen den auch äußerlich sich manifestierenden Zeichen des Niedergangs, wie eine Diva.
Besonders nah kommt der Leser dem Autor, wenn er von seinem Vater erzählt, den er bei dessen Vornamen „Ronnie“ nennt und als „Hochstapler, Phantast“ und „immer wieder mal Knastbruder“ bezeichnet. Dieser Ronnie hatte seinem Sohn keine glückliche Kindheit beschert und seine Mutter schon früh veranlasst, ihren nichtsnutzigen Gatten samt ihm, seinem Sohn, zu verlassen. Erst nach dessen Tod war es John le Carré möglich, sich mit ihm zu versöhnen. Obschon ‚er manchmal noch immer der Berg’ sei, ‚den es zu bezwingen gilt’.
Ein Buch, das sich von der ersten Seite an packend liest und das man bis zur letzten Seite nicht mehr loslassen kann.
Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für das uns freundlicherweise überlassene Rezensionsexemplar gilt
dem Ullstein-Verlag!
„Die Zeit gibt die Bilder, ich spreche nur die Worte dazu...“
Stefan Zweig: Die Welt von Gestern, Insel Verlag, Berlin 2013
Aktuell wird in unseren Kinos der Spielfilm „Vor der Morgenröte. Stefan Zweig in Amerika“ von Maria Schrader mit Josef Hader in der Hauptrolle gespielt. Darin sechs Episoden aus dem Leben des großen Schriftstellers zur Zeit seines Exils. Buenos Aires, New York und Rio de Janeiro die Stationen. Künstlerisch anspruchsvoll in Szene gesetzt. Bis hin zu seinem Selbstmord 1942 in Petrópolis (Brasilien). Tragisches Ende des so ungemein erfolgreichen Autors, der in seinem Werk wie kein anderer die Seele des Menschen erfasst hat. Man denke an „Sternstunden der Menschheit“, „Ungeduld des Herzens“ oder „Maria Stuart“, um nur einiges zu nennen. Doch angesichts des politischen Umfelds und den damit verbundenen dramatischen Ereignissen scheint zumindest seine Verzweiflung darüber nachvollziehbar. Die Zeit des Nationalsozialismus zwingt ihn aus seinem Heimatland zu fliehen. Seine Bücher verboten und verbrannt.
In seinem posthum 1944 in Stockholm veröffentlichten Werk „Die Welt von Gestern“ ist dann zu lesen, dass er „als Österreicher, als Jude, als Schriftsteller, als Humanist und Pazifist“ den ‚heftigsten Erdstößen’ ausgesetzt gewesen sei, man ihm „dreimal Haus und Existenz umgeworfen“ hätte. Er fühlte sich mit „Vehemenz ins Leere geschleudert, in das wohlbekannte...’Ich weiß nicht, wohin’’’. Entwurzelt, entrechtet und verbannt, zu einer Zeit, wo in Europa die Naziideologie vorherrschte und in der Zweig nach Schrader zu Recht allgemein als ‚Vorreiter der Europäischen Union’ und ‚Weltbürger’ angesehen werden kann. Und so mancher mag in dem damit einhergehenden Nationalismus, den Zweig als ‚Erzpest’ bezeichnet hat, ,die die ‚Blüte unserer europäischen Kultur vergiftet habe’, eine Parallele zur Gegenwart erkennen. Auch heute kommt in Europa die Sorge auf, dass wieder das geschehen könnte, was Zweig als ‚einen unvorstellbaren Rückfall der Menschheit in längst vergessene Barbarei mit ihrem bewussten und programmatischen Dogma der Antihumanität’ bezeichnet. Ungeschminkt zeigt er u.a. die Anfänge an den Universitäten auf, wo Burschenschaften Gegner derselben und Andersdenkende blutig und brutal vertrieben hatten. Gefolgt von der Machtergreifung des Nationalsozialismus und "Reichtsagsbrand" von „Konzentrationslager“, „Judenboykott“ und „Bücherverbrennung“.
Vor diesem Hintergrund lesen sich die Abschnitte über das Wien der Jahrhundertwende (19./20. Jh.) wie der Blick in ein Goldenes Zeitalter, wo die Wertschätzung noch dem Theater und der Literatur galt. „In kaum einer Stadt Europas war nun der Drang zum Kulturellen so leidenschaftlich...“
Ähnliches gilt natürlich für Paris, das man jedoch laut Zweig erst so recht lieben kann, wenn man zuvor in Berlin gewesen ist. Plastisch führt er die Metropole an der Seine mit ihren Dichtern vor Augen. So schildert er zum Beispiel, wie er sich im Café Vacherte den Stammplatz von Verlaine und dessen Marmortisch zeigen lässt und ihm zu Ehren ein Glas Absinth trinkt. In dieser ‚Stadt der ewigen Jugend’, in der es nur ein „Nebeneinander der Gegensätze, kein Oben und Unten“ gibt. London hingegen wirkt ‚nach Paris’ auf Ihn, „wie wenn man an einem überheißen Tag plötzlich in den Schatten tritt...“ London, „Paris, England, Italien, Spanien, Belgien, Holland“, nur einige europäische Städte und Länder, die er allesamt bereist hat und die für ihn allesamt nur ‚Umwege auf dem Weg zu ihm selbst sind’.
Doch er schildert auch Vorbilder, Dichter und Bildhauer. Hofmannsthal widmet er über viele Seiten hinweg eine Hommage, vergleicht ihn mit Keats und Rimbaud: „Die Erscheinung des jungen Hofmannsthal ist und bleibt denkwürdig als eines der großen Wunder früher Vollendung.“ Auch Goethe bewundert er, zitiert ihn wieder und wieder, so sein Bekenntnis zu dessen „...Wort, dass man die großen Schöpfungen, um sie ganz zu begreifen, nicht nur in ihrer Vollendung gesehen, sondern auch in ihrem Werden belauscht haben muß.“ Rilke darf nicht unerwähnt bleiben. Zweig besuchte ihn in dessen mit Büchern und Blumen ausgestatteten Mietzimmern in Paris, wo ‚Bleistifte und Federn in kerzengerader Linie auf dem Schreibtisch lagen’. Ebenfalls begegnete er in Paris dem Bildhauer Rodin, „dessen Ruhm“, so Zweig, „die Welt erfüllte, dessen Werke unserer Generation Linie um Linie gegenwärtig waren wie die nächsten Freunde...“
Es wimmelt in dem Buch von Zweig nur so von bekannten Namen großer Dichter und Literaten und Journalisten, wie etwa dem Feuilletonredakteur der ‚Neuen Presse’ in Wien, Theodor Herzl. Und jedem dieser manchmal nur wenigen Pinselstriche kann der Leser etwas abgewinnen. Meisterhaft geschildert, von Poesie durchdrungen, literarisch ins Bild gesetzt. Alle hat er sie von ihren Schriften, zum Teil auch persönlich gekannt und sie in diesem Werk verewigt: Balzac, Baudelaire, William Blake, Dostojewskij, Stefan George, André Gide, Maxim Gorkij, Gerhard Hauptmann, James
Joyce, Thomas Mann, Romain Rolland, Arthur Schnitzler, Lew Tolstoi, Paul Valéry, Paul Verlaine, Walt Whitman und viele mehr. Mit ihnen aufersteht eine ganze versunkene Welt.
Ein Buch, das eigentlich eine Autobiographie hätte sein sollen, ist letztendlich zu einem Zeitdokument von unschätzbarem Wert geworden - Pflichtlektüre für jeden an Literatur und Geschichte Interessierten. Wobei das Persönliche jedoch weitgehend rausgehalten ist. Stets schildert Zweig sein Leben in größeren Zusammenhängen. Sei es in kultureller oder politischer Hinsicht. Selbst der Moment, wo er als junger Student seinen ersten Gedichtband veröffentlicht und die Nachricht des Verlages als ‚unvergesslichen Glücksaugenblick’ bezeichnet, gewinnt kurz darauf Allgemeingültigkeit, wenn es heißt, dass ein solcher Moment sich „...im Leben eines Schriftstellers auch nach den größten Erfolgen nicht mehr wiederholen“ lässt.
‚Die Zeit’, so stellt Zweig fest, ‚gibt die Bilder’, er selbst ‚spricht nur die Worte dazu’. Nie erfolgt ein Hinweis darauf, warum er sich letzten Endes das Leben genommen hat, was stets den Freiraum für Spekulationen öffnet.
Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Psychologische Finesse, feiner Humor und überraschende Einsichten
William Trevor: Ein Traum von Schmetterlingen
Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit und Hans Christian Oeser mit einem Vorwort von Thomas David
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2015
Seit jeher sind die Erzählungen des irischen Erfolgsautors William Trevor in die Nähe von James Joyce, insbesondere dessen „Dubliners“, gerückt und somit auf die Höhe der Weltliteratur erhoben worden. Hierzulande eher von Kennern geschätzt, genießt der inzwischen 87 Jährige vornehmlich in Großbritannien hohe Popularität. Dem „Hoffmann und Campe Verlag“ verdanken wir nun mit dem 750 Seiten umfassenden und in Leinen gefassten Band „Ein Traum von Schmetterlingen“ eine Auswahl seiner Meistererzählungen. Darin enthalten „Die Frauen des Klavierstimmers“ und „Die Frauen“, hier zum ersten Mal auf Deutsch erschienen – 2013 erst im „New Yorker“ publiziert.
Der vorliegende Band nun beginnt mit „In Isfahan“ aus dem Jahr 1975, womit er damals seinen Durchbruch erzielt hat. Im Iran zu einer Zeit spielend, als es noch einen Schah gab, begegnen sich zwei einsame englische Touristen auf einer Stadtrundfahrt. Normanton, Mann mittleren Alters, und Iris Smith, in den Dreißigern. Und es spricht für sich, dass beide unabhängig voneinander nach einem Besuch in der Freitagsmoschee vom Touristenpfad abkommen. Ab da treffen sie sich öfters, tauschen sich aus. Am Ende muss Normanton jedoch feststellen, dass die in Bombay verheiratete Iris Smith, die sich im Gegensatz zu ihm geöffnet und ihm ihre Geschichte offenbart hat, eine „Klasse“ aufweist, mit der er nicht mithalten kann. Die überraschende Einsicht der Hauptfigur wiederum ist typisch für die Figuren, die den Erzählkosmos Trevors ausmachen, und wird dem Leser in noch mancher seiner Erzählungen begegnen. Ebenso typisch der häufige Perspektivwechsel. Mal erleben wir Normanton aus der Sicht von Iris Smith, dann wiederum Letztere aus der Perspektive Normantons. Aber auch an einer wohl dosierten Prise Humor lässt es Trevor nicht fehlen und steht damit durchaus in guter alter englischer Tradition. So entbehrt etwa die schillernde, Witze reißende Nebenfigur Hafis durchaus nicht der Komik, wenn er sich als Reiseführer ausgibt, zugleich jedoch bekennt, dass er weder Französisch spricht, was für die meisten Touristen aus Frankreich ein Ärgernis ist, noch sich in der Stadt, die er selbst zum ersten Mal besucht, auskennt. In der letzten, oben bereits erwähnten Erzählung „Die Frauen“ (2013) des vorliegenden Bandes taucht Normanton übrigens noch einmal auf, womit vom Verlag zugleich ein Rondo erzielt wird.
Auch die bedrückende Grundstimmung von „In Isfahan“ trifft auf weitere Erzählungen Trevors zu. So etwa „Einsamkeit“ (2004), wo die junge Ich-Erzählerin Villana den Liebhaber ihrer Mutter die Treppe hinunterstößt, was als Unfall getarnt wird. Man munkelt von ‚Lügen des Vaters’ und ‚erkauftem Schweigen der Bediensteten’. Schon im Vorfeld heißt es, dass Villana den Liebhaber der Mutter ‚so sehr hasst, dass sie ihm den Tod wünscht’. Wenige Seiten später lesen wir von einem ‚stürzenden Körper’ und einem ‚zersplitternden Geländer’, einem ‚dumpfen Schlag, nachdem die junge Frau ihren Arm nach dem Mann ausgestreckt, ihre Fingerspitzen auf den dunklen Ärmelstoff gelegt und dessen Arm gespürt hatte’. „...So schnell dann die Bewegung, so leicht, als wäre sie gar nicht geschehen...“ Wobei die Tochter ihrem von ihr so geliebten Vater und Ägyptologen nichts von der Untreue der Mutter verrät. Doch das Ereignis lastet schwer auf der Seele aller drei Protagonisten, deren Leben sich von da an radikal verändert und die sich fortan im Hotel aufhalten. Villana braucht nicht mehr zur Schule zu gehen, wird von ihren Eltern unterrichtet. Der Vater hat keinen Beruf mehr, wird, so Villana, „zum Amateur, ein Status, den er einst verachtet hatte. Seine Bücher schrieb er trotzdem, doch er wollte sie nie veröffentlichen...“
Eine der Stärken Trevors ist es, Alltagsgeschichten eindringlich, dabei mit psychologischer Finesse zu erzählen. So in „Die Frauen des Klavierstimmers“ aus dem Jahre 1996, wo es darüber hinaus auch an Schwarzem Humor, und sei es ein Quäntchen, nicht mangelt. Bereits der erste Satz klingt vielsprechend: „Violet heiratete den Klavierstimmer, als er ein junger Mann war. Als er alt war, heiratete ihn Belle. Und Belle nutzt die Erblindung des Klavierstimmers ohne jeden Skrupel aus. Schließlich muss sie feststellen, dass „trotz Hund und...trotz der Dinge, die für das Haus angeschafft oder entsorgt wurden“ – sich nichts an dessen Sympathie zur Vorgängerin geändert hat. Und dies, obwohl er „ihr versicherte, dass er sie liebe, ... er ihr beteuerte, wie lieb sie sei“. Allein seine erste Frau Violet hätte ihm gesagt, ‚welche Blätter sich verfärbten..., ihm berichtet, ob Ebbe oder Flut herrschte...Violet war der Gesichtssinn des blinden Mannes gewesen, sie war es, die der Nachfolgerin keinen Raum zum Atmen ließ’.
Zu guter Letzt schließen wir uns der Literary Review an: „Mit der Genauigkeit eines Chirurgen und der Eloquenz eines Dichters präsentiert Trevor dem Leser die Nischen des menschlichen Herzens“
Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Hoffmann und Campe Verlag!