© erf                       Ich bin im Herbst subtil und schreib in ganzen Sätzen Ilma Rakusa

 Mit Rhythmus & Wortklang – Lyrische Pandemie-Chronik

Ilma Rakusa: Kein Tag ohne. Gedichte, Literaturverlag Droschl, Graz 2022

Kein Tag ohne lautet nicht nur der Titel des jüngsten Gedichtbands Ilma Rakusas einer fast anderthalbjährigen lyrischen Bilanz der Zeit der Pandemie von Oktober 2020 bis Februar 2022, vielmehr verbirgt sich dahinter zugleich ein Programm. Programm zur Selbstfürsorge, nicht zuletzt Selbstdisziplinierung, in Zeiten, die unsere gesamte Gesellschaft vor Herausforderungen bislang nicht gekannten Ausmaßes gestellt hat. Da gewährt die selbstgestellte Aufgabe Halt und Trost. Die Reisen im Außen verlagern sich ins Innere, und der Blick auf die kleinen, unscheinbaren Dinge setzt einen ungeahnten Reichtum an Impressionen frei. So etwa das Hören der Vögel in dem Gedicht „Anfang ohne Andrang“, entstanden zum Jahresbeginn am 1. Januar 2021,  „... so früh schon üben sie / ihren Angesang / ein frohes Tremolieren ... du tust was du musst / verliebt verspielt doloroso / und oben wacht ein Gott“.

 

Im Gestus des Tagebuchschreibens gehalten, steht das persönliche 

Erleben besagter Ausnahmezeit im Fokus. Daraus erwachsen ist ein intimes Zeitdokument, dessen erheblicher Stellenwert, zumal für Folgegenerationen, sich erst mit gebührendem Abstand erweisen mag. Doch so viel steht jetzt schon fest, Rakusa wird Nachgeborenen, etwa ihrem Enkel, auf den sie immer wieder Bezug nimmt,  ein so sinnlich intoniertes wie sinnreiches Zeugnis hinterlassen haben, das einen wahrhaftigeren Zugang zur hier dokumentierten Wirklichkeit gewähren mag als manch faktisch geprägter Bericht: „Erst die Poesie, erst die Erfindung der Dichter, kann eine tiefere Schicht, eine Art von Wahrheit sichtbar machen“ (Werner Herzog: Jeder für sich und Gott gegen alle, Hanser Verlag, München 2022)

 

Aber nicht nur die Pandemie versetzt die Welt in Aufruhr. In Belarus werden demokratische Bestrebungen vom Staatsapparat Lukaschenkos brutal niedergeschlagen, was Rakusa, mit slowenisch-ungarischen Wurzeln, aufgewachsen in Budapest, Ljubljana  und Triest, zugleich Osteuropa-Expertin und Weltbürgerin, ebenso wenig unberührt lässt wie die Niederschlagung jeglicher emanzipativer Bestrebungen in Afghanistan im Zuge der erneuten Machtübernahme seitens der Taliban. So heißt es in „Mohn winzige rote Sonne“: „Logo für Zartheit mal Glut / anderswo kreist böses Blut / (Drama Belarus und gewürgte Zeugen) / wie viel Nacht ist in unsern Nacken / wie viel Tiefschwarz am Horizont ...“ In „Vögelchen zwitschern ins Résumé“ wiederum: „A wie Ahr wie Afghanistan / auch mein Apfelbaum gab den Geist auf / und das Ach war da wie die Arbeit ...“ Wie auch im Zuge von Corona Gewalt und Terror weitergehen dementsprechend in „Pandemie Anschläge in Wien“ zu vernehmen: „... /es hagelt Schmerz / aus allen Nachrichtenkanälen / ...“

 

Legt das tägliche Festhalten der Chronik der Ereignisse im Gedicht nahe, die Tagespolitik miteinzubeziehen, erweist sich die Lyrik Rakusas doch da am eindrücklichsten, wo sie den Fokus auf davon unabhängige Phänomene legt wie Naturerfahrung und etwa die Wintersonnenwende reflektiert. So in „Wenn es am kürzesten ist“ / „wird es länger / das Licht / filigran um Grade der / Zuversicht / Tage Nächte Nächte Tage / kein Mond / ...“ Aber auch in dem hermetischen „Wenn sich die Toten zurückholen ließen“ zieht sie den Leser in den Bann: „Esther Mario Ales / in diesen Abend / in diese Dunkelheit / aber hell / mit ihren Stimmen und Träumen / wie Vögel / einer singt, einer schweigt ...“ Zu bezaubern versteht Rakusa immer dann, wenn genaue Beobachtungsgabe auf zartfühlenden Empfindungsreichtum trifft. So etwa in „Mit dem Ahorn Freundschaft schließen“, wenn „ ... der Singsang der Äste / Blätterwerk Blüten Früchte / und die Vertikale zwischen / Wurzel und Wind ...“ ins Bild rücken, oder mit spielerischem Reim in gekonntem Rhythmus, so in „Wir schütteln die Bäume“: „mein Enkel und ich / wir reiten auf Besen / wir zählen die Pilze / wir sind ein Gedicht / wir laufen und lachen / mit schiefem Gesicht ...“

 

Und obschon wir im Zuge der Lektüre noch einmal eine dunkle Zeit durchwandern, kontrastieren hierzu umso sinnfälliger die vielfältigen lichten Momente gekonnter Sprachkunst und Finesse, was wiederum Trost vermittelt, ja, bisweilen für Heiterkeit sorgt.

 

Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Literaturverlag Droschl

Hartmut Fanger

Experimentelle Gedichte nicht nur für Liebhaber

 

Ulrike Draesner: „hell & hörig“, Penguin Verlag, München 2022

Rechtzeitig zu Ulrike Draesners 60. Geburtstag erscheint im Penguin Verlag nun der Band „hell & hörig“ mit Gedichten aus 25 Jahren, von 1994 bis 2020. Darunter viel Unveröffentlichtes.

Kommt man auf ihre Autorenseite, so springt uns sofort ein Schlüsselsatz zu ihrem lyrischen Werk ins Auge: »Ich schreibe, um hörbar zu machen, in Sprache zu übersetzen, was gemeinhin nicht gesprochen wird, nicht sprechbar scheint«. Das heißt zum einen, das Unsichtbare zur Sprache zu bringen, zielt zugleich aber auch auf das akustische Erleben von Gedichten ab, auf Klangfarbe, Intonation und Rhythmik. Nicht zuletzt sei an dieser Stelle daran erinnert, dass noch zu Goethezeiten Gedichte selbstverständlich laut gelesen wurden. Doch ist der damals vorherrschende Reim im Zuge der literatur- und sprachgeschichtlichen Entwicklung bis in die achtziger Jahre des zwan­zigsten Jahrhunderts indessen dem freien Vers gewichen, was sich auch im lyrischen Kosmos Draesners widerspiegelt. Selbst die ursprünglich im Englischen klassisch gereimten Verse Shakespeares übersetzt sie in freier Versform, was wiederum, neu und anders, Rhythmus und Wortklang in den Vordergrund treten lässt. Allenfalls wenn sie mit Liedtexten der Beatles experimentiert, taucht die alte Reimform wieder auf. Weniger handelt es sich hier jedoch um Übersetzungen im herkömmlichen Sinn als vielmehr Hörassoziationen. So mutiert etwa „Yellow Submarine“ zu „Gelbe Suppmarie“,  „Norwegian Wood“ zu „Quietschen Holz“. Dabei geht es vornehmlich um das akustische Erleben, kommt es, neben Rhythmen und Takt, auf Klangfarben an.

Der auf über 260 Seiten und in 11 Kapiteln verdichtete Band erweist sich zugleich als vorzügliche Schulung poetischer Kreativität. Virtuos arrangiert der spielerische Umgang mit Sprache, lehrreich und unterhaltsam zugleich. Für den passionierten Lyrik- und Sprachliebhaber ein Highlight. Aber auch sprach- und literaturwissenschaftliche Erwägungen fließen hier ein. Wie etwa, dass Sprache laut Wilhelm von Humboldt als ’produktive, welterschließende Kraft’ ins Spiel gebracht wird oder „Gedichte“ als eine Form von  „Denken des Köpers im Zustand der Sprache“ definiert werden. 

Mit der ganzen Spannweite ihrer in Dichtung geformten Ausdruckskraft wartet Draesner auf in diesem Band. Sei es, wenn sie sich dem nature writing widmet, kapitelweise Wald, Pflanzen und Tiere ins Zentrum ihres lyrischen Werks rückt, sei es, wenn sie den Fokus auf zwischenmenschliche Beziehungen lenkt, sich über Seiten hinweg mit einer sich distanzierenden Mutter auseinandersetzt. Berührend  gleichwohl die Klage über ein fehlgeborenes Kind.

Ungewöhnliche Wortkombinationen und Zusammenhänge zeichnen ihre Lyrik aus, zwingen den Leser, sich mit der Materie zu beschäftigen, ein Gedicht nacheinander zwei- oder dreimal zu lesen. Gewinn für alle, die Freude an Sprache, am kunstvollen Umgang mit dem Medium Wort, an Sprachmusikalität und Ausdruck haben. Mit Fug und Recht hat sich die vielfach mit Literaturpreisen ausgezeichnete Autorin mit dieser Gesamtschau ihres lyrischen Œvres als Meisterin ihres Fachs erwiesen.

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Penguin Verlag , München

Lyrik-Buchtipp des Monats April - Mai 2021

© Hartmut Fanger

Kunst der kurzen Form                                                                                                                                                                                                                                       

Ulla Hahn: „stille trommeln“Penguin-Verlag, München 2021

Wer die Gedichtbände vom Ulla Hahn kennt, wie zum Beispiel „Freudenfeuer“; „Herz über Kopf“ oder  „So offen die Welt“, weiß, dass ihre Texte durchweg von sensiblen Beobachtungen geprägt sind, sprachlich nuancenreich, dabei so knapp wie vielstimmig. Es bedarf für die Autorin nur weniger Worte, um Fantasie im Leser freizusetzen, für Kopfkino zu sorgen. Der Band  „stille trommeln“ stellt ein weiteres Kleinod in der Kunst der kurzen Form, der Kunst des Aus – und Weglassens dar. Präsentiert wird eine Auswahl von ‚neuen Gedichten aus zwanzig Jahren, wie der Untertitel verrät. Gedichte, die teils im Zuge ihrer vier großen autobiographischen Romane entstanden sind, teils ‚im Keller des Bruders auf der Rückseite von Matrizen mit Kuli dahingekritzelt wiedergefunden’ wurden, wie aus ihrem Nachwort hervorgeht. Gedichte, die die Autorin zurück zu ihren Anfängen führen, „zu den Wörtern an der Quelle, zu Wörtern, die frei sind, ungebunden, sich keinen Regeln fügen müssen, außer den selbst gestellten“. Leseprobe Unschwer zu erkennen der Bezug zur Dichtung Hölderlins, wenn es weiter heißt: „Denn in Gedichten schaffen sich die Wörter eigene Welten nach eigenen Sätzen“, die „ins Offene“ münden, „in Silbe, Rhythmus, Klang. Jedes Gedicht hat seine eigene Melodie. ... ist eine stille trommel“. Leseprobe Und dieses ‚stille trommeln’ zieht sich wie ein roter Faden durch die Lektüre. So zum Beispiel, wenn es an einer Stelle „Lies die Stille/sie ist die Schrift/deiner Seele/Zwischen den Zeilen/in die mitunter/ein Blütenblatt tropft/oder eine Gaskugel funkelt/alias Stern“ heißt. In nur wenigen Worten begegnet uns darin zugleich ein ganzer Kosmos. Ebenso, wenn wir von der „Milchstraße“ lesen, von „hohem Bogen/Sonne mit Flecken und Stürmen/ Vulkane der Venus/beringter Saturn unser blauer Planet“ Leseprobe oder eine Überschrift „Zungen im All“ lautet.  

Die Entstehung eines Gedichtes, Alter und Tod, die Vergänglichkeit der Zeit und die Jahreszeiten sind überdies die großen Themen, auf wenigen Zeilen komprimiert. Ambivalent, mit Skepsis ohne Pathos und falschen Trost verhandelt sie die letzten Dinge, wenn es in „Vertrauen“ am Schluss „du wirst/nur einen Tag älter als gestern sein/nur einen Tag näher am letzten“ lautet oder in „Ablauf“ „ ... nur stilles Feuer und Freuden/Meine Hände in deinen/ Abschiedsschimmer Abendrot“. Aber auch das Quäntchen schräger Humor, das existenzieller Tiefe die Schwere nimmt, fehlt hier nicht. So in „Wem das Stündlein schlägt“, wo dem „... kein Leben nach dem Tod“ mit „... von wegen!/Mit dir bin ich längst nicht fertig!“ entgegnet wird.  

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl.

Unser herzlicher Dank für das Rezensionsexemplar gilt dem Penguin-Verlag!

Lyrik-Buchtipp des Monats Juni 2020

© Erna R. Fanger

 Liebesbilanz in Versen

Barbara Schirmacher: „Lieben gelernt noch einmal von vorn“, Verlag BoD, Hamburg 2020

„Lieben gelernt noch einmal von vorn“, lesbar als poetische Heldenreise in zwölf Stationen, zeugt von Mut und Verzweiflung, von Aufbruch und Angst ebenso wie von der zärtlichen Wucht der Liebe. Spontan gemahnt der Titel an das bekannte Søren Kierkegaardsche Diktum: „Verstehen kann man das Leben rückwärts. Leben muss man es aber vorwärts.“ Denn erst im Rückwärtsmodus, hinterher, erweist sich, inwieweit wir im Zuge solcher Art Bewährungsprobe vorangekommen oder gescheitert sind. Ob uns am Ende Glück beschieden war oder die Schatten überhand nahmen. Und immer wieder betreten wir Neuland, in dem die alten Parameter ihre Gültigkeit verloren haben und das wir neu zu erkunden genötigt sind. Damit verknüpft die Frage, was davon wir hätten steuern können, was wiederum waren wir angehalten, hinzunehmen und durchzustehen. Vor uns in lyrisch-poetischer Verdichtung aufgefächert ein ganzes Leben, Liebesleben. 

Im Sinne einer Definition von Erotik als grundlegend vitalisierender Kraft, die alle Dimensionen menschlichen Seins gleichermaßen durchdringt, zieht sich dieser Tenor durch sämtliche der hier versammelten Gedichte und verleiht ihnen ihre elektrisierende Energie. Eine Schwingung des Begehrens in gebührender Distanz zum Begehrten –  dem lebendigen authentischen Leben schlechthin, um das hier gerungen wird. 

Dementsprechend verweist bereits jeweils der Titel besagter Stationen darauf: von „Stürz endlich mich in deinen Kuss“, über „Selbst Leichtlebigkeit will ihr Brot“, „Zwischen Baum und Borke“, „Der Trauer Raum“, „Auch ich zerteile den Wind“ bis zum nüchtern-ironischen „Der Tropf Die Kanüle Dein Wille“ – um nur einige exemplarisch zu nennen. Ebenso vielfältig wie vielstimmig miteinander verwoben, Perlen durchwirkt – schwebend. Desgleichen miteinander verzahnt und verkeilt, düster und beschwerlich, aber auch Geheimnis evozierend. Gemäß der Bandbreite menschlicher Existenz, hier so facetten- wie nuancenreich ins Bild gerückt. Ein Gewinn überdies die fantasievoll darauf abgestimmten, sensiblen Illustrationen Marion Molters und damit auch gestalterisch ein bemerkenswerter Band. 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Lyrik-Buchtipp 

 

März-Mai 2018


© Erna R. Fanger:

„Gedichte sind Mißtrauisch“

 

Michael Krüger: „Einmal einfach“, Gedichte, Suhrkamp Verlag Berlin 2018

„Einmal einfach“ – da hat man keinen Bahnhof mit computerisierter Schalterhalle im Kopf, sondern einen altmodischen Fahrkartenschalter. Es assoziiert, da will einer allein sein, entschwinden, sich auf unbestimmte Zeit zurückziehen, den Mühen der Existenz müde. Man sieht ihn auch nicht im ICE. Vielmehr ist  es ein gleichwohl altmodischer Regionalzug, der die Provinznester abklappert. „Du hast es nicht eilig./ Schrebergärten kriechen/um die Städte herum/wie Schnecken./Am Ende des Lebens ...“ Nicht gerade am Puls der Zeit also, vielmehr entlegen genug, ihr ein Schnippchen zu schlagen und über das Leben zu räsonieren. Michael Krüger tut dies in Gedichten. Ruhig, bedacht, dabei  alles andere als beschaulich. Vielmehr ist die Lektüre beunruhigend, bisweilen beklemmend. Jahrgang 1943, in einem Alter, wo es nicht mehr zu leugnen ist, „unsere Generation nimmt Abschied“. Das lyrische Ich geht „hinunter zum See, um der Post zu entkommen./Seit Tagen redet der Briefträger mit mir/von den letzten Dingen, dem Duft/der Weidenkätzchen nach dem Regen,/der Wahrheitstreue unserer Erinnerungen ...“ Die Liebe zum Leben wurzelt hier tief in der Wahrnehmung von Naturschönheit, ihrer komplexen Einfachheit, das Abgründige, all das, dem wir misstrauen hingegen, spielt sich im Kopf ab. 

 

Drei Schwerpunkte bieten dem Autor Anlass, so facettenreich wie vielgestaltig menschliche Existenz zu durchdringen. Ergeben tun sie sich jeweils aus der Präambel: I „Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden“ (Goethe zu Eckermann); II „Der Begriff des Reisens ist mit dem Ankommen verbunden. Aber will man überhaupt ankommen? (Günter Metken); III „Die transzendentale Seite der Kunst ist immer eine Form des Gebets“ (John Berger), wo Gedichte von philosophisch-spirituellem Gehalt versammelt sind, die tiefgreifende Fragen aufwerfen oder überraschende Bezüge herstellen, wie gleich im ersten mit dem Titel „Vorbilder“, das an den Leser den Appell richtet „Bitte, nehmt euch ein Beispiel/an den Bienen. Jede einzelne Wabe/wird gleichmäßig gefüllt, auch im Winter/ist genug da für alle. Hört ihr,/wie sie trotzdem das Lob/der Unvollkommenheit summen? ...“ Denn in der Natur herrscht nicht, was der Mensch als ‚vollkommen’ erachtet.  In ihrer Essenz im Geheimnis wurzelnd, kommt sie, aus unserer Sicht, eher ‚unscharf’ daher. Hingegen ist unsere Welt, „im Sprechen entstanden“ – „Am Anfang war das Wort“, für Logos, Rationalität und wissenschaftliche Eindeutigkeit stehend. In unserer Kultur das „Geläufige“. Die Bienen wiederum mögen Übersetzungsarbeit leisten zwischen Mensch und Natur, ihr drohendes Aussterben spricht für sich, setzt Zeichen!

Bei den Gelegenheitsgedichten wiederum kommen wir nicht umhin festzustellen, dass sie durchdrungen sind vom Bewusstsein unserer Vergänglichkeit, vom Schmerz der Existenz, etwa anklingend in „Im englischen Garten, Januar 2017“: „Über dem Schnee eine bedrohliche Lichtflut/wie ein lang anhaltender Schrei,/der huscht über die nicht mehr erkennbare Welt,/als drängte ein Fieber zum Ausbruch ...“, wo die letzten Verse lauten: „Wie oft habe ich hier gestanden,/auf der Selbstmörderbrücke, das brummende Mahlen/der Stadt im Rücken, und auf das Wasser gestarrt,/das  mir wie die Zeit selbst vorkam./Unverhofft gaben die Krähen den Segen.“ Sinnfällig kontrastiert dies zu dem soliden Fundament, auf dem Krügers Lyrik gründet. Nämlich offenbar in der Kindheit, nachzulesen in „Meine Großmutter“. Diese „erwartete weder Lohn noch Strafe/vom Leben, sie wußte genau,/um was es nicht geht, der Rest war/für Männer in Uniform,/oder für   Philosophen ...“ Das Gedicht endet mit der Frage, die sich das lyrische Ich selbst beantwortet: „Aber was dann? Nichts,/um die Wahrheit zu sagen, nichts“. Dazwischen erfährt der  Leser, dass die Großmutter verweigerte, Handschuhe anzuziehen, um sie nicht zu beschmutzen, hingegen „an ihrem Unterricht nahmen teil/Kamille, Kornblume und Saubohne,/weil es gab keine Düngemittel/nach dem großen Krieg ...“ Dies zeugt von einem unverbrüchlichen, zutiefst sinnstiftenden Naturbezug, der heute verlorengegangen zu sein scheint. Ein Naturbezug, der auch aus den letzten Versen von „Im Winter“ spricht. „Ich sah, bei geschlossenen Augen,/die rissigen Hände meiner Großmutter,/wie sie den Apfel viertelte/mit sicherer Hand/und uns zu Gleichen machte/an einem Nachmittag im Winter.“ Ein so schlichtes wie vielstimmiges Bild, das dem Blick des Lesers unversehrten Raum enthüllt, der jedem offenstehen mag im Innen, sei die Welt im Außen noch so zerrüttet. Und es passen dazu, lapidar hingeworfen und nicht frei von Selbstironie, die letzten Verse aus „Allltag“: „Wenn der Apfelbaum nicht wär/in meinem Garten, ich gäbe auf.“

Das Fazit des Bandes erschließt sich gleich aus den ersten Versen des achtstrophigen Eröffnungsgedichts, „Nachtrag zur Poetik“: „Gedichte sind misstrauisch,/sie behalten für sich, was gesagt werden muß./Sie gehen durch geschlossene Türen/ins Freie und reden mit den Steinen./Sie führen uns fort ...“

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Suhrkamp Verlag!

 

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Siehe auch unseren aktuellen Buchtipp Belletristik    

unseren Buchtipp für Junge Les 

und unseren aktuellen Sachbiuchtipp

 

 

 

Buchtipp „Geschenkbuch“ November 2018


©  Erna R. Fanger                                                                            

Ein Muss für menschen, die die Ostsee lieben

„Silbergraublau – Ein Strandbuch“ von Ulf Annel, illustriert von Anke Fabian.Demmler Verlag GmbH, Ribnitz-Damgarten 2018.

Für alle Ostseefans liegt mit diesem Büchlein von Ulf Annel, getragen von der Liebe zur Poesie, ob geschrieben, ob gemalt, dasWeihnachtsgeschenk par excellence vor. Jetzt mögen Sie sich fragen „Ein Strandbuch“ als Weihnachtsgeschenk? – im November macht man sich darüber schon mal Gedanken. Die Redaktion von „schreibfertig“ kommt zu einem einhelligen Ja!, mit Ausrufungszeichen! Denn was gibt es Schöneres an dunklen kalten Tagen, als eine Herz erwärmende Lektüre, angereichert mit Farbe und Licht der See, von Ulf Annel buchstäblich ins (Sprach) Bild gesetzt und seitens der Malerin und Restauratorin Anke Fabian mit magisch anmutenden Bilderwelten versehen. Dabei besticht die geglückte Kombination von Bild und Text, die nicht nur den Autor begeistert, sondern auch für den Leser ein Augenschmaus mit immer wieder neuen, überraschenden Bezügen ist. 

So lesen wir etwa von Sehnsuchtsfarben“: „Silbergraublau/Wassergrün/ Gleißendes Weiß/Abendorange/ Nachtschwarzgeglitzer//Noch ein paar Tupfen ins Bild hinein –/schaumkronencremefarbenes Elfenbein“. So der vielversprechende Siebenzeiler und Opener in dem kleinen Band, der auf Anhieb Urlaubsstimmung aufkommen lässt, mitten hinein ins Urlaubsgefühl an der See führt. Die leicht gereimten Gedichte, die Erinnerungen an Sommertage, Urlaub, Meer und Strand aufkommen lassen, sind durchdrungen von leisem Humor und feiner Ironie – sozusagen Markenzeichen Ulf Annels, zugleich Kabarettist und Texter von „Die Arche“ in Erfurt. 

Tippen Sie mit ihm mal an den Horizont, genießen Kitsch, setzen Segel und Satzzeichen, sammeln Hühnergötter, werfen einen Blick durch das Loch in den so bezeichneten Steinen, das soll Glück bringen! Lernen Sie das „Seelenstreichelwetter“ kennen und lieben. Lassen Sie sich – als Mittel gegen Alleinsein und Langeweile – auf Reisen schicken, oder zum Philosophieren anregen – „Alles fließt“. Und: Machen Sie mal Uhrlaub, ‚wo die Zeit nicht rinnt ...’ Am besten natürlich mit einem „Buch am Strand“, dem, ‚vom Wind durchblättert und mit Sandkörnchen, die rannten und brannten, allmählich die Buchsta ... abha ... kamen’.

 Aber: Selber lesen und anschauen macht Spaß!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt Ulf Annel und dem Demmler Verlag!

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