Buchtipp des Monats Februar 2024

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Altersbilder im Gegenlicht

 

 

Wenn sie daran dachte, Miffy zu fragen, ob sie ihre Hand halten könne, schämte sie sich plötzlich für ihren missgestal­teten, hässlichen Körper. Das sind die Risiken von Liebe und Lust; besser, nichts zu fühlen, aber dafür war es bei Susan nun zu spät. Das Feuer war entfacht.

Jane Campbell in „Susan und Miffy“

 

 Jane Campbell: Kleine Kratzer. Storys. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Kjona Verlag, München 2023.

 

Das im Feuilleton gefeierte Debüt Jane Campbells (*1942), 2022 in Großbritannien erschienen, im Sommer 2023 in deutscher Übersetzung, bietet 13 stilistisch brillante Storys über 13 markante Heldinnen – allesamt alte Frauen. Bevor sich Campbell ihren schriftstellerischen Aktivitäten widmete, wirkte sie in Oxford als Psychoanalytikerin, wo sie auch heute noch die Hälfte des Jahres lebt, die andere Hälfe verbringt sie auf den Bermudas.

 

Spiegeln die Storys einerseits generell die unbarmherzigen Rahmenbedingungen wider, denen Individuen in einer Welt ausgesetzt sind, in der nahezu jeder Lebensbereich von der Effizienz kommerzieller Priorisierung dominiert wird, erweisen sich diese, kommen altersbedingte Einschränkungen hinzu, als ausweglos anmutende Aporien. Die Lösung, die moderne Gesellschaften für Herausforderungen dieser Art gefunden haben, besteht in der Ghettoisierung, sprich der Unterbringung in dafür vorgesehenen Einrichtungen. Unterkunft für so viele auf der letzten Lebensstation, um die sich niemand mehr kümmern kann.

 

Den Zumutungen des Alters mit seinen Verlusterfahrungen, unwiederbringlichen Erinnerungen oder körperlichen Gebrechen entrinnen auch Campbells Protagonistinnen nicht. Was sie von gängigen Bildern ihrer Generation unterscheidet, ist, dass sie keinem der von ihnen grassierenden Klischee entsprechen. Der Lebendigkeit in ihrem inneren Erleben tut auch das Alter keinen Abbruch. Hier lassen sie sich keine Schranken auferlegen, überschreiten die ihnen auferlegten Grenzen und brechen Tabus. So etwa, wenn die stets in bürgerlichen Grenzen sich bewegende, totkranke Susan ihrem so zarten wie zärtlichen erotischen Verlangen gegenüber ihrer jungen Pflegerin Miffy nachgibt und es zu einer magisch und im wahrsten Sinne des Wortes „Wunder voll“ anmutenden sexuellen Begegnung zwischen den beiden Frauen kommt. Aber auch genüsslich und lustvoll bösartig agieren sie, wie in „Edelmut“, wo die Ich-Erzählerin „gutbetuchte Pensionäre“Leseprobe aufs Korn nimmt, die in ‚einer kleinen Stadt an der Westküste Englands Zuflucht gefunden haben‘. Beim Laufen trifft sie jeden Morgen auf Leo, einst erfolgreicher Chirurg, Ende siebzig, gutaussehend, aber „ein Scheißkerl“, der

sich einen Hund angeschafft hat, Brutus, der diesem Namen alle Ehre macht und nicht nur riesig, sondern überdiese bissig ist. An Leos Seite die ihm ergebene „Mattie, klein, dick und dumm“ Leseprobe, die sich vor diesem Hund fürchtet. Die Ich-Erzählerin wird Mattie mit kaltblütigem Kalkül von beiden erlösen. Endgültig. Gnadenlos.

 

Zwischen Einsamkeit und einem Begehren, das sich jeder gesellschaftlichen Norm entzieht, bahnen sich die 13 Heldinnen ihre ganz eigene letzte Wegstrecke, sehen dabei Demenz und Hinfälligkeit ins Auge. Sie lassen es sich nicht nehmen, an alte Lieben anzuknüpfen, auch wenn der Faden, der sie noch verbindet, ausgedünnt scheint, um dann auf poetisch anmutende Weise in „der weiten Wasserebene des Sambesi“ zu verschwinden. Die bei dieser Lektüre aufgerufenen, mitreißenden inneren Bilder wiederum gemahnen an John Everett Millais‘ Gemälde der tot im Fluss treibenden „Ophelia“ (1851-1852).

 

Campbells Heldinnen sehen sich dabei zu, wie die Demenz ihr Gedächtnis sabotiert und gehen zugleich verstörenden erotischen Fantasien nach, optieren für Freitod. Doch wie auch immer sie sich auf dieser letzten Wegstrecke bewegen, verstehen sie es auf ihre ganz eigene, unerwartete Weise, sich der für sie vorgesehenen Verwahrung und Verwaltung zu entziehen. Und sie tun das mal mit Witz, mal mit dem gebotenen Sarkasmus, mal gnadenlos und zärtlich, dabei stets ihren eigenen Vorstellungen und Fantasien folgend.

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!                                                     Archiv

 

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Kjona Verlag, München

Sachbuchtipp des Monats September 2023

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Schönheit – Auf der Spur eines Faszinosums

Gabriele von Arnim: Der Trost der Schönheit. Eine Suche, Rowohlt Verlag, Hamburg 2023

So tiefgründige wie eloquente Recherche in essayistischer Erzählprosa, zugleich erlesener Kompass durch die Höhen und Tiefen menschlicher Existenz.

An das bedeutsame Gedicht „An die Nachgeborenen“ mit seinem Beginn von immer neuer Aktualität gemahnend, „Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten“, in dem Brecht bestürzt bekennt „Was sind das für Zeiten, wo/Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist/ Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“, sieht sich angesichts permanenter Krisen auch Gabriele von Arnim gleich zu Beginn dieser Spurensuche genötigt zu rechtfertigen, in dieser Gemengelage der Schönheit zu frönen. Dementsprechend sieht sie darin eine Art

„Verteidigung der eigenen kleinen Wirklichkeit gegen die WeltWirklichkeit. Gegen die nächtlichen Angriffe auf meine Gefasstheit. Wenn Bilderfetzen, Gedankenfragmente, Phantasien, Wirbel, Entsetzen und Hast als Flimmergestöber im Kopf durcheinanderstürzen. Gelesenes, Gehörtes, Erlebtes, Ängste, Hoffnungen, Nachrichten.“ LESEPROBE

 

Den Blick gerade in Zeiten wie diesen auf Momente von Schönheit zu richten, die uns in jedem Augenblick unseres Lebens umgeben mag, sind wir nur offen dafür, scheint zugleich eine Notwendigkeit, um seelisch und geistig zu überleben, als auch Geschenk, das wir uns tagtäglich selbst machen können. Und die in Hamburg promovierte Autorin weiß, wovon sie spricht, wie sie auch in ihrem berührenden Bestseller Das Leben ist ein vorübergehender Zustand (2021) über die eine Dekade währende Begleitung Ihres schwer kranken Mannes immer wieder auf Augenblicke der Schönheit rekurriert hat. (siehe hierzu unseren Buchtipp vom Juni 2021 im Archiv). Insofern ist Schönheit nicht zuletzt Zuflucht: „[E]in Blick, ein Stein, eine Rose, ein Wolkengarten. Die zärtliche Abendsonne im Nacken ... Die Zuflucht, die man sich schafft. Die kleine Heimat, die man braucht.“ LESEPROBE.

 

Stilistisch versiert, gespickt mit dem ihr eigenen philosophisch-literarisch-kulturellen Hintergrund, erhellt sie ihren Zugang zu dem so fragilen wie ambivalenten Phänomen. Denn wie alles ist Schönheit vergänglich, flüchtig. Da wir sie naturgemäß festhalten wollen, schmerzt es uns umso mehr, wenn sie sich wieder entzieht. Es stich uns ins Herz. Auch hat Schönheit für von Arnim weniger mit Makellosigkeit oder Vollkommenheit zu tun, was eher Erstarrung bedeutet, Stillstand und Tod, vielmehr beinhaltet Schönheit Lebendigkeit, sich innerlich und äußerlich bewegen zu lassen:

 

„Denn, wenn ich Schönheit sehe, höre, lese, spüre, dann glaube ich an Möglichkeiten, an Wege, Räume, Purzelbäume. Schönheit kann Gefühle befreien, kann uns den Mut geben, Neues zu wagen, oder die Kraft, Unveränderbares zu ertragen.“ LESEPROBE

 

Und, nicht zu vergessen: «Und was schön ist, bringt Freude», so nach der Autorin bereits von Euripides formuliert. Freude, die das Herz weitet und uns wieder mit der Sinnlichkeit des Lebens in Verbindung bringt, wie von Arnim es uns hier in ihrem glühenden Plädoyer im wahrsten Sinne des Wortes ans Herz legt.

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl

 

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag in Hamburg

 

Archiv

Lesungen: Gabriele von Arnim liest aus ihrem neuesten Buch "Der Trost der Schönheit"

Berlin am 1. September um 19 Uhr in der Buchhandlung  Geistesblüten, Moderation: Christiane Grefe
Hamburg am 22. September um 20 Uhr im Lichthof der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg im Rahmen vom Harbourfront
Literaturfestival, Moderation: Verena Lueken 
Köln am 30. Oktober um 19:30 Uhr im Literaturhaus Köln, Moderation: Sabine Küchler
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