Buchtipp des Monats Juli 2022

 

© erf

En la Tarde de la Vida te examinarán en el Amor

Am Abend des Lebens wirst du in der Liebe geprüft

 

Juan de la Cruz (1542-1591), spanischer Mystiker

 

 Von einem, der auszog,                          sich kennenzulernen 

 

Emmanuel Carrère: Yoga, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2022 (Paris 2020), aus dem Französischen von Claudia Hamm

Emmanuel Carrère, schillernde Figur im französischen Literaturbetrieb, ist als unermüdlich Sinnsuchender spirituellen Pfaden auf der Spur, wobei er als autofiktionaler Autor in der Tradition einer Annie Ernaux die Leser unmittelbar an seinen Erfahrungen teilhaben lässt. So etwa in „Das Reich Gottes“ (Berlin 2016, frz. „Le Royome“, Paris 2014), wo er den Wurzeln christlicher Spiritualität nachspürt. Seit Jahren meditierend, und überzeugt von diesem Weg der Selbstfindung, hat er 2015 vor, darüber ein feines kleines Büchlein zu schreiben, und besucht eigens dazu ein zehntägiges Schweige-Retreat in einem Meditationszentrum, um in vollständiger Isolation, abgeschnitten von der Außenwelt, an einem Vipassana-Kurs, einer besonders strengen Form der Meditation, teilzunehmen, wo es darum geht, ‚die Dinge zu sehen, wie sie sind‘. Doch statt eines schmalen Büchleins, ist daraus ein 341 Seiten starker Roman geworden, zwar gleichwohl über Yoga, darüber hinaus wird darin jedoch die Geschichte einer schweren existenziellen Krise des Autors erzählt. Auslöser war die       jäh in besagtem Retreat ihn ereilende Nachricht über die Ermordung eines Freundes bei dem Attentat auf Charlie Hebdo, zu dessen Trauerfeier er einen Beitrag beisteuern sollte. Doch nicht nur das, hat sich offenbar auch seine Frau von ihm scheiden lassen, was jedoch insofern als Leerstelle in das Buch einfließt, als diese ihn vertraglich dazu verpflichtet hat, sie nicht als literarische Figur in seinen Texten zu verwenden. Im Zuge all dessen erleidet der Ich-Erzähler eine Bipolar-Störung und wird in deren Folge mit einem Zusammenbruch in die Pariser Nervenklinik Sainte-Anne eingeliefert, wo er vier Monate verbringen soll und, selbstmordgefährdet, mit Elektroschocks behandelt wird.

Danach will er sich in seinem Haus auf einer der griechischen Inseln erholen. Als auf der Nachbarinsel Leros syrische Flüchtlinge eintreffen, engagiert er sich dort, indem er Geflüchtete unterrichtet, wobei sich sein persönliches Leid mit dem der auf Leros Gestrandeten allein schon insofern heilsam überlagert, als man in solidarischer Manier gemeinsam konkrete erste Schritte in ein lebenswertes Leben tut.

Abschließend würdigt Carrère in liebevollem Angedenken seinen langjährigen Verleger und Freund Paul Otchakovsky-Laurens († 2018), einen Literatur Verliebten, der, als ein Zufall ihm offenbart, dass Carrère sein gesamtes Werk mit dem rechten Zeigefinger getippt hat, der Erheiterung und des Erstaunens darüber nicht müde wird. Im Übrigen geht es um den Prozess der Realisierung des Buchprojekts Yoga, das sich so ganz anders entwickelt hat, als ursprünglich geplant. Gespickt mit manch existenzieller Erkenntnis, wie etwa „Niemand konnte sich in meine Liebe betten, und auch ich werde mich in niemandes Liebe betten können“.Leseprobe

Die Stärke des Textes, der durch seine Aufrichtigkeit bis zur Schmerzgrenze besticht,  besteht nicht zuletzt in der Distanz des Autors zu sich selbst, die es ihm erlaubt, sich einer so präzisen wie ausdifferenzierten Selbstanalyse zu unterziehen, mit Sinn für Selbstironie und Humor. Überdies ist sein Erzählfluss von einem brennenden, quicklebendigen Erkenntnisinteresse inspiriert, das den Leser mitreißt. Carrère weiß, wovon er schreibt. Sei es im Hinblick auf Yoga, Meditation, spirituelle Belange überhaupt, sei es im Hinblick auf das Leiden an der eigenen Person, das schließlich im Zentrum der Auseinandersetzung mit sich, dem Leben, der Liebe und, last but not least, dem Schreiben steht. ies immer vor dem Hintergrund der ursprünglich von Pythagoras gestellten Frage „Wozu ist der Mensch auf Erden“, der diese einst lapidar mit ‚um den Himmel zu betrachten‘ beantwortete.

Carrères Freund und spiritueller Wegbegleiter seit Jahrzehnten, Hervé Clerc – wie er Journalist und Buchautor –, ist wiederum von dem Gedanken beseelt, dass es um mehr, nämlich darum gehe, einen Ausweg aus dem irdischen Schlammassel zu finden, man sich dabei nur an die von Vorbildern erstellten ‚Landkarten‘ halten müsse, die dies schon vor uns erforscht hätten, wie „Platon, Buddha, Meister Eckhart, Teresa von Ávila oder Patanjali* Leseprobe. Bereits in drei Büchern ist Clerk indessen der Frage nachgegangen, „was die Mystiker über jene letzte Wirklichkeit gesagt haben, die lange mit einem Decknamen bezeichnet wurde, der uns nicht mehr so recht zusagt: Gott“ Leseprobe. Carrère widerspricht dem Freund nicht, bleibt aber, im Gegensatz zu diesem, der von einer möglichen Lösung der augenscheinlichen Aporien der Conditio humana ausgeht, skeptisch. Und man fragt sich angesichts des Zusammenbruchs, den er erleidet, ob ihm diese Skepsis, die sich nicht zuletzt seiner hohen intellektuellen Kapazität verdanken mag, alles zu hinterfragen, zugleich auch zum Verhängnis geworden ist.

Insgesamt versteht es Carrère vielleicht wie kein anderer, eine unwiderstehliche Intimität zwischen Autor und Leser herzustellen, so etwa auch, wenn er gegen Schluss, in Anverwandlung eines russischen Abschiedsrituals, kundtut:

 

„Ich würde (...) mich [gern] von diesem Buch verabschieden und uns viel Glück wünschen, ihm, mir und dir, lieber Leser. Sobald die letzte Seite umgeschlagen sein wird, was nicht mehr lange dauern kann, könnten wir uns eine Minute lang miteinander hinsetzen. Die Augen schließen, schweigen, ein Weilchen still sein. (...)“ Leseprobe

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

* Indischer Gelehrter und Verfasser des Yogasutra, klassischer Leitfaden des Yoga, weshalb er als „Vater des Yoga“ gilt. Soll  zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert vor  Chr. gelebt haben. Quelle: Wikipedia

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verlag Matthes & Seitz                                                                                                  Archiv

Sachbuchtipp des Monats Januar 2022

 

© Hartmut Fanger

Psychische Erkrankung? Ganz normal!

 

Sonja Koppitz: „Spinnst du?“, Rowohlt Verlag, Hamburg 2021

 

Noch immer gilt es als Tabu, über psychische Erkrankungen zu sprechen. Im Mittelalter wurden Betroffene als vom Teufel Besessene betrachtet, was nicht selten zu Folter und Hexenverbrennung führte – vor noch gar nicht so langer Zeit unter dem euphemistischen Begriff Euthanasie während des Nationalsozialismus gar zur Ermordung. Heute werden an psychischer Erkrankung Leidende oftmals noch immer stigmatisiert. Der Gang zum Psychiater erweist sich nicht selten als Weg, von dem man nicht gerne spricht.

 

Die aus Rundfunk und Fernsehen bekannte Journalistin Sonja Koppitz möchte mit ihrem neuesten Buch „Spinnst du?“ zu einem anderen Bild psychisch Kranker in der Gesellschaft beitragen, zu einer Veränderung in Wahrnehmung und Wertschätzung. Nicht umsonst heißt es im Untertitel „Warum psychische Erkrankungen ganz normal sind“. Hemmungen, Hilfe anzunehmen, sollen abgebaut werden. Zugleich stellt sich im Gegenzug die Frage, wie krank eigentlich unsere Gesellschaft selbst sein mag. Wer kennt nicht die Begriffe ADHS, Angst-, Ess- oder Zwangsstörungen, Autismus, Burnout, Borderline oder Schizophrenie. Von der Volkskrankheit Depression ganz zu schweigen. Auf über 350 Seiten verschafft Koppitz einen Überblick über die Vielfalt der Verbreitung psychischer Störungen, zeigt Lösungswege auf und verweist darüber hinaus auf Möglichkeiten für Angehörige, psychisch Kranken zu begegnen.

 

Dabei spricht sie aus eigener Erfahrung. Vom Tod der Mutter mit einhergehender Depression, einem Aufenthalt in der Psychiatrie und der Herausforderung, überhaupt einen Therapieplatz zu bekommen. Letzteres scheint allein schon insofern ein phänomenales Defizit, als laut Koppitz ‚die Anzahl der in Deutschland ambulant tätigen Psychotherapeut:innen in den vergangenen Jahren stark angestiegen ist und etwa 24000 bei den gesetzlichen Krankenkassen zugelassen sind’ und dementsprechend abrechnen können. Dennoch sind die Wartezeiten für Hilfesuchenden enorm und es kommt oft erst zur Behandlung, wenn die entsprechenden Symptome bereits am Abklingen sind. Was das für Betroffene in der Zwischenzeit zu bedeuten hat, liegt auf der Hand: Hier sind „Antrieb, Durchhaltevermögen und Mut“ gefragt, alles Ressourcen, woran es gerade den geschwächten Betroffenen mangelt.

Alles in allem eine spannende populärwissenschaftliche Auseinandersetzung, gründlich recherchiert und bei allem Ernst der Sachlage nicht ohne Humor geschrieben, aufgearbeitet mit Literaturangaben, Stichwortregister und Fußnoten. Lesenswert nicht zuletzt, weil neben fachspezifischen Literaturangaben eine Fülle literarischer Beispiele angeführt werden, wie zum Beispiel von Johann Wolfgang Goethe, Martin Walser, Hermann Hesse, Siri Hustvedt, Artur Schopenhauer und vielen mehr.  Allenfalls wären noch die Väter jener kritischen Haltung, wie die Begründer der Antipsychiatriebewegung in den 70ern, Ronald D. Laing und Michel Foucault, erwähnenswert gewesen.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag!   Archiv

Sachbuchtipp Dezember 2021

© Erna R. Fanger  

Das Rückenschmerzbuch: empathisch, humorvoll –Der Hit

Moni Port, Philip Waechter: Sie müssen den Schmerz wegatmen. Das Rückenschmerztrostbuch,

Kein & Aber Verlag, Zürich 2021

Gerade die schreibende Zunft, aber auch all die vielen anderen Sitz-Berufe, sind damit vertraut. An den Rechner gebunden, verliert man die Zeit aus dem Auge. Sitzt fest. Irgendwann ist es so weit. Der Rücken verdirbt uns die Tour und streikt. Schuldbewusst beginnen wir mit längst fälligen Übungen. Doch nichts hilft. Die Familie, ratlos, unterstützt, wo sie kann. Der Orthopäde wird zu Rate gezogen – der Muskel sei’s. Wärmekompressionen helfen. Physio steht an: Viel trinken hilft. Die Bandscheibe sei wie ein Schwamm. Der Osteopath sieht’s anders. Es ist der Nerv, und der braucht Kühlung. Wärme auf Muskel ade. Und das ist nur der Anfang der Odyssee, die den Schmerzgeplagten bevorsteht. Von Orthopäde zu Orthopäde geht’s. Desgleichen wechseln Physiotherapeuten wie Osteopathen. Und jeder hat eine andere Heilmethode im Fokus. Und natürlich bleibt der Rat Leid geprüfter Freund:innen nicht aus, die uns jede Menge alternativer Methoden empfehlen. Von veganer Ernährung bis zu Fleisch, ja, aber nicht von Säugetieren. Und unbedingt Kurkuma nehmen, hilft gegen Entzündungen. Von auf keinen Fall operieren bis bloß die OP nicht zu lange aufschieben, das schädigt die Nerven, von einfach mehr Sex, Entgiften löst alles, bis zu den Tücken des Schmerzgedächtnisses – könnte auch alles nur Einbildung sein, reicht die Palette.

 

Dann will man es endlich wissen. Die Buchhandlung wird gestürmt. Ein ganzer Stapel Neuerscheinungen, nach Hause geschleppt, wird studiert. Doch auch hier – überbordende Vielfalt. Und jede Methode verspricht uns Erlösung. Freunde wenden sich ab. Überraschung: Neue Freunde stellen sich ein, greifen uns liebevoll unter die Arme. Der Weg der Heilung hat begonnen. Irgendwann hat jeder gefunden, dessen er bedurfte, und mit einem Mal ist der Spuk vorbei. Unsere Mühe hat sich gelohnt. Wir radeln wieder und kaufen uns Blumen für den Balkon. Ein kleines, von Philip Waechter hinreißend illustriertes Buch, mit heiteren Texten liebevoll untermalt von Moni Port – die weitaus beste Therapie!

 

Aber lesen und schauen Sie selbst, viel Vergnügen!

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Kein & Aber Verlag, Zürich 2021!

 

Sachbuchtipp Juni- Juli 2021:

© Hartmut Fanger                                        Gegen die "Handvergessenheit“

Jochen Hörisch: Hände                Eine Kulturgeschichte                                      Hanser Verlag. München 2021

Der Fuß erscheint uns als Extremität spätestens seit Neil Armstrongs erstem Schritt auf dem Mond näher zu sein als die Hand. Für Jochen Hörisch gewiss ein Beleg für seine These der „Handvergessenheit“ unserer Zeit. Und dies, obwohl die Hand gerade in der schreibenden Zunft tagtäglich das Gegenteil beweist. Wobei der Autor allerdings schon auf den ersten Seiten seines Werkes verdeutlicht, dass die Hand des Schreibenden im Zuge von Digitalisierung und Computerisierung lediglich die Tastatur betätigt, die Handschrift als solche hingegen den Rückzug angetreten hat. Ausgesprochen spannend liest sich dementsprechend, wie sich die Aufgaben unserer Hand im Laufe der Zeit verändert haben, ihr zunächst immer feinere, differenziertere Fingerfertigkeit abverlangt wurde, wie sie sich dann wiederum von den Praktiken des industriellen Zeitalters fortbewegt hat und heute nur mehr Knöpfe anstelle von Hebeln bedient.

 

Und ausgerechnet im Fußball erfährt die Hand eine besondere Bedeutung. Von dem regelkonform mit der Hand getätigten Einwurf bis hin zu dem mit der Hand gehaltenen Ball des Torwarts. Hier darf natürlich das wohl bemerkenswerteste Beispiel nicht fehlen, das der Autor dann auch gleich zu Beginn ins Spiel bringt: Die berühmte ‚Hand Gottes’ des Argentiniers Maradona, mit der der wohl einst populärste Fußballer seiner Zeit während der Weltmeisterschaft 1986 ein gegen alle Regeln anerkanntes Tor zum Nachteil der Nationalmannschaft Englands erzielte. 

 

Was der Hand dann im Hinblick auf Literatur und Philosophie an Bedeutung zukommt, erfahren wir spätestens in dem Moment, wo Hörisch auf den Roman „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ des inzwischen Literaturnobelpreisträgers Peter Handke eingeht und womit der Sport Einzug in die Weltliteratur gefunden hat. 

 

Schwerpunkt bildet jedoch die Zeit der Klassik. Dabei hat es Hörisch, wie so oft in seinen Werken, insbesondere Goethe angetan. Inwieweit dieser auch dem Leser im 21. Jahrhundert etwas  zu sagen hat‚ begründet er damit, dass dessen ‚poetische Handreflexionen Lebenskunstlehre umkreisen‘ und damit die Frage aufwerfen, ob wir im digitalen Zeitalter ‚unser Leben in der Hand haben und gestalten können oder wir in der Hand transsubjektiver Mächte wie [besagter] Hand Gottes oder der invisible hand des Marktes sind’. Das Literaturverzeichnis weist dementsprechend dann auch zahlreiche Bände des Dichterfürsten auf. Von Götz von Berlichingen bis hin zu Faust, von den Leiden des jungen Werther bis hin zu Torquato Tasso, vom Westöstlichen Divan zu Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahren sowie Dichtung und Wahrheit. Überraschend in diesem Zusammenhang vor allem Goethes Zeichnungen, die dessen ‚Faszination der Hand’ zum Ausdruck bringen und Goethe sich in seinen Handstudien auch fern der Dichtung als Meister erweist. In diesem Kontext fehlen dann Dürers „Betende Hände“ ebenso wenig wie M.C. Eschers gleichwohl berühmte „Drawing Hands“. 

 

Doch Jochen Hörisch ist nicht nur ein vorzüglicher Goethekenner, sondern vermag auch komplizierte Zusammenhänge gut nachvollziehbar vor Augen zu führen. So erhellt er in diesem 531 Seiten umfassenden Buch, inklusive großem Anmerkungsapparat mit Stichwortregister und zahlreichen Abbildungen, fast nebenbei ein ganzes Stück Kulturgeschichte. Wir erfahren etwa, wie das Handmotiv von Martin Luther bis Paul McCartney und Joan Baez, vom 15. bis zum 20. Jahrhundert Einzug in die Literatur gehalten hat – geistreich, pointiert und Erkenntnis gewinnend. 

 

Aber auch das Werk von Autorengrößen wie Matthias Claudius, Thomas Mann und Hugo von Hofmannsthal wird im Zuge der Recherche nach dem Handmotiv durchforstet. Ebenso wenig kommt, wie erwähnt, die Philosophie nicht zu kurz. So landen wir schon bald bei Hegels Phänomenologie des Geistes,Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsichtund Nietzsches Morgenröteund seiner Fröhlichen Wissenschaft. 

 

Ein Muss für alle, die mehr über die Bedeutung der Hand in soziokultureller, historischer  wie ökonomischer, künstlerischer und nicht zuletzt weltreligiöser Hinsicht erfahren wollen! 

 

Last but noch least anlässlich des Todes am 4. Juni 2021 der Großmeisterin in Sachen poetischen Schreibens, Friedericke Mayröcker: ‚Hand aufs Herz‘ – wer weiß schon, dass diese ihren langjährigen Liebes- und Lebenspartner Ernst Jandl als „Herz- und Handgefährten“ beschrieben hat.

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl! 

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Hanser Verlag!

                                                                                                     Archiv                                  

Sachbuchtipp Mai - Juni 2021:

   © Erna R. Fanger

   Wollüstige Wanderungen durch

   Literaturen

 

Michael Maar: "Die Schlange im Wolfspelz*. Das Geheimnis großer Literatur, Rowohlt Verlag, Hamburg  2021 

Mit diesem „Schmöker“ der gehobenen Art ist dem Literaturwissenschaftler, Autor und Literaturkritiker Michael Maar ein großer Wurf gelungen. Was dieses Buch wiederum zum Bestseller macht und warum die Buchwelt es mit frenetischem Beifall aufgenommen hat, verdankt sich nicht zuletzt dem Umstand, dass Maar nicht nur ein leidenschaftlicher Leser, sondern überdies besessen ist von der Frage, was guten Stil beim Schreiben ausmacht. Als Student von Literaturtheorie eher gelangweilt, hat ihn diese Frage schon immer umgetrieben. Der Aufforderung eines Freunds, „Schreibe doch mal einen Essay über Stil“, nachkommend, hat sich dieser nun zu einem veritablen Werk mit 50 Schriftstellerporträts auf 655 Seiten ausgewachsen. Dabei folgt Maar keinem Kanon. Vielmehr geht er, Liebhaber der Literatur und großer Bewunderer der Könnerschaft auf diesem Gebiet, seinen innerhalb von 40 Jahren gewachsenen eigenen Vorlieben nach. Und zwar ohne den Anspruch auf Vollständigkeit, weshalb z. B. Grass und Böll, beide bekanntlich Nobelpreisträger, fehlen. Dafür ist er offen und neugierig genug, wenn jemand ihm Knefs „Geschenkten Gaul“ empfiehlt, dem auch nachzukommen, um zu dem Schluss zu gelangen: „Das ist ja unerhört, wie die schreibt. Das ist ja so farbig und plastisch und voller Berliner Witz, detailreich und vergnüglich.“** Dafür, fügt er hinzu, lege er sogar Christa Wolf beiseiteDas muss man sich trauen. Wie auch guter Stil damit zu tun hat, etwas zu wagen. Nämlich seine ganz eigene Sicht auf die Welt und die Dinge zu werfen. Und zwar gerade dann, wenn sie abweicht vom Mainstream, weil man tiefer blickt und weiter, der Blick unverstellt und ohne Scheuklappen. So wie das Kind im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ eben die Wahrheit ausspricht, die keiner auch nur ‚wahrzunehmen‘ sich traut, nämlich dass der Kaiser ja gar nichts anhabe, nackt sei. 

Doch damit ist es natürlich nicht getan. Und wir bekommen auch kein Rezept an die Hand, welche Zutaten einen guten Stil ausmachen. Nicht umsonst spricht Maar vom „Geheimnis großer Literatur“. Allenfalls lassen sich gewisse Richtlinien ableiten. So zum Beispiel, dass gutem Stil stets gründliches Denken vorausgeht, dass man Einfälle haben muss. Oder dass Form und Inhalt nicht voneinander zu trennen sind, vielmehr sich vermitteln müssen. Ebenso wie Klangfarbe, Sprachmelodie und Rhythmus eine Rolle spielen. Komplizierte Dinge wiederum, einfach ausgedrückt, ist gutem Stil in der Regel zuträglicher als jegliches Übermaß. Nicht zu vergessen, der von Maar ausgewiesene „Verbotskanon“, den jeder Schriftsteller pflegen sollte, sprich Vermeidung von Floskeln, Allgemeinplätzen. Kurz das allzu Geläufige, Abgegriffene, ist es, was gutem Stil abgeht. 

Doch wenden wir uns im Zuge des Streifzugs durch Maars Bibliothek exemplarisch einigen konkreten Art ‚Fall-Beispielen‘ zu, anhand derer er uns nahebringt, was deren Stil auszeichnet. Und er tut dies in derart vergnüglicher Manier, was ein im weitesten Sinne erotisches Verhältnis zur Literatur nahelegt. Dabei argumentiert er mal mit ausgelassener, nie bissiger Ironie, mal mit nachsichtigem Humor, aber doch stets als Liebhaber.  Und immer belegt er sein stilistisches Urteil anhand konkreter Textbeispiele, kleineren und größeren Auszügen aus dem Werk seiner Lieblinge – vorne an Johann Peter Hebel , Thomas Mann, Kafka. Goethe, ein Gott, obschon fehlbarer Gott, wobei er auf den in seinen Augen stilistisch weniger glücklichen Beginn der „Wahlverwandtschaften“ verweist.

Zugleich rückt Maar einiges zurecht oder vielmehr ‚auf seinen rechten Platz‘. Zum Beispiel den hohen literarischen Rang, der Rahel Varnhagen eigentlich gebührt, oder auch Marie Ebner-Eschenbach, die 1900 in Wien als erste Frau die Doktorwürde erlangte und deren lebensnaher, ungeschminkter Naturalismus einen ebenso schaudern lässt wie ihre blitzende Ironie inspiriert.

Ergreifend und von Empathie geprägt sein Nietzsche-Porträt. In Maars Augen ein großer Stilist, bei dem Stil und Moral zusammenfallen, zumal in seinem mittleren Werk. Doch während Nietzsche als Moralist alles geißelt, wo er deutschen Untertanengeist wittert, falsche Ehrfurcht vor höfischer Welt oder vor Amtsstuben und Kanzleien, lastet Maar ihm dies weniger an, zumal in Hinblick auf seine von geistiger Umnachtung geprägte letzte Schaffensphase bis zu seinem Tod: „Der arme, ärmste Hund, immerzu krank, immerzu in Schmerzen, am Ende fast blind, mit Dauermigräne und erotisch ein Hungerleider, immer am Rande des Freitods, in größter Vereinsamung an etwas herumnagend …“LeseprobeSelten in der Disziplin der Literaturwissenschaft, aber auch im Literaturbetrieb, vernimmt man ein von solchem Einfühlungsvermögen getragenes Statement.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

*Metapher, aus der Feder Eva Menasses stammend

*DLF Lesart, 1.12.20, Michael Maar über „Die Schlange im Wolfspelz“. Was aus Worten gute Literatur macht. Moderation: Joachim Scholl

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag, Hamburg                                                                                              Archiv                                   

Sachbuchtipp Februar - April 2021:

©Hartmut Fanger 

Lösungsorientiert und Mut machend

 

Robert Habeck: Von hier an anders. Eine politische Skizze,Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021

Mit „Von hier an anders“ beweist Robert Habeck auf 377 Seiten nicht nur philosophischen wie politischen Scharfsinn, sondern zugleich, dass er als Schriftsteller über einen sensiblen Umgang mit Sprache verfügt. Ein so aktuelles wie brisantes, zugleich in all seiner Differenziertheit gut lesbares Buch. 

Dabei skizziert der Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen ein so umfassendes wie facettenreiches Bild deutscher Wirklichkeit in Zeiten der Pandemie mit all den Widersprüchen in puncto sozialer, ökonomischer und kultureller Entwicklungen. Dass dabei der europäische wie weltpolitiische Gedanke einen nicht geringen Stellenwert einnimmt, versteht sich von selbst. 

Angesichts der Diversität, die sich im Zuge der Moderne bis ins 21. Jahrhundert immer stärker ausdifferenziert hat, dient ihm der nostalgisch anmutende Paternoster zugleich als Metapher und Erklärungsprinzip, wodurch die inhärente Komplexität veranschaulicht und dementsprechend nachvollziehbar vor Augen geführt werden kann. Demnach scheint das eine immer zugleich ein diametral entgegengesetztes anderes nach sich zu ziehen. Ist der eine erfolgreich, kann der andere als Verlierer dastehen, ebenso wie der Fortschritt des einen für den anderen Rückschritt bedeuten mag. Mit Auf- und Abstieg verhält es sich demnach nicht anders. Nach Habeck ein Paradoxon, wonach jede politische Aktion zum Gegenteil von dem führen kann, was ursprünglich beabsichtigt war. Fakt, das in vielen Fällen zugleich sozio-ökonomische Ungerechtigkeiten nach sich zieht. Ein wesentlicher Punkt, der der nach Habeck ‚zunehmenden Zerrissenheit der Gesellschaft, ihrer Gereiztheit’ Vorschub leisten dürfte und die es zu überwinden gilt. Hinzu käme zweifellos das ‚Gefühl von kultureller Ungerechtigkeit’.  Habeck zählt diesbezüglich ‚Kinder- und Altersarmut, ein Leben am Existenzminimum, eine nicht auskömmliche Rente trotz lebenslanger Arbeit’ auf, die ein gehöriges Maß an Würdelosigkeit beinhalten. Wesentliches  Konfliktpotenzial, für das die Politik dringend angehalten ist, Lösungen zu finden, bilden Missstände dieser Art doch reichlich Stoff für rechten Populismus. Phänomene solcher Art wiederum zu reflektieren und darum zu ringen, sie zu bewältigen, könnte zu einem Meilenstein bei der Etablierung neuer Wege in Politik und Gesellschaft avancieren. 

Die Pandemie hat die Missstände nur noch verschärft. Es bedarf nach Habeck schon deshalb einer neuen Kultur der Gemeinsamkeit. ‚Es müssen Wege gefunden werden, Unversöhnlichkeit und Polarisierung nicht weiter zu befeuern’, was für nahezu alle Bereiche gilt. Ökologie und Umweltschutz in der Landwirtschaft, Klimapolitik und Erderwärmung,  Aufnahme von Flüchtlingen, Migrationspolitik und Fachkräftemangel, Inklusion von Randgruppen und Gleichberechtigung, Bedrohung demokratischer Strukturen durch extreme Kräfte von rechts, um nur die wesentlichen Punkte hier aufzugreifen. 

Doch wie können all die Gegensätze, politischen Ungereimtheiten und Widersprüche letztendlich überwunden werden.  In der Opposition  wäre dies für Habeck und Bündnis90/Die Grünen gewiss nicht so einfach möglich. Dementsprechend folgt am Schluss entgegen einstiger Vorbehalte grüner Politik die Formulierung eines Machtanspruchs: „Neue Zeiten brauchen neue Macht“, so die Überschrift des letzten Kapitels. Die ‚gesellschaftliche Spaltung wie in den USA oder Großbritannien könnte zum Beispiel verhindert werden, indem verstärkt aus der Mitte heraus politische Verantwortung übernommen würde’. 

Robert Habeck beendet sein Buch „am Morgen der US-amerikanischen Wahlnacht 2020“, wo noch nicht klar ist, wer der nächste Präsident der Vereinigten Staaten sein wird.  Indessen wissen wir, dass Biden das Rennen gemacht hat. Ein Politiker, der die Spaltung der USA überwinden will und muss. Dies wiederum korrespondiert mit jener Frage, die Habeck seinem Buch vorangestellt – und die einst Barack Obama am letzten Tag seiner Amtsausübung als Präsident gegenüber seinen Demokraten aufgeworfen hat: Worin haben sich die Demokraten im Hinblick auf die Überwindung von Gräben in der Gesellschaft geirrt. Und genau darum geht es, übertragen auf deutsche Verhältnisse, vor allem in diesem Buch: Gräben überwinden, Gemeinsamkeit fördern.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!                                               Archiv                                   

Sachbuchtipp  November - Dezember 2020:

©  Hartmut Fanger 

"Ecclesia semper reformanda“ – Kirche heißt stets veränderung

 

Julian Sengelmann: „GLAUBE JA, KIRCHE NEIN? Warum sICH KIRCHE VERÄNDERN MUSS“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg, April 2020

Ein nicht nur für Kirchenkreise streitbares Buch, das sich aufgrund seiner brisanten Thesen gewiss für manche im ersten Moment als schmerzhaft erweist. So etwa, wenn es heißt, dass man alte Gewohnheiten aufgeben, sich vieles verändern, Kirchen gar schließen müssten. Doch der Autor, evangelischer Pastor, Moderator, Schauspieler, Sänger und Songwriter Julian Sengelmann, versteht es, dem Leser auf 284 Seiten inklusive Anmerkungen ein lebendiges Bild zu vermitteln, wie Kirche neu zu denken wäre. Und er tut dies eloquent, angereichert mit anschaulichen Beispielen, sodass wir ihm gerne folgen. Dabei überzeugt er mit so scharfsinnigen wie differenzierten Argumenten und nicht selten, obschon wohlwollenden, Provokationen:Wir kommen nicht umhin, Veränderung ist unabdingbar. 

Und dies nicht nur angesichts stark sinkender Mitgliederzahlen – Studien besagen, dass sie sich bis 2060 halbieren werden. Und nur drei Prozent der Mitglieder besuchen sonntags einen evangelischen Gottesdienst. „Die Kirche muss sich also verändern, weil sie nie im luftleeren Raum existiert. Sie ist (...) im Kontext von Welt, Menschen, Gesellschaft, Politik, Lebensentwürfen, Sehnsüchten, Zeitgeist und vielen anderen Faktoren zu verstehen.“ 

Und es sind exakt jene ‚drei kleinen Worte’, „ecclesia semper reformanda“,anhand derer der Autor deutlich macht, warum Kirche nicht an herkömmlichen Strukturen, Gewohnheiten und Ritualen festhalten kann und darf. Drei Worte, die Kirche grundlegend mit Veränderung in Verbindung bringen, wie es sich bereits Martin Luther im Zuge der Reformation auf die Fahnen geschrieben hat. Veränderung, nicht zuletzt auch notwendig, um einer auf vielen Ebenen sich rasant wandelnden Wirklichkeit sowie den daraus resultierenden neuen Aufgaben und Pflichten gerecht zu werden. Dabei besteht laut Sengelmann vor allem die Notwendigkeit des Verzichts auf Exklusivität im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich Andersdenkende auszuschließen, sie abzuweisen. Vielmehr ist das Gebot der Stunde, den Menschen in ihrem Alltag wieder näherzukommen. 

Doch wie gelangen wir zu Lösungen? Zunächst einmal gilt es in einer Art Introspektion, den Gründen nachzugehen, warum derzeit so viele aus der Kirche austreten. Dabei liegt es schon fast auf der Hand, wenn vielfach konstatiert wird, dass Kirche mit ihrer klerikalen Sprache und den teils festgefahrenen Ritualen der eigenen Lebenswirklichkeit fern sei, man überdies mit einem Gott, wie in biblischen Geschichten und Mythologien vermittelt, heute nichts mehr anzufangen wisse, dies eher befremde. 

Wie das anders gehen kann, zeigt Sengelmann u.a. anhand von Beispielen aus eigener Praxis auf. Etwa bei Hochzeiten oder Trauergottesdiensten, wo traditionelle Riten mit dem Leben des Menschen verknüpft werden. Dabei kommt die ‚Schönheit eines klassischen Gottesdiensts’ ebenso zum Tragen wie die Trauerfeier für einen Menschen im kleinen Kreis mit Liedern von Reinhard Mey und „Imagine“ von John Lennon sowie dem ‚Lesen eines fiktiven Briefes der gerade geborenen Tochter an die Oma’, der zugleich Kern der Predigt darstellt. Berührende Zeremonien, die im Grunde jeden Gottesdienst zu einer facettenreichen, lebendigen Begegnung werden lassen können. „Let’s make Gottesdienst great again“, lautet dementsprechend ein Kapitel in dem lesenswerten Buch, das mit der ambivalenten, nichtsdestotrotz Hoffnung stiftenden „Erkenntnis des Tages“ endet: „Ich mag Kirche – häufig. Manchmal sehr und hin und wieder Aspekte daran überhaupt nicht. Aber es lohnt sich, sie am Leben zu halten.“ 

Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt-Taschenbuch Verlag, Hamburg!                                                   Archiv

© Erna R. Fanger 

 Unbekannter Vogelkosmos

 

Walter A. Sontag: „Das wilde Leben der Vögel. Von Nachtschwärmern, Kuckuckskindern und leidenschaftlichen Sängern“. Verlag C.H. Beck, München 2020.

Dieses Buch des in Wien lebenden und für seine Studien weitgereisten Ornithologen Walter A. Sontag steckt voll überraschender Erkenntnisse über das Sozialleben der Vogelwelt. Weit vielfältiger und individueller, so die jüngere Forschung, sind unsere gefiederten Mitgeschöpfe angelegt, als wir dies je vermutet hätten.

Und es geht Sontag dabei in erster Linie nicht um eine Bestandsaufnahme der gegenwärtig auf der Erde lebenden etwa zehntausend Vogelarten: 

Spatz und Strauß, Kolibri und Kondor, Pinguin und Albatros: Sie alle haben Platz im Angebot der Lebensräume von den polaren Eiswüsten bis zu den üppigen Tropenwäldern, von der Hochsee bis in höchste Gebirgszonen, von den fernsten Inseln bis in die urbanen Ballungsräume und Metropolen. Leseprobe

Vielmehr liegt ihm daran, die erstaunliche Mannigfaltigkeit des Zusammenlebens, der Lebensentwürfe und Charaktermerkmale einzelner Vertreter einer bestimmten Spezies aufzuzeigen. Dabei stützt er sich auf Erkenntnisse des Schweizer Zoologen Heini Hediger (1908-1992), der sich in seiner Forschung erstmals eingehender Variabilität und Persönlichkeit in der Tierwelt gewidmet hat. Ebenso wie beim Menschen sind die einzelnen Vogelarten, je nach Alter, Geschlecht und zufälligen äußeren Einflüssen, verschieden. So gibt es etwa unter Blaumeisen Früh- und Spätaufsteher, ja sogar Nachteulen. Die unscheinbaren Heckenbraunellen wiederum leben ganz ohne nennenswerten Beziehungsclinch monogam, in fester eheähnlicher Paarbeziehung, ebenso wie polygam, mit Vielweiberei, Vielmännerei, oder in Art Mischehen mit mal mehr Männchen, mal mehr Weibchen. Entsprechend unterschiedlich regelt sich die Sorge um Nachwuchs und Aufzucht. Verglichen mit den dahingegen starren Beziehungsgepflogenheiten des Menschen, bemerkenswert. Diese Fülle an alternativen Lebensentwürfen steht dann auch in krassem Gegensatz zur bislang dominierenden Rede vom ‚arttypischen Verhalten‘.

Wir erfahren überdies, wie sinnliche Wahrnehmung bei Vögeln funktioniert, nämlich hauptsächlich über das Auge, visuell. Wobei ihr Sehsinn, fein getaktet, dem Menschen durchaus überlegen ist. So nimmt etwa der Trauerschnäpper pro Sekunde eine Folge von 146 Sehreizen wahr, bei der Blaumeise sind es 131. Dies ermöglicht es ihnen, einen Feind blitzschnell auszumachen. Aber auch der Geruchssinn oder die Fähigkeit magnetischer Wahrnehmung, die bei Zugvögeln zum Tragen kommt, sind entscheidend. 

Nicht zuletzt stellt sich die Frage, mit welchen Herausforderungen die Vogelwelt sich angesichts zunehmend dezimierter Lebensräume konfrontiert sieht. Welcher Bewältigungsstrategien bedienen sie sich. Und was für eine Rolle nimmt in dieser nicht unerheblichen Gemengelage der Mensch ein. Wie sollte er sich dazu verhalten. Womit wir das Kapitel „Die Vogelwelt im Anthropozän“ streifen, das drastisch auf die Bedrohung und bereits stattfindende weltweite Vernichtung der Vogelfauna durch den Menschen hinweist. Gefolgt von dem Abschnitt „Was können wir für Vögel tun?“, wo wir von mancher Erfolgsgeschichte erfahren, wo Naturschützer sich mit Hingabe, teils unter äußersten Mühen und großem Aufwand, gefährdeter Vogelarten annehmen. Auch die Rolle der Tiergärten hat sich indessen dahingehend gewandelt, dass sie Letzteren Schutzraum bieten und so für deren Fortbestand sorgen.

Last but not least ist „Das wilde Leben der Vögel“ eine mitreißende Liebeserklärung an die schier unglaubliche Vielfalt und Schönheit der Vogelwelt, die mit der ihr eigenen Fähigkeit zu fliegen und somit der Schwerkraft zu trotzen, zugleich als Symbol für Freiheit gilt. Unüberhörbar dabei der Appell, dieses Geschenk der Schöpfung an die Menschheit nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen.

Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verlag C.H. Beck!                                                                                                       Archiv 

Sachbuchtipp: Margrit Sprecher: "Irrland" - Juni 2020

© Hartmut Fanger 

Reportagen best of ...

Margrit Sprecher: „Irrland“, Reportagen, Dörlemann  Verlag, Zürich 2020 

Nicht umsonst gilt Margrit Sprecher als „Königin der Reportage“ und kein Geringerer als Ferdinand von Schirach ist es, der ihre Arbeit aufgrund der ihr eigenen „Klarheit ... Wahrhaftigkeit und vor allem tiefen Menschlichkeit“  wertschätzt.  

Der nun vorliegende Band mit zwanzig Reportagen aus den Jahren 2002 bis 2020 dokumentiert die ganze Könnerschaft der Schweizer Journalistin. Jede Reportage ein Musterbeispiel für mitreißendes Erzählen. Ein Erzählen, das sich jedoch im Gegensatz zur Belletristik ganz der Reportage verpflichtet weiß, entsprechend nichts Erfundenes enthält. In jedem dieser Texte ist die Reporterin vor Ort zu spüren, ganz nah an der Materie, um nicht im wahrsten Sinne des Wortes zu sagen am Mann. Denn es geht hier vor allem um mächtige Männer. Männer, die aufgrund ihrer Autorität und ihres Einflusses im Laufe der Jahre bei Margrit Sprecher in den Fokus gerieten. Dabei bleiben Superlative, wie sich schnell herausstellt, nicht aus. Sei es, wenn von dem inzwischen achtzigjährigen Theo Müller die Rede ist, für dessen berühmt gewordene ‚Müller-Milch’ ‚mehr als eine halbe Million Kühe täglich gemolken werden’, oder vom Zukunftsforscher Matthias Horx, der bis zu 100 Vorträge im Jahr hält und an seinen sogenannten ‚Zukunftstagen bis zu 4000 Teilnehmer vorweisen kann, die bis zu 1400 Euro zahlen’, um von ihm eine Zukunftsprognose zu erhalten. Irrtum nicht ausgeschlossen. 

Und es verdankt sich der Sprachkraft der Autorin, ihrer Genauigkeit in der Beobachtung, und das alles nicht selten gewürzt mit feiner Ironie, dass die Lektüre ganz einfach Spaß macht. Zumal die Beiträge von tiefem Ernst ebenso wie ausgesprochen heiter sind. So werden etwa politische Zusammenhänge transparent, wenn in „Ein Gefängnis namens Gaza“ der Kampf um Palästina oder das ‚Warten von 3517 Menschen in Amerikas Todestrakten auf ihre Hinrichtung’ geschildert wird. Ungemein plastisch gelingt es ihr, die mächtigen Männer mit ihren großen und kleinen Schwächen vor Augen zu führen. So den gefürchteten Sammelkläger Ed Fagan, der als Anwalt im Zuge eines Unglücks ‚nicht nur die ‚Todesart’ der Angehörigen seiner Klienten, ‚sondern in seinen Forderungen „auch die Dauer der Todesangst in Dollar ummünzen“ lassen will und dies auch kann.  Oder der Sterbehelfer Ludwig A. Minelli, der seinen Opfern empfiehlt, sich gegen 11 Uhr am Sterbeort einzufinden, womit allen gedient sei, vom Sterbehelfer bis zur  obligatorisch anrückenden Polizei. 

Alles in allem stellen die Reportagen Sprechers ein hervorragendes Zeitdokument dar, was sich bereits in dem im besten Sinne irritierenden Titel „Irrland“ andeuten mag. Wobei es, wie in einem Interview im Deutschlandfunk vom 26. Mai 2020 verlaubart, nicht um „Irland“ geht – obwohl es darüber ebenfalls eine Reportage gibt –, sondern die Erfahrung einer ‚irren Welt’ als Ganzes  gemeint ist. 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Dörlemann Verlag, Zürich 2020                                                                                                Archiv

Sachbuchtipp Georg Diez, Emanuel Heisenberg: „Power to the People“ - Juni 2020

© Erna R. Fanger

Die Welt digital neu erfinden

 

Das eigentliche Problem der Menschheit ist: 

Wir haben Gefühle aus der Steinzeit, Institutionen aus dem Mittelalter und eine Gott gleiche Technologie.  

E.O. Wilson*

Georg Diez, Emanuel Heisenberg: 

„Power to the People“. Verlag Hanser Berlin 2020.

Wie können wir mit Technologie die Welt neu erfinden. Diese Frage stellen sich in einem eindringlichen Dialog der Journalist und Buchautor Georg Diez, heute Direktor für Strategien und Medien in einem unabhängigen Forschungsinstitut, und Emanuel Heisenberg, Gründer des Technologie-Start-ups ecoworks, das CO2-neutrale Lösungen für Industriebetriebe entwickelt; er berät die Bundesregierung und NGOs. Und befürchten wir nicht zu Unrecht im Zuge zunehmender Digitalisierung – Stichwort China – die lückenlose staatliche Überwachung, setzen Diez und Heisenberg auf eine digital-demokratische Revolution, ausgehend von der Bürgerbewegung. Wobei sie von einem grundlegend optimistischen Menschenbild ausgehen. Nicht zuletzt mit Blick etwa auf die Flüchtlingskrise 2015, wobei sie die tatkräftigen Hilfsaktionen, von Bürgern in Selbstorganisation auf die Beine gestellt, als Zeichen gelingender Demokratie werten. Aber auch die Fridays-for-Future-Bewegung stehe für diesen Ansatz. Mit ihren Forderungen sind deren Vertreter sehr viel entschiedener und klarer als etwa die Generation ihrer Eltern. Und auch wenn sie keine Lösung parat haben, so doch eine Richtung, basierend auf der Gewissheit, dass es so, wie es bislang politisch gehandhabt wurde, verkehrt gelaufen ist. Und das ist ein wesentlicher Punkt für Diez und Heisenberg. Es kann nicht darum gehen, für komplexe Problemstellungen, wie sie seit Corona auf so vielen miteinander verzahnten Gebieten verschärft zutage treten, schnelle Antworten parat zu haben. Vielmehr liegt ihnen daran, in einer von engagierten Bürgern getragenen, kontinuierlichen demokratischen Praxis gemeinsam um Lösungen zu ringen, das sei die Lösung. Und es stellt sich ihnen im Zuge dessen zugleich die Frage, wie die schwerfällige repräsentative Demokratie in eine lebendige Demokratie mit Bürgernähe und Bürgerbeteiligung zu überführen wäre, ohne dass dies seitens populistischer Wortführer instrumentalisiert und einen Rechtsruck provozieren würde. Wobei unsere politischen Systeme weltweit ohnehin schon vor Corona auf dem Prüfstand stehen. Insofern betrachten Diez und Heisenberg die Krise als Chance, jetzt um- und Europa neu zu denken. 

Zur Transformation komplexer politischer Systeme wiederum – nehmen wir etwa die Infrastruktur großer Städte – bedarf es enormer Datenmengen, die mithilfe digitaler Mittel gesteuert werden könnten. Desgleichen Belange, um die derzeit heftig gerungen wird, wie Identität und Gruppenzugehörigkeit, Autonomie, Teilhabe und Mitbestimmung, Inklusion ... Dabei gehen Diez und Heisenberg hier weniger von nationalen Belangen aus, als sie vielmehr lokale Initiativen mit Perspektive auf globale Zusammenhänge im Blick haben.

Paradebeispiel hierfür ist Barcelona, wo im Zuge innovativer Datenpolitik Lösungsansätze für die Steuerung etwa von Gentrifizierungsprozessen oder Klimawandel entwickelt werden konnten, um nur einige exemplarisch zu nennen. Ausgehend von einer Bestandsaufnahme digitaler Prozesse im Öffentlichen Raum wurde zunächst einmal konstatiert, dass monopolistische Plattformen wie Google und Co. den digitalen Raum beherrschen und dabei satte Gewinne einstreichen. Die Grundlage dieser Monopole, allesamt privatwirtschaftlich organisiert, sind wiederum Daten, und zwar Daten von Bürgern. Nach dem Verständnis von Diez und Heisenberg einer progressiven Politik zeichne sich diese dadurch aus, dass sie die Hoheit über besagte Daten eben nicht Google und Co. überlässt, sondern für sich beansprucht. Wobei Datenmonopolisten längst insofern im realen Raum angekommen sind, als sie sich insbesondere auf die Städte konzentrieren, wo innerhalb von Sekunden riesige Mengen an Daten von erheblicher Relevanz produziert werden. Grundlage eines solch neuen Politikverständnisses ist demnach „die Einsicht, dass eine lebendige Demokratie und eine innovative und gerechte Wirtschaft im digitalen Zeitalter darauf beruhen, wer die Kontrolle über die Daten hat.“ 

Diese Daten gilt es zurückzuerobern und uns selbst zu eigen zu machen, was monopolistische Plattformen längst propagiert und für sich vereinnahmt haben, nämlich „Städte durch Innovationen neu zu erschaffen.“ Zentrales Anliegen muss die Teilhabe sein, schließlich sind es die Bürger*innen, die die Stadt ausmachen. Daten gehören allen und müssen frei zugänglich sein. Barcelona hat es vorgemacht.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

* US-amerikanischer Insektenforscher und Biologe, bekannt für seine Beiträge zu Evolutions-  und Soziobiologie

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verlag Hanser Berlin!                                                                              Archiv

Sachbuchtipp Peter-André Alt "Erste Sätze der Weltliteratur..." April 2020

© Hartmut Fanger www.schreibfertig.com:

Ein Muss für jeden, der schreibt

Peter-André Alt: „Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten“,Verlag C.H. Beck oHG, München 2020

Bereits von Hemingway in „Paris, ein Fest fürs Leben“ wissen wir, wie schwer es sein kann, den ersten ‚wahren Satz’ zu finden. Peter-André Alt hat sich nun in seinem neuesten Werk mit wissenschaftlicher Akribie auf die Suche in der Weltliteratur gemacht, hat Romane und Erzählungen durchforstet. Worin liegt die Faszination im ersten Satz, was zieht den Leser gleich zu Beginn in den Bann, sodass er nicht mehr aufhören kann zu lesen. Bei dieser Lektüre von über 260 Seiten stößt er auf eine Schatzkiste, ein Füllhorn schier unendlicher Möglichkeiten. Unter die Lupe genommen werden erste Sätze literarischer Größen von Homer bis zu Handke, von Goethe bis zu García Márquez, von Thomas Mann bis hin zu Martin Walser, um nur einige zu nennen. Allen gemein ist das Außergewöhnliche, das, was aufhorchen lässt. Sei es, wenn ein Roman etwa mit dem ‚Steckbrief einer Person, mit einem plötzlichen Ereignis, Bekenntnissen, Sprechakten, Gerüchten oder mit etwas ganz und gar Unwahrscheinlichem’ beginnt. 

Am Ende ist es die Spannung, die von einem ersten Satz ausgehen muss. Denn, so Peter-André Alt: „Literatur lebt davon, dass sie Erwartungen weckt“, und „[g]erade erste Sätze müssen die Kunst der Andeutung entfalten“. Als Beispiel hierzu wird u.a. Arthur Conan Doyles berühmter Sherlock-Holmes-Roman „Das leere Haus“ angeführt, worin laut Alt der ‚Eröffnungssatz alles enthält, was die Erwartung des Lesers anheizt’: „Im Frühling des Jahres 1894 war das gesamte London neugierig und die Oberschicht der ganzen Welt bestürzt über den Mord am ehrenwerten Ronald Adair, der unter den ungewöhnlichsten und rätselhaftesten Umständen zu Tode kam“. Natürlich möchte der Leser jetzt die Hintergründe in Erfahrung bringen. Wie und warum konnte so eine abscheuliche Tat geschehen. Wer war der Mörder. Wie kann der Fall aufgeklärt werden. Was steckt wirklich hinter dem ungewöhnlichen, rätselhaften Geschehen. 

Ja selbst „Kitsch und Triviales“ kann unsere Neugierde wecken. So, wenn Alt den ersten Satz mit der trivialen Personenbeschreibung einer rätselhaften Frau zur Zeit der Cholera in Hamburg in Georg Bindings Novelle „Der Opfergang“ aus dem Jahre 1912 vor Augen führt. Trivial, nicht mehr, als dass sie ‚schön und verkleidet ist und an der Alster dahinschreitet’, erfahren wir von der Frau. Nichts Besonderes und doch ein Arrangement, das fesselt und den Leser dazu animiert, hinter die Beweggründe der Figur zu kommen. Warum ist sie verkleidetund was lässt sie angesichts der Seuche so friedlich dahinschreiten. 

Unverzichtbar für alle, die schreiben, ist das Werk bestens recherchiert, obendrein gespickt mit jeder Menge Wissenswertem aus der Welt der Literatur, inklusive Anmerkungsapparat und einem Register der zitierten Anfänge . 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Mit Dank für das Rezensionsexemplar an den Verlag C,H. Beck. Archiv

Buchtipp: Friedrich Hölderlin "Bald sind wir aber Gesang" - März 2020

  © Erna R. Fanger

 Friedrich Hölderlin – Göttersucher

„Friedrich Hölderlin. Bald sind wir aber Gesang“Eine Auswahl von Navid Kermani, Verlag C. H. Beck textura, München 2020. 

Eine Offenbarung, zugleich Meilenstein für Liebhaber sowohl der Dichtung Hölderlins als auch der Buchkunst ist die zwischen 1975 und 2008 von D. E. Sattler herausgegeben Ausgabe seiner Werke im Verlag Stoemfeld/Roter Stern. Zumal darin verschiedene Fassungen berücksichtigt sind, selbst handschriftliche, sowie  Notizen und Bruchstücke. Umso mehr trägt dieses Vorgehen dem prozessualen und fragmentarischen Charakter von dessen Dichtung Rechnung, im Gegensatz zu den vorausgehenden Werk-Editionen, die eine Abgeschlossenheit suggerieren, die Hölderlin weniger entspricht. Und findet Kermani in jüngeren Jahren kaum Zugang zu dem melancholischen Göttersucher mit dem ‚enervierend’ hohen Ton, leitet besagte neue Ausgabe einen Wendepunkt ein in Kermanis Hölderlin-Rezeption. So erkennt er jetzt in ihm den verzweifelt Suchenden, Ringenden. Sei es um seine Verbindung zu den Göttern, sei es um den Zugang zur Poesie. Nicht zuletzt ringt Hölderlin um die Anerkennung Schillers, den er glühend verehrt und der ihn nicht ernst nimmt, in dem Brief an Schiller unter die Haut gehend dokumentiert. 

Und beginnt Kermani sein Nachwort noch mit „Wir sind es gewohnt, in Dichtungen uns wiederfinden zu wollen, Auskunft in ihnen zu suchen über unsere eigenen Fragen, den eigenen Schmerz“ und auf das prophetische Potenzial von „Nietzsche, Kafka, Beckett“ verweist, unterstellt er Hölderlin das Gegenteil: 

"Sein Werk weist nicht in die Zukunft, es blitzt der modernen Zivilisation, just auf dem Gipfel der Aufklärung, etwas Anfängliches, unwiderruflich Zerstörtes darin auf – der Mensch, der sich als Teil der Schöpfung, aber damit auch heillos höheren Mächten ausgesetzt sieht (...)“

Und geht im Zuge emanzipatorischer Bestrebungen der Neuzeit Subjektivität als wesentliches Merkmal mit Literatur einher, spricht Kermani Hölderlin dies dezidiert ab. Vielmehr bescheinigt er der Klage Hölderlins über den Verlust dieser Einheit zwischen Subjekt und Schöpfung, worin zugleich die Einheit zwischen Subjekt und Objekt anklingt, das Fehlen jeder Subjektivität. Stattdessen sind es Stimmungen und Empfindungen, angesiedelt in einem vielstimmigen poetischen Bedeutungsraum. Damit stellt er das individuelle Leiden Hölderlins am Verlust dieser Einheit in einen übergeordneten Zusammenhang und identifiziert es als Leiden an der Moderne, die zugleich – nach dem Mythos’ der Vertreibung aus dem Paradies – als zweiter Sündenfall betrachtet werden kann.

 

Die Auswahl, die Kerman hier vorlegt, ist, wie er bekennt, rein subjektiv. Dabei folgt er seiner ureigenen Liebe zur Literatur. Und im Zuge dieser Liebe finden sich unter den von ihm vorgestellten 28 Gedichten eben nicht nur die bekannten, sondern auch viele weniger rezipierte, etwa aus Hölderlins späten Jahren; gefolgt von Auszügen aus dem „Hyperion“, dem „Tod des Empedokles“; daneben Ausätze und Aphorismen sowie Übersetzungen. Einen intimen Blick in die existenziellen Nöte und das Ringen um Integrität gewähren die Briefe von 1792 bis 1828, des Weiteren eine Stammbucheintragung „Für einen Unbekannten“ aus dem Jahr 1840. Dabei stützt sich Kermani auf die gleichwohl renommierte dreibändige Ausgabe „Sämtliche Werke und Briefe“, herausgegeben von Michael Knaupp im Carl Hanser Verlag aus dem Jahr 1992/93.

Sich in das Werk Friedrich Hölderlins zu vertiefen, ist ein gewiss so zeitaufwendiges wie lohnendes Unterfangen. Wer sich hingegen außerstande sieht, in das  Gesamtwerk einzutauchen, dem Hölderlin jedoch nichtsdestotrotz ein Anliegen ist, darf sich mit dieser Auswahl glücklich schätzen.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl! 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verlag C.H. Beck! 

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Volker Weidermann "Das Duell" - Dezember 2019

© Hartmut Fanger

 Wir hätten uns umarmen sollen – Protokoll einer Hassliebe

Volker Weidermann: Das Duell.Die Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki,Kiepenheuer & Witsch 2019.

Der Autor und sein Kritiker. Akribisch zeichnet der Nachfolger des Literarischen Quartetts und Spiegelredakteur Volker Weidermann  in „Das Duell“ die Geschichte zweier Männer nach, wie sie nicht unterschiedlicher sein könnten – Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki. Dabei versteht er es, die beiden grundsätzlich differierenden Lebensläufe und Charaktere in ihrem gemeinsamen historischen Kontext so mitreißend wie spannend vor Augen zu führen. Grass, mit 17 bei der Waffen-SS, später Bildender Künstler, Romanautor, Lyriker und Essayist, überdies Verfechter der SPD; Reich-Ranicki mit 20 im Warschauer Ghetto, später Konsul der Republik Polen, danach Lektor, Literaturkritiker der „Zeit“ und Sachbuchautor. „Zwei Boxer in einem Ring“ lautet insofern nicht von ungefähr eine Kapitelüberschrift. ‚Der Ring’ wiederum ist im weiteren Sinn der Literaturbetrieb, verhandelt im Feuilleton, nicht zuletzt aber durchaus auch das im Fernsehen mehr oder weniger regelmäßig ausgestrahlte „Literarische Quartett“ der 80er und 90er Jahre. Von den insgesamt 385 besprochenen Buchtiteln mit Marcel Reich-Ranicki waren insbesondere die herausragend, provokant auch, in denen ein Werk des späteren Literaturnobelpreisträgers Günter Grass besprochen wurde. Von rhetorischer Brillanz, dabei mit spitzer Feder, versäumt er es nie, zunächst die unbestrittenen Qualität seines Kontrahenten hervorzuheben, dann aber unverhohlen zum Schlag seiner nicht selten vernichtenden Kritik auszuholen. Nach „Die Rättin“ für Grass Anlass, buchstäblich die Flucht zu ergreifen und nach Indien aufzubrechen, wo der Bild-, Lyrik- und Prosaband „Zunge zeigen“ entsteht. Aber auch Letzterer findet in den Augen seines Widersachers und auch sonst im Feuilleton keine Gnade. Zusehends avanciert „Das Literarische Quartett“ zum Ereignis, kommt es doch beinahe regelmäßig zum Eklat. Eine regelrechte Schlammschlacht ergießt sich über Grass nach dem vernichtenden Urteil Reich-Ranickis über seinen Roman „Ein weites Feld“. ‚Als langweilig und wertlos’ bezeichnet er ihn und bezichtigt Grass, ‚dass sich darin Tausende von Sätzen über Fontanes Epik befänden – darunter jedoch kein einziger, der originell oder geistreich wäre’. Der Spiegel zeigt in einer Fotomontage auf dem Titelbild Reich-Ranicki, wie er das Buch von Grass zerreißt. Eindrucksvoll dokumentiert seitens Weidermanns. Zugleich ist hiermit die schwierige Beziehung der beiden Kontrahenten sozusagen auf den Punkt gebracht. Wie eng Kritiker und Romanautor schließlich miteinander verbunden sind, veranschaulicht Grass wiederum in einem Vergleich: „Es gibt Ehen, die werden auf keinem Standesamt besiegelt und auch von keinem Scheidungsrichter getrennt. Ich werde ihn nicht los, er wird mich nicht los.“

 In seiner Rede anlässlich der Preisverleihung des Großen Literaturpreises der Bayerischen Akademie der Schönen Künste lässt Grass verlauten, dass Kritiker „ohne Autoren ‚arbeitslose Sozialfälle’“ wären. Wen er damit meint, liegt auf der Hand. Reich-Ranickis Gegenschlag lässt nicht lange auf sich warten. Erst ganz am Ende ihres Lebens bekennen beide „Wir hätten uns umarmen sollen“. Gekommen ist es dazu nicht.

Wiederum ist es das Verdienst Weidermanns, uns mit „Das Duell“ einen intimen Einblick in die Fehden zweier schillernder Persönlichkeiten zu gewähren, die den Literaturbetrieb des Nachkriegsdeutschlands erheblich mitgeprägt haben. Durchweg getragen von Empathie und Detailtreue, nicht zuletzt aber von der Liebe zur Literatur, was das Ganze zu einem großen Lektürevergnügen macht.

Aber: Lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Kiepenheuer & Witsch Literaturverlag, Köln 2019 

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Buchtipp: Mathias Brökers: Newtons gespeist und Goethes Polaroid. Über die Natur - November 2019

© Hartmut Fanger

Am farbigen Abglanz haben wir das Leben 

Goethe  

Und Goethe hatte doch Recht!  

Mathias Bröckers: „Newtons Gespenst und Goethes Polaroid. Über die Natur“,  Westend Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2019 

In dem so schmalen wie gehaltvollen Band von Mathias Bröckers wird Goethes Naturbild anhand von Farbenlehre und Forschung detailgenau und auf neuestem Stand vor Augen geführt. Dabei wird zugleich Verständnis für Goethes Polemik gegenüber Newton geweckt. Denn Goethe hatte nach heutigem Wissensstand mit den Ergebnissen seiner Farbenlehre entgegen der Meinung von Zeitgenossen und vielen Naturwissenschaftlern doch Recht. Zumindest bilden die aus dem mechanistischen Weltbild Newtons und Goethes ganzheitlichem Verständnis hervorgehenden Resultate zwei Seiten ein und derselben Medaille ab. Spannend lesen sich die Ausführungen und lassen einmal mehr darauf schließen, dass Goethe seiner Zeit als hellsichtiger Vorreiter der Ökologiebewegung weit voraus gewesen ist. Er sah die Erde zum Beispiel als ‚ein großes lebendiges Wesen an, das im ewigen Ein- und Ausatmen begriffen ist’, wie er hochbetagt 1827 gegenüber Eckermann äußerte. Seine jahrzehntelange akribische Auseinandersetzung mit der Entstehung von Farben dokumentiert dies im ganzheitlichen Sinne so polemisch, dichterisch wie wissenschaftlich. Hingegen sah Goethe in der Forschung von Newton vorgenommenen Teilung der Natur in kleine und kleinste Einheiten nur ‚Halbwahrheit’. „Natur verstummt auf der Folter“ – sein Statement.

Mathias Bröckers begibt sich auf Spurensuche nach Belegen, die aufzeigen, wie aktuell das Goethische Naturverständnis bis ins 21. Jahrhundert hinein ist. Dabei greift er weit zurück bis hin zu dem englischen Arzt und Philosophen Robert Fludd (1574-1637), dessen Schriften Goethe bekannt waren, um kontinuierlich bis hin zum Wissenschaftshistoriker und Publizist Ernst Peter Fischer fortzufahren. Der weist 2018  darauf hin, dass zum Beispiel das Wort „Gen“ von Goethe stammt. Und natürlich zieht Bröckers  hier Verbindungslinien zu Alexander von Humboldt (1769-1859) und seiner Biografin Andrea Wulf („Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“ 2016) ). Ebenso zu Darwin (1809-1882), Ernst Haeckel (1834 -1919), Werner Heisenberg (1901-1976)  bis hin zu dem Physiker und Nobelpreisträger Wolfgang Pauli (1939-1958), die allesamt von Goethes Naturforschung und Betrachtungen überzeugt waren. Nicht unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle die „Retinex-Theorie des Physikers „Edwin Land (1909-1991), der die Sofortbildfotografie erfand und Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre Polaroid-Kameras in Millionenhöhe verkaufte.  Neil Ribe und Friedrich Steinle wiederum bekräftigten einige Zeit später im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung ihre Überzeugung, dass ‚die Parallelen der Experimente Edwin Lands zu Goethes Theorie der ‚Funktion der Bedeutung des Lichts’ offenkundig seien.  

Alles in allem ein nicht nur für Goethe-Fans lesenswertes Buch, das in Anbetracht der drohenden Klimakatastrophe dringend benötigte neue (alte) Wege aufzeigt und sich als ein weiterer wichtiger Baustein für eine so neue wie alte Sicht auf die Natur erweist.

Schön wäre gewesen, wenn am Schluss des im Übrigen ästhetisch ungemein ansprechenden Bandes Anmerkungen und ein Literaturverzeichnis integriert worden wären. 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem WestendVerlag! 

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Sachbuchtipp: David Wagner "Sich verlieben hilft. Über Bücher und Serien"  - September/Oktober 2019

   © Hartmut Fanger: 

Von der Leidenschaft zu lesen

David Wagner: „Sich verlieben hilft. Über Bücher und Serien“. Verbrecher-Verlag, Berlin 2016.

Manchmal sind es gerade die kleinen, eher unscheinbaren Werke, die einen wahren Schatz in sich bergen und sich für Lesefreunde am Ende als unverzichtbar erweisen. „Sich verlieben hilft“ von David Wagner zählt genau dazu. Sie aufzuspüren scheint angesichts von Massenproduktion an Bestsellern und der schier unendlichen Vielfalt an Publikationen kein leichtes Unterfangen. Die literarische Schatztruhe, klein aber fein, bietet in 15 kurzen Abhandlungen auf 141 Seiten im Format 12 X 17 cm eine mitreißende, Lesesucht erzeugende Lektüre. Keine Frage, der Leser verliebt sich in dies rote Büchlein von der ersten Seite an. Folgt dem Autor, streift mit ihm durch die Leseorte der Welt. Sei es bei einem Tee in der Cafeteria der British Library in London, unweit jenes Zettels mit den berühmten Zeilen von John Lennons „Help“, oder auf einen Felsen am Meer von Elba mit Blick auf die Insel Monte Christo, während Wagner, wie kann es  anders sein, „Der Graf von Monte Christo“ liest. Wagner liest im Übrigen alles, was ihm in die Hände kommt. Ob deutsche Raubkopien als E-Book im Iran oder klassisch gebundene im Haus seiner Tante in Oberösterreich, wo er treffenderweise zu Adalbert Stifters „Die Mappe meines Urgroßvaters“ greift. 

Wie der Titel verrät, handelt es sich um die Liebe zu dem Medium Buch. Dass das Kleinod auch den angesagten US-Serien huldigt, sei an dieser Stelle nicht verschwiegen. Und wer dazu bislang keinen Zugang hatte, wird spätestens jetzt geradezu verführt, selbst in diese Welten einzutauchen und sich dafür begeistern zu lassen. Anfühlen tut sich das, der Titel legt es nahe, wie sich verlieben. Mit all dem dazugehörigen Zauber, der Erregung. Und nicht von ungefähr streift Wagner hier auch Roland Barthes’ erotisches Bekenntnis zur Literatur „Lust am Text“ (1974). Wagners Fazit wiederum: „Ich verliebe mich, jeden Tag, immer wieder. Ich verliebe mich während des Lesens, verliebe mich in Bücher, ihre Helden und Anti-Helden, ihren Text, ihre Sprache, ihre Stimme.“ Gleichermaßen schwärmt er für diejenigen, die all das niedergeschrieben haben, und muss sich fragen, inwieweit dies womöglich der Grund wäre, dass er auch ihre Bücher liebt. 

Doch ebenso wenig lässt er die „leicht schäbige Seite der Schriftstellerei“ außer Acht, „das Sich-Aneignen, das Übernehmen, das Stehlen von Leben, Erfahrungen und Begebenheiten“. Und wahrlich ist so mancher Leser „not amused“, sich als Figur in einem Buch wiederzufinden. 

Wie wiederum dem Leser dieser Rezension nicht entgangen sein dürfte: Das schmale Werk ist eine kleine Perle. Und wir können dem Autor nur dankbar dafür sein. Dankbar aber auch für die nicht geringen Quellenangaben, macht die Lektüre doch unbändig Lust darauf, die vielen hier gestreiften Werke selbst zu erkunden. 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verbrecher Verlag 

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Sachbuchtipp des Monats März 2019 

© Erna R. Fanger:

Aufbruch in neue Sphären des Bewusstseins. 

Psychedelik-Forschung auf dem Vormarsch

Michael Pollan: „Verändere dein Bewusstsein. Was uns die neue Psychedelik-Forschung über Sucht, Depression, Todesfurcht und Transzendenz lehrt“aus dem Englischen von Thomas Gunkel, Antje Kunstmann Verlag, München 2019

 

Die Psychedelik-Forschung erobert den Buchmarkt

Es sind gleich zwei Bücher zu Beginn 2019, die uns das Thema der Psychedelik-Forschung nahebringen. Auf der einen Seite „Das Licht“* von dem Romancier T. C. Boyle, auf der anderen „Verändere dein Bewusstsein“ von dem Journalist, Sachbuchautor und Harvard-Professor Michael Pollan. Und wo der Roman 1970 aufhört, nämlich mit dem vorläufigen Ende der LSD-Experimente unter Timothy Leary, der charismatischen Kultfigur der Hippie-Bewegung, beginnt Pollans Aufsehen erregender „Trip“ durch die Psychedelik-Forschung. Von der Entdeckung der Rausch erzeugenden Substanz 1943 seitens des Schweizer Chemikers Albert Hofmann bis zum heutigen Forschungsstand, wo indessen eine 80-prozentige Erfolgsquote – vornehmlich in der Linderung von Todesangst bei Schwerkranken und Sterbenden – zu verzeichnen ist. 

Der in mit dem Thema korrespondierender Optik auf Umschlag und Innenseiten ästhetisch ansprechend ausgestattete an die 500-Seiten-Wälzer liegt schwer der Hand. Verblüffend leicht wiederum liest er sich. Und das nicht, weil hier Abstriche in der differenzierten Darstellung wissenschaftlicher Fakten und Errungenschaften gemacht und Komplexität reduziert würde. Das Gegenteil ist der Fall. Aber hier ist ein Meister seines Fachs am Werk, der sein Handwerk beherrscht. Storytelling at its best, nämlich auf der Basis bestens recherchierter Fakten und eines dezidierten Erkenntnisinteresses. 

 

1. Die Geschichte der psychedelischen Forschung

Drei wesentliche Stationen passieren wir gemeinsam mit Pollan. Erstens, die Geschichte der psychedelischen Forschung, beginnend mit der Entdeckung von LSD und ähnlichen Substanzen und ersten Experimenten bis hin zur Diskreditierung derselben im Zuge von Drogenexzessen der 68er Communitys. Die Wende hin zur Rehabilitierung erfolgt 2006, anlässlich der Feier des 100sten Geburtstags von Albert Hofmann, der sich indessen im Zuge seiner eigenen Erfahrung mit der hoch wirksamen Droge für deren Legalisierung zu Forschungszwecken einsetzt. Damit ist die Renaissance besagter Forschung eingeläutet – sind auf Hofmanns 100sten Feier doch unzählige überzeugte Anhänger zugegen, die fieberhaft daran arbeiten, LSD zu Forschungszwecken wieder zugängig zu machen. In dasselbe Jahr fällt überdies in den USA ein Gerichtsurteil, das religiösen Gemeinschaften nun auch offiziell zugesteht, seit jeher traditionell eingesetzte psychedelische Substanzen in ihren Zeremonien zu verwenden. Damit ist eine weitere Tür aufgestoßen, die schließlich erneut den Weg für die LSD-Forschung geebnet hat.

 

2. Der LSD-Trip in der Psychotherapie – Fallgeschichten

Neben dem Einsatz der Droge bei Schwerkranken und Sterbenden, sind es Suchtkrankheiten und Depressionen, die mit ihnen bekämpft werden können. Wobei Set (die Befindlichkeit des Probanden zur Zeit der Einnahme der Droge) und Setting (Ambiente mit gegebenenfalls Räucherstäbchen, rituellen Gegenständen und Musik sowie einem erfahrenen Begleiter) sorgfältiger Planung bedürfen – die Einnahme zu wissenschaftlichen Zwecken ist stark reglementiert. Zumal es, je nach ‚Gepäck’, das einer mitbringt, leicht zu einem Horrortrip kommen, was wiederum eine Psychose nach sich ziehen kann. Und in Anverwandlung des Hölderlinschen Diktums, ‚Wo die Not am größten, ist das Rettende auch nah’, scheint die Therapie ihre Wirkung am stärksten bei Schwerkranken und Sterbenden zu entfalten, im Gegensatz zur Behandlung von Depressionen und Suchtkrankheiten. Wobei psychedelische Substanzen auf das menschliche Gehirn derart einwirken, dass dabei heftig an unseren Wahrnehmungsmustern ebenso wie unserem Selbstbild gerüttelt wird. Günstigen Falls weicht die Fokussierung auf das eigene Ich zugunsten des Erlebnisses einer kosmischen Einheit und dem Geborgensein in der Allliebe. Ein Zustand, der offenbar nachhaltig Ängste löst und den Probanden einen neuen Zugang zu ihrem eigenen Seelenleben mit mehr Zuversicht und Gelassenheit eröffnet.

 

3. ‚Reiseberichte’ – Selbstversuch des Autors 

Hier erweist sich bereits in der Vorbereitung die verschwörerische Vielfalt der Szene. Wobei es neben der universitären Forschung die der verdeckten Forschung gibt. Man hat aus den 60er Jahren gelernt und kennt die Gefahren, weshalb jeder Versuch mit LSD eines erfahrenen Begleiters bedarf. Ist dies im universitären Bereich bei der Behandlung von Patienten ganz offiziell das Setting, besteht die Schwierigkeit für „Gesunde“, die sich einer solchen Erfahrung unterziehen wollen, darin, hier einen vertrauenswürdigen, kompetenten Begleiter zu finden. Ungemein spannend die Prozedur, über geheime Pfade fündig zu werden. Wobei durchaus eine gewisse Durchlässigkeit zwischen universitärer und verdeckter Forschung besteht. Allein zu dieser Zone vorzudringen, liest sich abenteuerlich. Dabei wartet Pollan –  selbst eher Skeptiker und Materialist mit Bodenhaftung –  in drei ‚Reisen’ mit dem Versuch auf, zur Sprache zu bringen, was sich eigentlich sprachlich nicht fassen lässt, unsere Möglichkeiten zu verbalisieren übersteigt. Und doch gelingt es ihm im Gestus der Unmittelbarkeit und mit einem Höchstmaß an Bemühen um Detailreichtum und Genauigkeit, uns daran teilhaben zu lassen. Wobei hier die Stärke des Autors, den Leser in den Bann zu ziehen, umso mehr zum Tragen kommt. Selbst Atheist, scheint eines nicht zu leugnen zu sein: In diesem Universum ist das eigene Ich nicht das Zentrum, vielmehr erweist es sich offenbar als Teil einer so unermesslichen wie allumfassenden Einheit, deren grundlegend verbindende Substanz Liebe ist. 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

*Siehe hierzu auch auf unserer Startseite „Buchtipp des Monats März“

Download Sachbuchtipp im Archiv Michael Pollan

Siehe dazu unseren aktuellen Buchtipp BelletristikT.C.Boyle

 

und unseren aktuellen Buchtipp: Elisabeth Borchers

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